Wie viel Wahrheit gehört zur Fiktion? In „Allee unserer Träume“ erzählen Ulrike Gerold und Wolfram Hänel die Geschichte einer jungen Architektin in der DDR, die am Wettbewerb für den Bau der Arbeiterpaläste in der Karl-Marx-Allee teilnimmt. Sie will die Stadt wieder aufbauen und Wohnungen auch für die einfachen Arbeiter schaffen. Der Spagat zwischen den Freiheiten der Fiktion und den überprüfbaren Fakten stellte beim Schreiben beinahe die größte Herausforderung für das Autorenehepaar dar. Wie sie bei der Erarbeitung des historischen Stoffs vorgegangen sind, erzählen die beiden hier.
Die Idee, dass hier menschenwürdiger Wohnraum auch und gerade für die „einfachen Arbeiter“ geschaffen werden und gleichzeitig ein soziales Umfeld mit Kindergärten und Einkaufsmöglichkeiten entstehen sollte, begeisterte Ilse. (…) Aber als junge Frau, die noch nicht mal ein Architekturstudium vorweisen konnte, war jeder Gedanke daran, mit diesen Plänen vorstellig zu werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Angefangen hat eigentlich alles 1978 mit einem Besuch bei unseren Freunden in Ost-Berlin. Wir studierten beide an der Freien Universität im Westteil der Stadt und wohnten in Neukölln am Landwehrkanal. Alle vierzehn Tage machten wir uns auf den Weg zum Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße (da, wo heute der Lidl ist): „Haben Sie Druckerzeugnisse anzumelden? Führen Sie Waffen mit sich? Haben Sie Kontakte zu Bürgern der DDR?“
Die Freunde hatten eine Wohnung nicht weit vom Frankfurter Tor, aber bevor wir zur verabredeten Zeit bei ihnen erschienen, war es selbstverständlich, dass wir zunächst in die Karl-Marx-Buchhandlung gingen. Viele der Bücher, die heute noch bei uns im Regal stehen, stammen aus dieser Zeit, dem Zwangsumtausch sei es gedankt – was sonst hätten wir mit dem Ost-Geld anfangen sollen?
Und jedes Mal, wenn wir wieder mit einem neuen Strittmatter oder Anna Seghers, Irmtraud Morgner, Christa Wolf in braunem Packpapier eingeschlagen aus der Buchhandlung traten, blieb Wolfram stehen, blickte über die Allee mit den pompösen Arbeiterpalästen und sagte nahezu andächtig: „Das hat alles mein Großvater gebaut.“
Das stimmte natürlich nicht so ganz („Wer hat das siebentorige Theben gebaut?“), aber es war auch nicht nur gelogen. Tatsächlich war dieser Großvater Architekt mit einem kleinen Baubüro in Mühlhausen gewesen, und tatsächlich war er auch (als einer von über hundert Architekten) am Bau der Karl-Marx-Allee, damals noch Stalinallee, beteiligt. Die Führung der neugegründeten DDR hatte 1950 Architekten für den Bau der „ersten sozialistischen Prachtstraße Deutschlands“ gesucht – und unter anderem auch Fritz Schellhaas zur Mitarbeit aufgefordert.
Und Fritz Schellhaas hatte eine Tochter, die nach dem Krieg ihren großen Traum, selber Architektin zu werden, fast schon begraben hatte. Sie hatte gerade mal die ersten Semester Architektur an der Hochschule in Weimar studiert, als der Krieg ausbrach, jetzt war sie froh, in Mühlhausen als Behördenangestellte im Arbeitsamt unterkommen zu sein. Aber immer noch (der Traum war doch noch nicht ganz begraben) half sie abends und am Wochenende im väterlichen Baugeschäft aus – und nun lag diese Aufforderung auf dem Tisch, sich am Bau der großen Prachtstraße in Ost-Berlin zu beteiligen. Die Idee, dass hier menschenwürdiger Wohnraum auch und gerade für die „einfachen Arbeiter“ geschaffen werden und gleichzeitig ein soziales Umfeld mit Kindergärten und Einkaufsmöglichkeiten entstehen sollte, begeisterte Ilse. Sie fing also an, ihre eigenen Vorstellungen zu dieser Idee zu entwickeln und bis zu den fertigen Bauzeichnungen hin aufs Papier zu bringen. Aber als junge Frau, die noch nicht mal ein Architekturstudium vorweisen konnte, war jeder Gedanke daran, mit diesen Plänen vorstellig zu werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und so war es schließlich ihr Vater, der mit den fertigen Zeichnungen in der Mappe nach Berlin reiste – dann aber gar nicht als Architekt eingesetzt wurde, sondern die Bauleitung für einen der Straßenabschnitte übernahm.
