Was braucht man, um Schreiben zu können? Und was ist das Besondere am Verhältnis zwischen Autor und Lektor? Um diese Fragen kreisen Joan Didions Erinnerungen an Henry Robbins, der lange Jahre ihr Lektor war. Ein Nachruf und das Zeugnis einer Freundschaft.
von Joan Didion
Editing a paper (Foto: Nic McPhee, flickr, CC BY-SA 2.0)
Im Sommer 1966 lebte ich in einem geborgten Haus in Brentwood und hatte gerade ein Baby bekommen. Drei Jahre vorher hatte ich mein bisher einziges Buch veröffentlicht. Mein Mann schrieb gerade sein erstes. In unserem Haushaltsbuch für jene Monate findet sich für den April keinerlei Einkommen, für den Mai 305,06 Dollar, für den Juni wieder keines, für den Juli 5,29 Dollar, Dividende des einzigen Vermögens, das wir hatten, fünfzig Transamerica-Aktien, die mir meine Großmutter hinterlassen hatte. In diesem Haushaltsbuch finden sich Wäschereilisten und Termine bei Kinderärzten. Es finden sich sechzig Geschenke zur Taufe und sechzig Karten zum Dank, der Schlussverkauf bei Saks und ein Versuch, eine Vorauszahlung von fünfzehn Dollar bei Southern Counties Gas wieder einzutreiben, aber es findet sich nicht das Datum im Juni, an dem wir Henry Robbins kennenlernten.
Heute erscheint mir das als ein eigenartiges, quälendes Versäumnis, ein Versäumnis, das auf den speziellen Bewusstseinsriss schließen lässt, den Neugeborene und geborgte Häuser im Gemüt von Menschen erzeugen kön- nen, die sich so recht und schlecht durchs Leben schlagen. Bis zu jenem Abend im Juni 1966 war Henry Robbins ein Abstraktum für uns, noch so ein Lektor aus New York, ein Fremder von Farrar, Straus & Giroux, der angerufen oder geschrieben und gesagt hatte, er komme nach Kalifornien, um ein paar Autoren zu treffen. Ich hatte in jenem Sommer eine so schlechte Meinung von mir als Schriftstellerin, dass ich mich irgendwie schämte, mit noch einem Lektor essen zu gehen, mich wieder einmal hinzusetzen und über die »Arbeit« zu diskutieren, die ich nicht tat. Doch am Ende ging ich hin: Am Ende zog ich ein schwarzes Seidenkleid an und ging mit meinem Mann ins Bistro in Beverly Hills, lernte Henry Robbins kennen und begann auf der Stelle zu lachen. Wir lachten bis zwei Uhr morgens, als wir schon längst nicht mehr im Bistro, sondern im Daisy waren und immer wieder »In the Midnight Hour« und »Softly as I Leave You« hörten und dazu unsere lustigen, hinreißenden, bezaubernden Stimmen, Stimmen, die verlorengegangene Wäschestücke, Babysitter und die Aussicht auf 5,29 Dollar vergessen ließen, Stimmen voller Verheißung, Schriftstellerstimmen.
Kurzum, wir betranken uns zusammen, und ehe der Sommer vorüber war, hatte Henry Robbins mit uns beiden Verträge unterzeichnet, und von jenem Sommer 1966 bis zum Sommer 1979 vergingen nur sehr wenige Wochen, ohne dass einer von uns beiden mit Henry Robbins über etwas sprach, was uns amüsierte, interessierte oder beunruhigte, über unsere Hoffnungen und unsere Zweifel, über Arbeit, Liebe, Geld und Klatsch, über gute und schlechte Neuigkeiten. An jenem Morgen im Juli 1979, als wir aus New York die Nachricht erhielten, Henry Robbins sei vor ein paar Stunden auf dem Weg zur Arbeit gestorben, sei mit 51 Jahren im U-Bahnhof 14. Straße tot umgefallen, gab es nur einen einzigen Menschen, mit dem ich darüber reden wollte, und dieser Mensch war Henry.
