Kann ein Ort Heimat sein, an den man sich kaum erinnert?

Jahrzehntelang hat die Mutter unseres Autors dazu geschwiegen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet Jugoslawiens nach Deutschland floh. Auch über ihre Wurzeln – die, der Donauschwaben im Banat – sprach sie nur selten. 70 Jahre nach ihrer Flucht beschließt Andreas Wunn, zusammen mit seiner Mutter eine Reise in die Region ihrer Kindheit zu machen: entlang der damaligen Fluchtroute, die heute als »Balkan-Route« bekannt ist. Ihre Reise führt Mutter und Sohn über Süddeutschland, Österreich und Ungarn bis nach Serbien. In unserer Fotostory zeigt Andreas Wunn Bilder von damals und heute und erzählt, mit welche Erinnerungen und Eindrücken seine Mutter die Orte ihrer Reise verbindet.

Meine Mutter im Sonnenblumenfeld an der ungarisch-serbischen Grenze.

 

„Wann immer ich an die Flucht meiner Mutter denke, sehe ich zuerst das Sonnenblumenfeld vor meinem Auge. Ich sehe es aus der Vogelperspektive, es strahlt in leuchtenden Farben. Ich sehe es auch von Nahem, Wind weht durch das Feld. Und irgendwo darin stelle ich mir meine schlafende Mutter als kleines Kind auf der Flucht vor.“

 

Klassenfoto in der Grundschule meiner Mutter in Hohenfurch.

 

„Meine Mutter kam am 13. Juli 1948 (so steht es auf dem Zettel meiner Großmutter) nach Hohenfurch, mehr als drei Jahre, nachdem sie aus ihrem Dorf Setschan in Jugoslawien fliehen musste. Zwei Jahre lang würde sie hier bleiben, hier in die erste Klasse gehen, Freundschaften schließen und sich zum ersten Mal irgendwo bewusst zu Hause fühlen.“

 

 

Meine Großmutter Rosl Loch mit ihren beiden Kindern, meiner Mutter Rosemarie und meinem Onkel Kurt in einem bayrischen Flüchtlingslager.

 

 

 

 

„Meine Großmutter Rosl war damals eine junge Frau Ende zwanzig – und sie war bereits Witwe. Auf den späteren Fotos, jenen aus der Zeit nach der Flucht, ist das Glück aus ihrem Gesicht entwichen – und es sollte zeit ihres Lebens nicht wiederkommen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Eines der wenigen Fotos, die meine Mutter aus ihrer Zeit in Hohenfurch hat, ist ein Gruppenbild auf der Treppe des Gasthofes. Es zeigt 15 Erwachsene und zwei Kinder. Die Kinder sind meine Mutter und mein Onkel Kurt – sie mit Zöpfen im Kleidchen und weißen Kniestrümpfen, er ebenfalls in weißen Kniestrümpfen und kurzer Hose mit Hosenträgern.“

 

 

Gruppenfoto vor dem Gasthaus Westermeier in Hohenfurch.

 

 

Schwarz-weiß-Bild der Familie meiner Mutter.

„»Was hat dir deine Mutter noch über deinen Vater erzählt?«, frage ich meine Mutter.

Stille.

Dann:

»Nur dass sie ihn abgeholt haben. Und dass sie ihn danach nie wiedergesehen hat. Vielleicht war das ein Fehler. Ich habe als Kind lange gedacht, er kommt vielleicht zurück.«

»Und du hast es gehofft.«

»Ich habe manchmal von ihm geträumt.

Habe geträumt, dass er irgendwie wiederkommt. Die Familie war nicht komplett. «“

 

Schwarz-weiß-Bild von meinem Großvater in der Apotheke.

 

 

„Nach seinem Studium der Pharmazie und seinem Wehrdienst bei der jugoslawischen Armee hatte sich mein Großvater in Setschan niedergelassen, geheiratet und in der Apotheke gearbeitet. Den Bildern zufolge war es eine glückliche kleine Welt.“

 

 

Meine Mutter am Mahnmal für ermordete Donauschwaben in Gakowa, Serbien.

