Ada Dorian: „Die Realität liefert das Recherchematerial momentan ungefragt.“

„In meinem Roman sind es nicht die Tiere, sondern die Menschen, die gezähmt werden müssen. Das Gegenüber in einem politischen Konflikt kann so gefährlich wirken wie ein unberechenbares Raubtier.“ Als sie „Die Zähmung der Tiere“ schrieb, wollte Ada Dorian sich in erster Linie selbst einen Überblick über den politischen Konflikt in der Türkei machen. Das Ergebnis sind 15 Episoden aus der Perspektive verschiedener Menschen, aus verschiedenen Ländern. Im Interview verrät die Autorin uns, wie sie bei der Recherche vorging.

Ada Dorian_Die Zähmung der Tiere_Ullstein

Ada Dorian. Foto: (c) Melanie Hauke

Das Gegenüber in einem politischen Konflikt kann so gefährlich wirken wie ein unberechenbares Raubtier.

Fangen wir ganz naiv gefragt beim Titel an: Welche Tiere werden in deinem Roman gezähmt?

In meinem Roman sind es nicht die Tiere, sondern die Menschen, die gezähmt werden müssen. Das Gegenüber in einem politischen Konflikt kann so gefährlich wirken wie ein unberechenbares Raubtier. Despoten und Demonstranten, Alleinherrscher und Oppositionelle versuchen den jeweils anderen zu zähmen. Die Perspektive entscheidet, wer von wem als wildes Tier wahrgenommen wird.

Anders als in deinen bisherigen Romanen liegt der Fokus der Handlung diesmal nicht auf ein oder zwei Protagonist*innen, sondern auf 15 verschiedenen Personen aus verschiedenen Ländern. Was verbindet sie miteinander?

Was alle Figuren des Romans gemeinsam haben, ist die spürbare Unsicherheit in einer sich verändernden Welt. Die Haupthandlung spielt in der Türkei, jedoch könnte man sie auf der Landkarte verschieben, sie in einem europäischen Land stattfinden lassen, in dem Meinungs- und Pressefreiheit ebenfalls eingeschränkt sind. Neun der Figuren kommen aus EU-Ländern, eine aus den USA, wodurch der Rahmen der Geschichte aufgezogen wird, die politische Lage in der Türkei zu anderen Phänomenen unserer Zeit in Beziehung gesetzt wird. Die zunehmende Vernetzung der Welt wirkt sich auf die Leben aller Figuren aus. Wie mit losen Fäden sind sie miteinander verknüpft, sind abhängig von dem, was in anderen Ländern passiert.

Ich wollte mir selbst lediglich einen hochkomplexen Konflikt erklären, ihn zergliedern in seine Einzelteile.

Wie bist du auf die Idee der verschiedenen Episoden gekommen? Wieso braucht diese Geschichte mehr als eine Perspektive?

Als ich angefangen habe die Geschichte zu schreiben, habe ich noch nicht an einen Roman gedacht. Ich wollte mir selbst lediglich einen hochkomplexen Konflikt erklären, ihn zergliedern in seine Einzelteile. Die vielen Perspektiven halfen mir, ein umfassendes Bild zu zeichnen, ein unüberschaubares Problemfeld in kleinere Einheiten einzuteilen.

Gab es reale Vorbilder, an denen du dich bei der Entwicklung der verschiedenen Europäer*innen orientiert hast?

Natürlich gibt es etliche reale Vorbilder. Ich musste im letzten Jahr nur aufmerksam Zeitung lesen, um genug Material zu haben. Die Realität liefert das Recherchematerial momentan ungefragt. Die Einzelschicksale, die ich letztendlich in meinem Roman schildere, sind jedoch komplett erdacht. Keine der Figuren existiert wirklich, keine reale Person wurde verschlüsselt. Jeder meiner Protagonisten ist ein Stellvertreter für ein Detail eines komplexen Problemfeldes, steht für einen Teilaspekt der Berichterstattung.

Welche Rolle spielt Nilay Birols Märchen „Der Bär und das Mädchen“ für den Hintergrund deiner Geschichte?

In Ländern, in denen die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, müssen literarische Texte sehr subtil, ja nahezu versteckt, Kritik üben. Die DDR-Literatur ist ein schönes Beispiel dafür. Wenn nicht offen geschrieben werden darf, was man denkt, muss man Kodierungen finden. Das Märchen, das meine türkische Figur Nilay schreibt, handelt von der schleichenden Übernahme einer allmählich erstarkenden Macht und der Auflehnung des Einzelnen. Im Märchen verschlingt ein kleines Mädchen einen riesigen Bären. Es zeigt die Umkehr der Verhältnisse, die Negation dessen, was zu erwarten gewesen wäre.