Bis heute wissen wir nicht, ob er überhaupt jemals die Pläne seiner Tochter vorgelegt hat, und wenn ja, was davon womöglich in die Gesamtplanung eingegangen ist – vielleicht waren es nur die Treppenhäuser, die Balkonbrüstungen, die Dachterrassen.
Aber viele Jahre später, wir waren längst in Hannover und Wolfram hatte gerade zwei Romane über die siebziger Jahre veröffentlicht, saßen wir mit unserem Literaturagenten zusammen und überlegten, welches Thema uns für ein neues Buch interessieren könnte.
Und plötzlich sagte Wolfram: „Wie wäre es mit der Geschichte meiner Mutter? Wir verändern ihren Lebenslauf so, dass die maßgeblichen Pläne für die Allee in Wirklichkeit von ihr stammen, und nennen das Ganze ‚Die Frau, die die Karl-Marx-Allee baute’.“
Wider Erwarten kam vom Agenten prompt die Antwort: „Macht eine Konzeption dazu, dann reden wir weiter.“
So haben wir also begonnen, ein Exposé zu schreiben. Aber je länger wir darüber nachdachten, wie unsere Geschichte wohl aussehen könnte, umso verworrener erschien uns unser Vorhaben. Wie viel „Wahrheit“ sollte in unserem Roman stecken? Wie sollte es uns gelingen, einen Plot zu entwickeln, der nicht nur für uns, sondern schließlich auch für unsere Leser so interessant wäre, dass sie das Ding dann wirklich bis zu Ende lesen und hinterher nicht nur sagen: „Na ja, ganz nett, aber ob nun in China ein Sack Reis umfällt oder dieser Roman geschrieben wurde, kommt letztlich aufs selbe raus.“
Auf der Suche nach einem funktionierenden Plot kam dann die Idee mit den Stigmata. In Ulrikes Familie hatte es einen entfernten Onkel gegeben, über den in der Verwandtschaft nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde, weil er Zeit seines Lebens Wundmale auf den Handflächen trug, für deren Ursache es keine Erklärung gab, zumal der Onkel es weit von sich wies, religiös oder gläubig zu sein. Aber jedes Jahr zu Ostern brachen die Wunden erneut auf, bluteten und schmerzten! Wenn wir es schaffen würden – so unsere Idee – diese Geschichte als eine Art Rahmenhandlung mit Wolframs Mutter und dem Bau der Karl-Marx-Allee zu verknüpfen, hätten wir vielleicht einen ausreichenden Spannungsbogen, der uns auch über sonst womöglich zu „trockene“ Architekturschilderungen hinweghelfen könnte.
Das Ärgerliche war allerdings, dass sich die Stigmata allen Bemühungen, sie in die Geschichte einzubauen, hartnäckig verweigerten – wie auch immer wir es drehten und wendeten, es passte einfach nicht! Und als wir am Telefon kurz mit dem Agenten darüber sprachen, bedeutete seine Antwort dann auch das unwiderrufliche Ende für Ulrikes Onkel mit dem geheimnisvollen Leiden. „Ich glaube nicht, dass ihr mit diesem Ansatz weitermachen solltet, konzentriert euch auf die eigentliche Geschichte. Die muss den Leser überzeugen.“
Und jetzt können wir es ja ruhig beichten. Es war nicht nur das Ende für den Onkel, sondern auch für „die Frau, die die Karl-Marx-Allee baute“. Wir wussten nicht weiter, wir fanden keine Lösung, wie wir den Stoff zu unserer Geschichte machen sollten. Und was tut man in einem solchen Fall, wenn man davon lebt, Geschichten zu Papier zu bringen? Richtig, man verschiebt das Ganze auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft und schreibt etwas anderes. Drei Skandinavien-Thriller sind auf diese Weise entstanden, die uns vollauf beschäftigt haben, ohne dass die Karl-Marx-Allee für uns in dieser Zeit mehr bedeutete als ein unbestimmtes Bedauern darüber, es nicht hingekriegt zu haben – und vielleicht auch nie hinzukriegen.
