Robert Prosser: „Ich wollte mir ein Land erschreiben, seine Vergangenheit und Gegenwart.“

Wie geht man mit den Erfahrungen von Krieg und Flucht um? Wie bewahrt man die eigene Erinnerung vor dem Missbrauch durch nationalistische Politik? Wohin mit all der Energie und mit dem Frust, dass die EU als Versprechen von Glück und Zukunft so nahe ist, dieses Versprechen aber nie eingelöst wird? All diesen Fragen begegnete Robert Prosser bei der Recherche über den Jugoslawienkrieg für seinen Roman „Phantome“. Im Essay beschreibt er, warum ihn Bosnien und seine Menschen nicht mehr loslassen. 

Von Robert Prosser

 

Tekke (Grabmal) des Sufis Hasan Kaimija in Kulagrad, oberhalb Zvorniks. Die Frau am Foto kümmert sich um das Grab, ein Dienst, den ihre Familie seit 1691 übernimmt. 1992 wurde der Friedhof vom bosnisch-serbischen Heer zerstört, der Sarg des Sufis wurde durch darüber eingestürztes Mauerwerk verschont. Die Frau weist dies den spirituellen Kräften Hasan Kaimijas zu. (April 2015, Republik Srpska)

 

Auf dem Rückweg von Albanien war ich 2013 erstmals in Bosnien, ein kurzer Aufenthalt in Sarajevo, um nach zwei Tagen per Bus nach Zagreb zu gelangen. Dieser Zwischenstopp brachte das Eingeständnis mit sich, fast nichts über das Land zu wissen, abgesehen von vagen Erinnerungen an die als Kind kaum verstandenen Schreckensmeldungen, die während des Jugoslawienkrieges die Radio- und Fernsehnachrichten beherrschten. Aus Neugier begann ich, Interviews mit Menschen zu führen, die es aufgrund des Krieges nach Österreich verschlagen hatte. In verschiedensten Wiener Cafés, in Schrebergärten oder Gemeindebauten und den Reihenhäusern der Vorstadt: überall wurde ich von den Geschichten, die man mit mir teilte, in einer bis dahin unbekannten Intensität eingesponnen. Im Kaffeehaus nahm ich die übrigen Gäste nicht mehr wahr, der Ort hörte auf zu existieren wie auch das Straßentreiben vorm Fenster, nur noch die Stimme war da, die Stimme eines Menschen, der als Elektriker oder Lehrerin fest im gegenwärtigen, österreichischen Alltag stand, dessen Existenz jedoch auf traumatischen Erlebnissen von Gewalt, Tod und Flucht gründete.

 

Blick vom Friedhof Kulagrads auf Divic. Dieses Dorf liegt nahe Zvorniks, an einem Stausee, die Berge im Hintergrund befinden sich bereits in Serbien. Zvornik war im April 1992 nach Bijelina die zweite größere Ortschaft, in der ethnische Säuberungen stattfanden – insbesondere durch Paramilitärs wie Arkans Tigern. In der näheren Umgebung befanden sich Internierungslager, in der eine große Anzahl der männlichen Muslime von Divic verschwanden. (April 2015, Republik Srpska)

 

Ich entdeckte, wie sehr Wien von der jugoslawischen Kultur geprägt und geformt wird, ich lernte, die Stadt neu und gründlicher zu lesen, da ich bestimmte Graffitis, Shirt-Aufdrucke oder Tätowierungen nun ihren serbischen, bosniakischen oder kroatischen Hintergründen zuordnen konnte: stilisierte Lilien oder weiße Adler, das viermalige S, ein weißer Schwan auf schwarzem Grund, ein Schachbrettmuster, dessen erstes Kästchen oben links entweder mit weiß oder rot beginnt. Die Gespräche enthüllten mir nach und nach eine andere Vergangenheit, die 1990er aus der Sicht ehemaliger Flüchtlinge; eine parallele Geschichtsschreibung, die mit eigenen Helden und Verbrechern, mit erschütternden Schicksalen und mitunter absurden Anekdoten aufwartete. Ich hörte etwa von Kozluk, einer Kleinstadt im Osten Bosniens.