14th Street Station (Foto: Paul Lowry, Wikimedia Commons, CC by-SA 2.0)
»Die Kindheit ist das Königreich, in dem niemand stirbt«, lautet eine Zeile in einem Gedicht von Edna St. Vincent Millay, die mir im Gedächtnis haftengeblieben ist, seit ich sie zum ersten Mal las, als ich tatsächlich noch ein Kind war und niemand starb. Natürlich starben Menschen, aber sie waren entweder sehr alt oder starben einen ungewöhnlichen Tod, starben beim Floßfahren auf dem Stanislaus oder beim Laden einer Schrotflinte oder wenn sie betrunken mit 150 über den Freeway fuhren: Der Tod wurde entweder als »Segen« oder als außergewöhnlicher Fall hingestellt, als dramatischer Wendepunkt in der Geschichte eines Menschen (nie der eigenen). Krankheit erledigte sich von selbst in jenem Königreich, in dem ich und die meisten Leute, die ich kannte, noch lange über die Kindheit hinaus verweilten. Ein unerklärliches Fieber verschaffte einem bloß den Genuss einer Woche im Bett. Brustschmerzen offenbarten sich, nachdem sie untersucht worden waren, als Hypochondrie.
Mit der Zeit bemerkten viele von uns, dass unsere guten Erfahrungen bei weitem nicht für alle galten, dass wir bis dahin gesegnet, gefeit oder schlicht begünstigt gewesen waren, Spieler mit einer Glückssträhne, doch da waren wir voll ausgelastet: gefangen in Tagen, die zu erfüllt schienen, zu abwechslungsreich, zu gedrängt voll mit Freunden, Aufgaben und Kindern, Abendgesellschaften und Abgabeterminen, Verpflichtungen und noch mehr Verpflichtungen. »Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn alle, die man kennt, weg sind«, sagte ein alter Mensch, den ich kannte, zu mir, und ich nickte, ohne zu verstehen, doch, kann ich, kann ich mir vorstellen, dachte sogar – Gott verzeih mir –, dass es einen gewissen Frieden geben müsse, wenn man alle Anforderungen und Ansprüche überlebte, wenn man niemanden kannte, sich un- gebunden treiben ließ. Ich glaubte, die Tage würden in alle Ewigkeit zu erfüllt sein, zu gedrängt voll mit Freunden, die zu sehen man keine Zeit hatte. Ich glaubte, wenn ich über die Zukunft nachdachte, wir würden alle noch die Beerdigung der anderen mitbekommen. Aber ich irrte mich. Ich hatte es mir nicht vorstellen können, ich hatte es nicht verstanden. So würde es gehen: Ich würde Henrys Beerdigung mitbekommen, aber er nicht meine.
Die Beerdigung war keine richtige Beerdigung, sondern eine Gedenkstunde der üblichen Art, eine Gelegenheit für uns alle, uns an einem tropischen New Yorker Augustmorgen im Vortragssaal der Gesellschaft für Ethische Kultur Ecke 64. Straße und Central Park West zu treffen. Wenn man mit Sprache arbeitet, ist es eine Binsenweisheit, dass von anderen Leuten geprägte Sätze sich ständig über die eigene Erfahrung legen, und dieser Morgen in New York machte da keine Ausnahme. »Bleibe bei mir: Geh nicht fort« war eine Zeile, die ich die ganze Gedenkfeier über unausgesprochen hörte; mein Mann sprach und ein halbes Dutzend anderer Schriftsteller und Verleger, die Henry Robbins nahegestanden hatten – Wilfrid Sheed, Donald Barthelme, John Irving, Doris Grumbach, Robert Giroux von Farrar, Straus & Giroux, John Macrae von Dutton –, doch der Unterton, den ich dabei hörte, war ein Fragment eines Gedichts von Delmore Schwartz, vor dreizehn Jahren gestorben, Opfer eines anderen New Yorker Sommers.
Bleibe bei mir: Geh nicht fort, und dann:
Wir drosseln das Tempo, ehe wir alt werden,
Gehen zusammen auf der entschwindenden Straße, Wie Chaplin und seine Waisenschwester.