Bis sich der Agent dann wieder zu Wort meldete: „Ich warte immer noch auf eure Konzeption.“ Na gut, er hatte zwischendurch schon immer mal wieder nachgefragt, aber jetzt klang es so, als würde er sich nicht länger vertrösten lassen: „Ihr müsst das entscheiden. Natürlich könnt ihr weiter Krimis schreiben, aber ich würde nur ungern auf den Stoff verzichten, den ihr da habt. Ich kann euch nichts versprechen, meine aber, es wäre die richtige Geschichte zur richtigen Zeit.“
Und wer will schon seinen Agenten enttäuschen? Nein, ganz im Ernst, genau dieses fast schon erpresserische Nachhaken war es, was wir offensichtlich brauchten – wir haben uns mitsamt dem Hund im Haus eingeschlossen und geschworen, erst wieder mit Freunden oder Nachbarn zu reden, wenn die Konzeption fertig wäre. Wir brauchten ein sehr langes Wochenende und diverse Tiefkühlpizzen, aber plötzlich fügten sich alle Teile, die wir mehr oder weniger klar längst im Kopf hatten, wie bei einem Puzzle zu einem Handlungsgerüst zusammen (auch ohne den Onkel mit den Stigmata!). Wir entwickelten also eine Familiengeschichte mit einer starken Frau, die sich gegen alle Widerstände durchsetzt und ihren großen Traum verwirklicht. Und da wir ja nun schon mal dabei waren und die Tiefkühlpizzen gar nicht so schlecht schmeckten, haben wir auch noch drei Probekapitel geschrieben, um zu zeigen, auf welche Weise wir unsere Geschichte erzählen wollen.
Dann ging alles ganz schnell, unser Agent hat die Konzeption angeboten, eine Woche später hatten wir einen Vertrag – und eine Lektorin, die selber einige Jahre auf der Karl-Marx-Allee gewohnt hat. Gut sieben Monate haben wir dann gebraucht, bis der Roman fertig war.
Am Anfang war es einfach, wir haben viele kleine Geschichten eingebaut, die Wolframs Mutter über die Jahre erzählt hatte, und so zurechtgebogen, dass sie für unseren Roman passten (sowohl die Geschichten als auch Wolframs Mutter – Entschuldigung, Ilse!). Und wir hatten glücklicherweise nicht nur ihre, sondern auch die Tagebücher ihrer Mutter, die von unschätzbarem Wert für unsere Arbeit waren. Ebenso wie einige gute Freunde, die uns mit ihrem Zuspruch und wichtigen Hinweisen unterstützt haben. Aber natürlich gab es auch bei diesem Roman wieder Momente, in denen wir vollkommen festhingen und selbst ausgedehnte Spaziergänge mit dem Hund keine Lösung brachten (obwohl der Hund sein Bestes gab, um verständnisvoll für unsere Probleme zu wirken).
Eine der wirklich großen Schwierigkeiten bestand darin, dass wir ja keine Dokumentation über den Bau der Karl-Marx-Allee geschrieben haben, also auch die Schilderungen von der Planung bis zum Geschehen auf der damals größten Baustelle Deutschlands immer unserer fiktiven Geschichte unterordnen mussten. Der Spagat zwischen allen Freiheiten der Fiktion und den tatsächlichen (und für jeden überprüfbaren) Fakten hat uns viel Nerven und Zeit gekostet – aber jede noch so anstrengende Stunde, jeder Tag, jede Woche hat uns unserem Traum, den großen Traum von Wolframs Mutter als schlüssige und spannende Geschichte zu erzählen, ein Stück nähergebracht.
Und dann kam die Lektorin mit Vorschlägen für Veränderungen, Ergänzungen, Streichungen. Da ist dann zwar noch mal gleich ein ganzes Kapitel weggefallen (über ein Hotel im Harz, mit einem Auftritt von Hans Albers!), aber dafür ist ein anderes hinzugekommen. Worum es darin geht, verraten wir nicht, das müssen Sie selber lesen. Nur so viel: Es ist deutlich besser als Hans Albers im Harz! Somit sind wir vielleicht zum ersten Mal bei unseren Büchern hier wirklich auch dem Lektorat zu Dank für die hilfreiche Unterstützung verpflichtet. Und natürlich unserem Agenten für seine Beharrlichkeit. Mehr als allen anderen aber Großvater Schellhaas und Wolframs Mutter, ohne die es diese Geschichte niemals hätte geben können.
Jetzt müssen wir nur noch sehen, wie es uns gelingt, endlich mal von Ulrikes Onkel mit den Stigmata zu erzählen. Aber das wird eine ganz andere Geschichte und sicher noch viele Spaziergänge mit dem geduldigen Hund brauchen, bis wir auch dafür die Puzzleteile zusammengesucht haben. Mal ganz davon abgesehen, dass wir immer noch das Gefühl haben, unserem Agenten mit einem neuerlichen Vorstoß in diese Richtung keine große Freude zu machen …
Wir werden sehen. Nach dem Roman ist immer vor dem Roman – und vielleicht schreiben wir ja auch erstmal noch etwas ganz anderes!