 

 

„Wie viele Menschen in diesem Massengrab verscharrt wurden, lässt sich nicht genau sagen. Historiker gehen aber davon aus, dass im Lager Gakowa zwischen März 1945 und Januar 1948 mindestens 8500 Menschen starben, 5827 von ihnen sind namentlich dokumentiert.“

 

 

 

 

 

„Seit siebzig Jahren hat sich niemand mehr um diese Gräber mit den deutschen Familiennamen gekümmert.

Meine Mutter geht still durch die Reihen, erkennt ein paar der Nachnamen.

»Es ist deprimierend«, sagt sie, »alles so verwildert.«

»Fast wie aus einer untergegangenen Zivilisation«, sagt mein Bruder.“

 

 

Überwucherter deutscher Friedhof in Serbien.

 

„Es ist nicht weit von unserem Hotel zu dem verfallenen Fabrikgebäude, das die jugoslawischen Partisanen ab Oktober 1944 als zentrales Lager für deutsche Gefangene nutzten. Wahrscheinlich wurde mein Großvater in diesem Gebäude erschossen. Wie eine Kulisse aus einem Kriegsfilm steht es da am Straßenrand in der gleißenden Sonne.“

 

Meine Mutter vor verlassener Fabrikhalle in Zrenjanin, Serbien.

 

 

Meine Mutter vor dem Haus in Hauenstein (Pfalz), in dem sie ab 1950 aufgewachsen ist.

 

„Endlich stehen wir vor dem Haus in Hauenstein, in dem sie aufgewachsen ist. Als meine Mutter 1950 dieses Haus zum ersten Mal betrat, sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst eine Wohnung.

Nach zwei Jahren in den jugoslawischen Internierungslagern hatte sie die vergangenen drei Jahre in bayerischen Sammelunterkünften verbracht.“

 

 

 

Meine Mutter inspiziert einen alten Schreibtisch in ihrem Geburtshaus in Setschan in Serbien.

 

„»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagt meine Mutter. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass meine Eltern hier gelebt haben. Dass mein Vater hier gearbeitet hat.«

»Du lässt es nicht zu«, sage ich.

»Ich will es mir nicht ausmalen. Vielleicht würde es mich zu sehr bewegen.«“

 

Meine Mutter am Gedenkstein für das ehemalige Flüchtlingslager in Allach bei München.

 

„»Ich bin etwas enttäuscht«, sagt meine Mutter und meint den Gedenkstein.

»Warum?«, frage ich. Wir stehen nun schon ein paar Minuten hier und sind niemandem begegnet.

»Der Stein wirkt so verlassen, niemand scheint zu wissen, dass es ihn überhaupt gibt. Es kommt wohl kaum jemand her. Und die, die hier wohnen, gehen wahrscheinlich einfach an ihm vorbei.«“

 

 

Meine Mutter, mein Bruder und ich im Garten ihres Geburtshauses in Setschan, Serbien.

 

 

 

„»Ich danke euch für diese Reise«, sagt meine Mutter und umarmt mich. »Ihr müsst mir nie wieder etwas schenken. Das war das größte Geschenk.«“

 

 

 

 


 

In seinem Mutter-Sohn-Reisememoir „Mutters Flucht“ rekapituliert Andreas Wunn nicht nur die Geschichte der eigenen  Familie, die  als Mühlenbesitzer in einem Dorf friedlich mit Serben, Ungarn, Roma und Sinti zusammenlebte, sondern auch die Historie der Banater Schwaben, die vor 250 Jahren in das Gebiet zwischen Donau und Theiss auswanderten, und das Schicksal dieser deutschen Minderheit nach Ende des Weltkriegs, als viele Deutschstämmige unter Tito deportiert, erschossen oder in Internierungslagern zusammengesperrt wurden. Manchen gelang die Flucht – was keineswegs bedeutete, dass der Neuanfang in der Bundesrepublik reibungslos vonstatten ging.

Andreas Wunn

Andreas Wunn

Andreas Wunn, geboren 1975, ist beim ZDF Redaktionschef des „Morgenmagazins“ und des „Mittagsmagazins“. Für beide Sendungen steht er auch als Moderator vor der Kamera. Zuvor war er sechs Jahre lang Südamerika-Korrespondent des Senders und leitete das ZDF-Studio in Rio de Janeiro. Seine TV-Dokumentationen wurden mehrfach ausgezeichnet. Wunn lebt mit seiner Familie in Berlin.

Foto: © Selim Humbaraci

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