Der lange und steinige Weg: Von der Idee zum fertigen Buch

Manche Ideen brauchen Zeit, bis sie bereit zur Veröffentlichung sind – egal, wie gut sie sein mögen. So ging es auch Stefan Ahnhem mit dem Fall für seinen aktuellen Krimi Minus 18º. Ganze elf Jahre ist die Geschichte gereift und immer wieder wurde sie aus der Schublade geholt, verändert und doch wieder verstaut. Bis jetzt.

von Stefan Ahnhem

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„Was Dich nicht umbringt, macht Dich nur stärker“, besagt eine Redewendung, die auf perfekte Weise beschreibt, welche abenteuerliche Reise meine Idee zu Eighteen Below Zero zurücklegen musste, bevor aus ihr ein Roman wurde.

Alles begann vor nicht weniger als elf Jahren, als ich den örtlichen Friseur aufsuchte. Sie wissen schon, einer von denen, bei denen man nicht allzu tief in die Tasche greifen muss, um einfach nur ein paar Haare loszuwerden. Denn mehr durfte man andererseits auch wirklich nicht erwarten. An einen echten Haarschnitt war erst gar nicht zu denken. Dafür brauchte man aber auch nicht im Voraus einen Termin auszumachen, sondern einfach nur vorbeizuschauen und zu warten, bis einer der „Haarentferner“ frei war.

Normalerweise konnte man sofort Platz nehmen und sie zur Tat schreiten lassen, aber an diesem einen Nachmittag vor elf Jahren warteten vor mir schon sechs Personen, und es war nur ein einziger Mann mit Schere da. Also musste ich mich zum ersten Mal überhaupt hinsetzen und länger als zwanzig Minuten warten.

Sie werden sich erinnern, dass die meisten Menschen damals noch kein Smartphone oder Tablet zur Hand hatten. Also wendete ich mich dem Stapel abgegriffener Magazine zu und gab mir Mühe, eines ohne nackte Frauen zu finden (wenigstens möchte ich es genau so in Erinnerung behalten), aber leider war da keins. Daher entschied ich mich für eins, in dem mich ein Artikel interessierte. Ja, ich weiß, sie hören diese Geschichte nicht zum ersten Mal, aber obwohl ich im Bereich der fiktiven Literatur tätig bin, ist das die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Der Artikel handelte von einem schwedischen Zwillingspaar, das seinen Lebensunterhalt damit verdiente, die Identitäten anderer Leute zu stehlen. Die beiden hatten verschiedene kreative Möglichkeiten entdeckt, an fremde Kreditkartendaten zu gelangen und kauften damit weltweit ein. Für die Karteninhaber war das im Endeffekt kein großes Problem, weil die Bank das Geld immer zurückerstattete. (Banken haben ein Interesse daran, dass alle sich sicher fühlen und weiterhin ihre Kreditkarten verwenden.)

Leider hatten die Zwillinge noch mehr Trümpfe im Ärmel. Sie änderten die Adresse der Opfer (in Schweden ist das erschreckend einfach) und gaben gleichzeitig gegenüber der Polizei an, dass deren Personalausweise verloren gegangen seien. Die Unterlagen zur Beantragung eines neuen Personalausweises wurden anschließend an die neue Adresse geschickt, und die Zwillinge brauchten jetzt nur noch den Namen des Opfers einzufügen, eine Unterschrift darunter zu setzen und ein Foto von sich dazuzulegen.

Der neue Personalausweis kam zwei Wochen später per Einschreiben. Sie mussten nur zur Postfiliale gehen und ihn abholen. Da sich ihre eigene Unterschrift und ihr eigenes Gesicht darauf befanden, schöpfte niemand Verdacht. Natürlich mussten sie dem Opfer all die anderen Postsendungen weiterhin zukommen lassen, damit es keinen Wind von der Sache bekam.

Sie verfügten jetzt über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Sie konnten Zahlungen im Namen des Opfers vornehmen, sie konnten zur Bank des Opfers gehen und alle Konten auflösen lassen, neue Kredite aufnehmen usw. Wie Parasiten saugten sie ihre Opfer buchstäblich bis auf den letzten Euro aus.

Eines Tages wurde einer der Zwillinge geschnappt und in Haft genommen. Der Staatsanwältin lagen ausreichend Beweise vor, um ihn für lange Zeit hinter Gitter zu bringen. Eigentlich sollte man meinen, dass die kriminelle Karriere der Zwillinge damit beendet war. Unglücklicherweise (aus meiner Sicht allerdings glücklicherweise, denn ich war gerade auf die perfekte Kriminalgeschichte gestoßen) hatten sie einen weiteren Trumpf im Ärmel.

Ich werde an dieser Stelle nicht erzählen, was es damit auf sich hatte, aber soviel kann ich verraten: Es hat mich regelrecht umgehauen. Ich vergaß völlig, dass ich mich in einem Friseurladen befand und ließ alle anderen vor. Ich hatte genug damit zu tun, mir einen Stift zu besorgen, Notizen zu machen und alle Teile der Geschichte in die richtige Reihenfolge zu bringen. In weniger als einer Dreiviertelstunde hatte ich die ganze Geschichte vor mir ausgebreitet, und sie war einfach nur großartig.

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Zu dieser Zeit arbeitete ich als Drehbuchautor an der zweiten Staffel von Henning Mankells Wallander-Serie. Also verfasste ich ein 30 Seiten langes Skript – eine detaillierte Beschreibung jeder einzelnen Szene des Films – und schickte es an die Produzenten.

Zu meiner Überraschung waren sie nicht sonderlich beeindruckt.  „Das ist nicht glaubwürdig“, sagten sie, und ich erzählte ihnen, dass es sich in vielerlei Hinsicht um eine wahre Geschichte handelte. Sie sagten „okay“ und ließen es mich umschreiben.