 

… das Erzeugen von Feindbildern, die mediale Manipulation, die Macht der Propaganda, der inszenierte Kampf zwischen Christentum und Islam – das alles ist zwischen Drina und Save ständig präsent.

 

Im Frühjahr 1992 vertrieben Paramilitärs, die sich Gelbe Wespen nannten, die Kozluker Muslime, ihre ungewissen Flucht endete schließlich in einem Lager in der österreichischen Hauptstadt. Der Bürgermeister Kozluks war darum bemüht, die Gemeinschaft beisammenzuhalten, oft erzählte man mir von diesem Mann, der nichts unterlassen habe, um seinen Leuten zu helfen, ja, schob man mit einem Lächeln nach, sogar im Wiener Gefängnis wäre er gesessen, wegen Waffenhandels und weil er den Transfer freiwilliger Kämpfer organisiert hatte – ein weiterer Aspekt dieser anderen Historie: nicht nur serbische Gastarbeiter fuhren als sogenannte Wochenendkrieger von Österreich nach Bosnien, um über ihre freien Tage an den Gefechten teilzunehmen, auch unter den geflohenen Bosniaken und Kroaten entwickelte sich schnell ein System, um Geld, Waffen und Kampfwillige aus den Wiener Wohnungen oder Flüchtlingslagern auf den Weg zu bringen. Trotz Haft blieb der Bürgermeister nicht untätig, bereits kurz nach Kriegsende überzeugte er den Großteil der vertriebenen Kozluker, zurückzugehen und die Stadt wieder aufzubauen –  es mochte dieser Wille sein, sich nicht die eigene Vergangenheit rauben zu lassen, selbst wenn diese nunmehr in der Republika Srpska wurzelte, dem neugeschaffenen serbischen Teil Bosniens, weshalb dem Bürgermeister auch Jahre nach seinem Tod noch von vielen Hochachtung entgegengebracht wurde.

 

Nachdem Veto Russlands gegen die UN-Resolution, die den Fall der Enklave Srebrenica offiziell als Genozid bezeichnet hätte, wurde Srebrenica und umliegende Dörfer über Nacht mit diesen Postern vollgeklebt. Darauf steht: „Die östliche Lösung“, eine kleine Geste des Dankes einer pro-serbischen, bosnischen Partei. (Bratunac, Republik Srpska, Juli 2015)

 

Dank den Kontakten zur Diaspora besaß ich bald etliche Telefonnummern, Mailadressen und Namen, genug, um die Nachforschungen auf Bosnien selbst zu erweitern. Etwas mehr als drei Jahre habe ich an einer Geschichte geschrieben, die von Wien bis nach Srebrenica reicht und über einem Zeitraum von 1992 bis 2015 Lebenswegen folgt, die vom Krieg unterbrochen oder in ungewollte, ungeahnte Bahnen gelenkt wurden. In diesen drei Jahren war ich für die Recherche vorwiegend in der Posavina und im bosnischen Osten entlang der Drina unterwegs. Ich begann zu verstehen, dass Bosnien exemplarisch für vieles ist, das in Westeuropa –  gerade wieder –  passiert: das Erzeugen von Feindbildern, die mediale Manipulation, die Macht der Propaganda, der inszenierte Kampf zwischen Christentum und Islam – das alles ist zwischen Drina und Save ständig präsent. Ich bin dort auf Fragen gestoßen, die mich seither umtreiben: Wie geht man mit den Erfahrungen von Krieg und Flucht um? Wie bewahrt man die eigene Erinnerung vor dem Missbrauch durch nationalistische Politik?

 

Konfrontiert mit den Kriegswunden in der Landschaft und den Menschen suchte ich nach einer Möglichkeit von Schutz.