Downtown New York City
Fünf Jahre vorher hatte Henry den Verlag Farrar, Straus verlassen und war zu Simon & Schuster gegangen, und ich war mitgegangen. Zwei Jahre danach hatte er Simon & Schuster verlassen und war zu Dutton gegangen. Diesmal war ich nicht mitgegangen, war geblieben, wo ich einen Vertrag hatte, und blieb doch Henrys Waisenschwester, Henrys Autorin. Ich erinnere mich, dass er sich von Zeit zu Zeit Sorgen machte, ob wir auch genug Geld hatten, und dass er sich manchmal, mit Mühe, zu der Frage durchrang, ob wir welches brauchten. Ich erinnere mich, dass er den Titel Spiel dein Spiel nicht mochte, und ich erinnere mich, dass ich ihn aus einem Hotelzimmer in Chicago am Telefon beschimpfte, weil True Confessions, der Roman meines Mannes, noch nicht bei Kroch & Brentano im Fenster war, und ich erinnere mich an einen Halloween-Abend 1970 in New York, an dem unsere Kinder in dem Haus in der 86. Straße, wo Henry, seine Frau und ihre beiden Kinder damals wohnten, zusammen singen gingen. Ich erinnere mich, dass seine Wohnung in der 86. Straße weiße Vorhänge hatte und dass wir an einem heißen Sommerabend alle dort saßen, Hühnchen in Estragonaspik aßen und zusahen, wie sich die Vorhänge in der Brise vom Fluss hoben und senkten, und unsere Welt erschien uns ziemlich verheißungsvoll.
Ich erinnere mich, dass ich mich mit Henry über den Gebrauch der zweiten Person im zweiten Satz von Wie die Vögel unter dem Himmel stritt. Ich erinnere mich, dass er tief verletzt und empört war, wenn jemand von uns, jemand von seinen Waisenschwestern oder -brüdern, eine schlechte Kritik oder ein böses Wort oder auch nur einen Brief bekam, von dem er sich vorstellte, er könnte selbst unseren flüchtigsten Augenblick beeinträchtigen. Ich erinnere mich, dass er nach Kalifornien geflogen kam, weil ich wollte, dass er die ersten hundertzehn Seiten von Wie die Vögel unter dem Himmel las, und sie nicht nach New York schicken wollte. Ich erinnere mich, dass er eines Abends 1975, als ich ihn brauchte, in Berkeley auftauchte; ich sollte an dem Abend einen Vortrag halten, und die Veranstaltung war für mich dadurch belastet, dass ich den Vortrag vor Mitgliedern des Englischen Seminars halten sollte, die einst mir Vorträge gehalten hatten. Bis Henry kam, war ich wie von Sinnen vor Angst, der opferbereite Star meines eigenen Entblößungstraums. Ich erinnere mich, dass er zuerst in den Fakultätsklub kam, wo ich übernachtete, und mich dann über den Campus zum Raum 2000 LSB begleitete, wo ich sprechen sollte. Ich erinnere mich, dass er mir sagte, alles würde gutgehen. Ich erinnere mich, dass ich ihm glaubte.
Ich glaubte immer, was Henry mir sagte, außer bei zwei Dingen, dem Titel Spiel dein Spiel und dem Gebrauch der zweiten Person im zweiten Satz von Wie die Vögel unter dem Himmel. Ich glaubte ihm sogar noch, als Zeit, Persönlichkeitsentwicklung und die Schwierigkeit, sich den Lebensunterhalt mit dem Verlegen oder Schreiben von Büchern zu verdienen, unsere Beziehung kompliziert hatten. Was Lektoren für Autoren tun, ist rätselhaft und hat entgegen allgemeinem Glauben nicht viel mit Titeln, Satzbau und »Änderungen« zu tun. Es hat auch, ungeachtet meiner Beschwerden, nicht viel mit dem Schaufenster bei Kroch & Brentano in Chicago zu tun. Die Beziehung zwischen Lektor und Autor ist viel subtiler und tiefer, so diffus und radikal zugleich, dass sie beinahe Züge einer Eltern-Kind-Beziehung hat: Der Lektor ist, wenn er wie Henry Robbins ist, der Mensch, der dem Autor jene Vor- stellung von sich selbst gibt, jenes Bild von sich selbst, das ihn befähigt, sich alleine hinzusetzen und es zu schaffen.