Also überarbeitete ich das Skript wieder und wieder und wieder. Man spricht nicht umsonst von der „Entwicklungshölle“. Nach ein paar Monaten wurde ich der ganzen Sache so überdrüssig, dass ich beschloss, damit aufzuhören, all die unterschiedlichen Versionen in eine Schublade zu stecken und stattdessen eine meiner anderen Ideen auszuarbeiten. Sie trug den Titel The Leak, und es dauerte nur zwei Monate, bis ich eine endgültige Fassung des Skripts vorlegen konnte, mit der alle zufrieden waren.

Ideen, die man in der Schublade verschwinden lässt, haben die Angewohnheit, dort zu bleiben. Man macht es ja aus einem Grund, und genau dieser Grund sorgt normalerweise dafür, dass die Idee die Schublade niemals wieder verlässt.

Bis auf dieses eine Mal.

So sehr ich auch versuchte, nicht darüber nachzudenken, war die Idee doch stets präsent, drängt sich zwischen meine Gedanken und sprang mich regelrecht aus der Schublade an, indem sie meine ganze Aufmerksamkeit einforderte. Aber ich musste schließlich meine Miete zahlen und hatte keine Zeit, an einer Idee zu arbeiten, für die sich außer mir niemand interessierte.

Erst fünf Jahre später öffnete ich die Schublade (oder genauer: die Datei auf dem Computer) und fing an, wieder daran zu arbeiten. Der Grund dafür war, dass ich den Auftrag erhalten hatte, eine komplette neue Staffel für Helene Turstens TV-Serie über die Kommissarin Irene Huss zu entwickeln. In den ersten beiden Staffeln hatten wir bereits all ihre Kriminalromane umgesetzt, also brauchte ich sechs neue Geschichten. Es ist sicher keine Überraschung, dass eine davon die Geschichte über die Zwillinge wurde.

Und sie liebten sie. Tatsächlich liebten sie sie sogar so sehr, dass sie daraus die erste Episode der Staffel machen wollten. Sie sollte den neuen Abschnitt im Leben der Irene Huss einläuten. Leider wurde die Sendung aus Gründen, die mein Verständnisvermögen übersteigen, gestrichen, und mir blieb nichts anderes übrig, als die Idee wieder in die Schublade zu packen und zu denken, dass sie vielleicht doch nicht so gut war.

Damals war ich vom Filmgeschäft so genervt, dass ich den Entschluss fasste, einen Kriminalroman zu schreiben. Der deutsche Titel lautete Und Morgen Du, und er wurde sowohl in Schweden als auch in Deutschland und vielen anderen Ländern rund um den Globus ein großer Erfolg. (Vor ein paar Tagen erhielt ich die japanische Ausgabe, und wenn man sie aufschlägt, sieht es genau so aus wie in der Matrix.)

Zum Glück wollte sich die Idee der Zwillinge aber noch immer nicht geschlagen geben und lärmte und bedrängte mich auch weiterhin aus der Schublade. Also beschloss ich, einen letzten Anlauf zu starten. Sie hat sich jetzt zu einem Fall entwickelt, in dem Fabian Risk und seine Helsingborger Kollegen ermitteln, und ich muss sagen, ich bin zufriedener denn je. Ich selbst halte Minus 18º sogar für meinen besten Roman. Natürlich habe ich ihn unzählige Male umschreiben müssen, bis es soweit war.

Heute zählt Identitätsdiebstahl zu den häufigsten Straftaten in Schweden. Tatsächlich ist er weiter verbreitet als Fahrraddiebstahl. Es würde mich nicht überraschen, wenn das auch auf Deutschland zuträfe. War die Welt vor elf Jahren noch nicht für die Geschichte bereit? Waren die Zwillinge ihrer Zeit so weit voraus, dass sie erst jetzt glaubwürdig geworden ist? Ich weiß es nicht.

Was ich rückblickend mit Gewissheit sagen kann, ist, dass es weder ein Fall für Kurt Wallander, noch für Irene Huss oder irgendeinen anderen skandinavischen Mordermittler war. Es musste Fabian Risk sein und sonst niemand.

Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, wenn Sie das Buch lesen.


Das Buch
VS_9783471351246-Ahnhem-Minus-18-Grad_U1.inddIn Helsingborg an der schwedischen Westküste wird ein Auto aus dem Hafenbecken geborgen. Eigentlich wäre der Fall klar: ein Unfall. Doch bei der Obduktion stellt sich heraus, dass der Fahrer schon lange tot war, als das Auto ins Wasser stürzte.
Kommissar Fabian Risk und seine Kollegen untersuchen den mysteriösen Todesfall. Jemand glaubt, den Toten erst letzte Woche gesehen zu haben. Wie ist das möglich? Risk hat einen Verdacht, aber der ist so absurd, dass er ihn zunächst selbst nicht glauben will.
Eins ist allerdings sicher: Es wird noch weitere Opfer geben, ein Serienmörder ist am Werk. Nur durch Zufall ist die Polizei jetzt auf seine Spur gekommen. Der Tote im Hafenbecken war nicht das erste Opfer, und noch lange nicht das letzte…

Links
Die offizielle Microsite zu Minus 18º
Stefan Ahnhem bei Facebook und Twitter

Stefan Ahnhem

Stefan Ahnhem

Stefan Ahnhem ist einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Seine Bücher sind allesamt Bestseller und preisgekrönt. Bevor Ahnhem begann, selbst Krimis zu schreiben, verfasste er Drehbücher unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe. Er lebt mit seiner Familie in Kopenhagen.

Foto: © Thron Ullberg

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