 

Kirmes in einem Dorf nahe Doboj. (Jelah, Bosnische Föderation, April 2015)

 

Oder, wenn ich an die Jugendlichen denke, mit denen ich in Tuzla zu tun hatte, der Stadt, in der im Februar 2014 jene Proteste begannen, die auch Sarajevo oder Zenica ergriffen und sich gegen das korrupte politische System richteten als eruptiver Beweis zivilen Ungehorsams: Wohin mit all der Energie und mit dem Frust, dass die EU als Versprechen von Glück und Zukunft so nahe ist, dieses Versprechen aber nie eingelöst wird? Wie mit dieser latenten Perspektivlosigkeit fertig werden?

Die bosnischen Jugendlichen taten die Erfahrungen ihrer Eltern, die teils angesprochenen, teils verschwiegenen Geschehnisse während des Krieges mit einem Schulterzucken ab: Was kann man dazu schon sagen?, fragte mich eine, wie kann man`s verstehen?, und oft war mir, als ob es vielen der Jüngeren genau darum ging: endlich etwas zu sagen, etwas zu verstehen, die lästige Sprachlosigkeit ein für alle mal abzuschütteln. Und das mochte mit ein Grund für mein eigenes Vorhaben gewesen sein; ich wollte mir ein Land erschreiben, seine Vergangenheit und Gegenwart, eben weil es viel zu erzählen gab, viel zu ergründen. In diesem Versuch bin ich gescheitert, natürlich, weil Bosnien sich als zu vielschichtig und facettenreich erwies, um an irgendeiner Art von Grund oder Wahrheit angelangen zu können. Und bestimmt kommt meine fortwährende Verwunderung über das Land den eigenen Entscheidungen zu, von denen einige mir jetzt, im Nachhinein, fragwürdig scheinen.

 

Im Bus unterwegs, zwischen Jajce und Travnik. (Bosnische Föderation, November 2014)

 

So weigerte ich mich beispielsweise, die Sprache zu erlernen; eine Wahl, die mir während der Zeit, die ich im Osten Bosniens verbrachte, in der Region von Zvornik bis Goražde, absolut notwendig vorkam. Konfrontiert mit den Kriegswunden in der Landschaft und den Menschen suchte ich nach einer Möglichkeit von Schutz. Die Sprache des Landes nicht zu verstehen verwies mich ins Abseits, fügte mich eindeutig in die Rolle des Fremden. Diese Position des Aussenseiters gab mir ein Gefühl von Distanz und dadurch von Sicherheit. In Phasen, in denen ich allein unterwegs war, half mir diese Abkapselung, um im alltäglichen Schweigen den Roman weiterzuspinnen. Ich reiste nicht durchs reale Bosnien, vielmehr wanderte ich durch eine Vorstufe des Romans, eine damals noch lange nicht ausgeformte, jedoch lebhafte, vibrierende Geschichte, die mich nach wie vor nicht loslässt.

 

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Der Teaser zu Robert Prossers „Phantome“


Das Buch 

Anisa flüchtet 1992 aus ihrem bosnischen Dorf nach Wien. In den Kriegswirren hat sie ihren Vater zurückgelassen – und wird ihn nie wiedersehen. Auch von ihrem Freund Jovan, einem bosnischen Serben, der zum Militärdienst eingezogen wurde, konnte sie sich nicht verabschieden. Jahrzehnte später reist Anisas Tochter Sara auf den Spuren ihrer Mutter nach Bosnien-Herzegowina. Zusammen mit ihrem Sprayer-Freund taucht sie ein in eine Region voller Gegensätze, wo jeder Tag gefeiert wird wie der letzte – und die Folgen des Krieges überall spürbar sind. Ein intensiver politischer Roman, der lange nachhallt.

Links

„Phantome“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage 

Die offizielle Homepage von Robert Prosser

Robert Prosser

Robert Prosser

Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach/Tirol, lebt dort und in Wien. Er studierte Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie. Der Autor ist Träger etlicher Auszeichnungen, unter anderem des Grenzgänger Stipendiums der Robert Bosch Stiftung und des Aufenthaltsstipendiums am Literarischen Colloquium Berlin LCB. Sein zweiter Roman »Phantome« war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017.

www.robertprosser.at

Foto: © Melanie Hauke

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