Jeder meiner Protagonisten ist ein Stellvertreter für ein Detail eines komplexen Problemfeldes, steht für einen Teilaspekt der Berichterstattung.

Am Ende deines Buches dankst du dem Goethe-Institut Ankara für den offenen Austausch in bilateral schwierigen Zeiten. Wie darf man das verstehen und sich deine Recherche vorstellen?

Im Februar 2017 bin ich vom Goethe Institut eingeladen worden, im Spätsommer desselben Jahres als Stadtschreiberin nach Ankara zu kommen. Die große Freude mischte sich sehr schnell mit einem unsicheren Gefühl. Gerade war Deniz Yücel verhaftet worden. Dass er ein ganzes Jahr in türkischer Haft verbringen würde, war damals noch nicht abzusehen. Im Wahlkampf für das Referendum im April 2017 gab es massive Anfeindungen von türkischer Seite in Richtung Deutschland. Zu dieser Zeit habe ich noch geglaubt, dass sich die Wogen nach der Wahl glätten würden, doch dem war nicht so. Ich habe mich lange und intensiv mit dem Goethe Institut ausgetauscht, über die aktuelle Lage und meine Rolle als Stadtschreiberin, bis ich mich im Sommer schweren Herzens für eine Absage entscheiden musste. Ein gewisser Teil der späteren Romanhandlung ist mir also selbst widerfahren. Meine Erfahrungen und Gespräche sind in die Recherche eingeflossen. In den Kapiteln über die deutsche Kuratorin Christiane und die italienische Modedesignerin Francesca findet sich mein ganz persönliches Hadern wieder. Beide Figuren sind sich ihrer Verantwortung für die Lage in der Türkei bewusst, scheuen aber zunächst die Gefahren einer persönlichen Positionierung.

Es fühlte sich an, als hätte ein Nachbar mir die Tür geöffnet und ich hätte sie wortlos wieder zugeschlagen.

Für Autor*innen und Künstler*innen in der Türkei ist die Situation durch die derzeitige politische Lage besonders schwer. Hattest du die Möglichkeit, dich mit Menschen der türkischen Literaturszene auszutauschen? Haben sich die Erfahrungen auf deine eigene Arbeit als Autorin ausgewirkt?

Nach meiner Absage ging es mir sehr schlecht. Ich hatte eine wunderschöne Reise annulliert, auf viele Erfahrungen verzichtet, unzählige Begegnungen ausgeschlagen. Es fühlte sich an, als hätte ein Nachbar mir die Tür geöffnet und ich hätte sie wortlos wieder zugeschlagen. Mich quälte die Frage, welche Verantwortung meine Generation dafür trägt, dass Beziehungen zu anderen Ländern Bestand haben können. Europa, die Europäische Union, mit all ihren Vorzügen und Sicherheiten, ihrer Reisefreiheit und Vernetzung, ist für mich stets eine Gewissheit gewesen. Die Gespräche, die ich in der Folge mit Autoren und Verlegern mit türkischen Wurzeln geführt habe, zeigten mir, in welch ungeahnter Freiheit ich lebe. Meinungsfreiheit ist für mich selbstverständlich, ich musste nie dafür kämpfen. Beim Schreiben muss ich mich nicht selbst zensieren, muss keine Zensur von höherer Stelle fürchten. Mich hat diese Erkenntnis mutiger gemacht.

Vielen Dank für das Gespräch. 

 

Das Interview führte Marie Krutmann. 

 


Das Buch 

Ada Dorian_Die Zähmung der Tiere_UllsteinDie Italienerin Francesca fühlt sich unter der innenpolitischen Lage der Türkei gezwungen, ihre langjährigen Stofflieferanten zu verprellen. Der türkischstämmige Amerikaner Uzay besucht seinen gealterten Vater in South Carolina und muss feststellen, dass dieser es aufgrund der außenpolitischen Lage vielleicht zu Lebzeiten nicht zurück in sein Heimatdorf schaffen wird. Die junge Schriftstellerin Nilay Birol, deren vermeintlich harmloses Märchenbuch plötzlich an politischer Sprengkraft gewinnt, verschwindet …

„Die Zähmung der Tiere“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage 

 

 

Ada Dorian

Ada Dorian

Ada Dorian, geboren 1981, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Sie forschte in Osnabrück über Erich Maria Remarque, wo sie nach langem Aufenthalt in Hamburg lebt. Sie gewann den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg 2009, ist Trägerin des Literaturstipendiums des Landes Niedersachsen 2016 und war nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016.

Foto: © Melanie Hauke

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