Empty Chairs 20-Year-Old Imprints (Foto: Angie Chung, flickr, CC by-SA 2.0)
Das ist ein heikles Unterfangen und verlangt vom Lektor nicht nur, dass er sich einen Glauben bewahrt, den der Autor nur zeitweilig und kurzfristig teilt, sondern auch, dass er den Autor gern mag, was schwer ist. Schriftsteller kann man selten gern mögen. Sie bringen nichts in die Beziehung mit ein, sie lassen alles Gute an der Schreibmaschine zurück. Sie fürchten, dass ihr Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen verschwindend gering, wenn nicht gar zweifelhaft ist, und da das Verlagsgewerbe nur ein marginal profitables ist, das zunehmend Menschen anzieht, die sich dieser Marginalität nur allzu deutlich bewusst sind, Menschen, die sich in die Defensive gedrängt oder erniedrigt fühlen, weil sie nicht an den Tischen mit den hohen Einsätzen sitzen (weil sie keine Konzerne führen, keine Filmstudios betreiben, nicht einmal Hauptakteure in dem größeren Unternehmen sind, dem der Verlag gehört), ist es Verlegern oder Lektoren zur zweiten Natur geworden, dass sie sich die Furcht des Autors zunutze machen, sie verstärken und den Autor in ein zwar notwendiges, aber letztlich bedeutungsloses Anhängsel der »wirklichen« Verlagswelt verwandeln. In der wirklichen Welt nehmen Verleger und Lektoren nicht den TWA-Nachtflieger nach Kalifornien, um eine nervöse Autorin zu trösten, die es nur zu einem mittleren Platz auf der Verkaufsliste bringt. Verleger und Lektoren in der wirklichen Welt genießen Firmenprivilegien und ziehen es vor, mit den Abräumern, die sie bislang nicht werden konnten, Kreuzfahrten zu den Galapagosinseln zu machen. Ein Verleger oder Lektor, der seine eigene gesellschaftliche Stellung geringschätzt, findet vielleicht Trost darin, diese Geringschätzung auf den Autor zu übertragen, der gemeinhin keine Firmenprivilegien genießt und wahrscheinlich von der Großzügigkeit des Verlegers abhängig ist.
Das war kein Trost – und übrigens auch keine Geringschätzung – nach Henrys Geschmack. Zum letzten Mal sah ich ihn, zwei Monate ehe er im U-Bahnhof 14. Straße tot umfiel, eines Abends in Los Angeles, kurz vor Schluss des jährlichen Treffens der Amerikanischen Buchhändlervereinigung. Er war auf dem Weg zu einer Party bei uns vorbeigekommen, und wir hatten ihn überredet, die Party sausenzulassen und zum Essen zu bleiben. Was er mir an dem Abend sagte, war indirekt formuliert und voller versteckter Anspielungen auf andere Leute, andere Verpflichtungen und alles, was sich seit jenem Sommerabend 1966 zwischen uns zugetragen hatte, doch es lief auf Folgendes hinaus: Ich sollte wissen, dass ich es auch ohne ihn schaffen könnte. Das war das Dritte, was Henry mir sagte und ich nicht glaubte.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch Sentimentale Reisen (Ullstein).
Das Buch
Die in „Sentimentale Reisen“ versammelten Essays und Reportagen aus den Jahren 1982 bis 1992 belegen ihre schriftstellerischen Fähigkeiten eindrucksvoll. Ob Joan Didion vom Parteitag der Demokraten unter Bill Clinton berichtet oder von einem spektakulären Prozess in New York City, ob sie sich mit der Politik, den Medien oder dem Showbusiness befasst, immer zeichnen ihre Texte ein präzises Bild des geistigen und kulturellen Klimas Amerikas, das noch heute gültig ist.
Links
Sentimentale Reisen auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
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