In Das Kinderhaus erzählt Alice Nelson die Geschichte der New Yorker Professorin Marina Hirsch, die einen zweijährigen ruandischen Jungen bei sich aufnimmt, dessen Mutter ihn verlässt. Marina selbst ist im Kinderhaus eines Kibbuzs aufgewachsen und hat die Distanz zu ihrer Mutter nie überwunden. Bei uns im Essay beschreibt Alice Nelson, wie ihre Arbeit mit Geflüchteten in New York sie zu dieser Geschichte inspirierte und was sie über die verschiedenen Spielarten und Erscheinungsformen von Mutterschaft gelernt hat.

Alice Nelson
In vielerlei Hinsicht ist „Das Kinderhaus“ auch eine Liebeserklärung an die Familie mit all ihren Geheimnissen und Verflechtungen, all ihren gordischen Knoten aus Liebe und Schmerz, und es ist eine ausführliche Betrachtung darüber, was es heißt, Mutter zu sein.
Während meiner Arbeit an Das Kinderhaus (The Children’s House) bat mich eine Bekannte, eine starke junge Frau, die unter widrigen Umständen aus Ostafrika geflohen war, bei der Geburt ihres Babys dabei zu sein. Sie hatte sonst niemanden und wollte diese Erfahrung nicht alleine durchstehen müssen. Nach der Entbindung ging es der Mutter sehr schlecht. Sie war nicht in der Lage, das Neugeborene zu halten, sodass ich im Krankenhaus mit diesem winzigen, minutenalten kleinen Mädchen auf dem Arm dasaß und seine Haut auf meiner spürte. Dieses Baby war nicht meins, aber die Welle von Liebe und Geborgenheit, die ich empfand, war überwältigend. Dieses Erlebnis beeindruckte mich zutiefst und half mir, einiges hinsichtlich meines Romans klarer zu sehen.
Diese reine, alles überstrahlende Liebe, die man für Kinder empfinden kann, die nicht die eigenen sind, ist der rote Faden, der sich durch Das Kinderhaus zieht. Ich bin selbst Stiefmutter und habe mich immer wieder um Kinder anderer Frauen gekümmert; was mich interessiert, sind alle Spielarten und Erscheinungsformen von Mutterschaft, die Arten und Weisen, wie Familien auseinanderbrechen und neu entstehen können, sowie der Trost, den wir manchmal bei Menschen finden, die nicht mit uns verwandt sind.
Im Mittelpunkt des Romans steht ein kleiner ruandischer Junge namens Gabriel. Seiner Geburt geht eine katastrophale Geschichte voraus, die einen langen Schatten auf sein Leben wirft, zumal seine Mutter aufgrund des tiefen Traumas, das sie während des ruandischen Völkermords erlitten hat, kaum in der Lage ist, ihm ihre Liebe zu zeigen. Er ist erst zwei Jahre alt, aber die Spuren dieser Vernachlässigung werden ihn nie loslassen. Unsere unerfüllten Kindheitsbedürfnisse bleiben für immer bei uns, sie sind eine gewaltige Heimsuchung. Dass sich die Hauptfigur des Romans, Marina, so stark von dem Gedanken angezogen fühlt, diesen kleinen Jungen zu beschützen, als sich ihre Wege kreuzen, liegt unter anderem daran, dass sie in ihm ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Verlust widergespiegelt sieht. Sie will ihn retten, und zwar auf eine Weise, auf die andere sie nicht haben retten können.
Aber eine solche Art von Rettung verläuft niemals komplikationslos und ist niemals frei von unabsehbaren Konsequenzen für alle Beteiligten. Das habe ich durch meine Arbeit mit Geflüchteten aus nächster Nähe gelernt.
Ich habe mehrere Jahre in New York gelebt – genauer gesagt in Harlem, in eben jenem braunen Sandsteingebäude, in dem der Roman spielt – und in jener Zeit neu eingetroffene Geflüchtete und Asylbewerber aus der ganzen Welt betreut. Es herrschten Armut und Not, wie ich sie mir in einer der reichsten Städte der Welt nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich eine mexikanische Familie in ihrer Mietunterkunft besuchte. Sieben Familien hausten eingepfercht in dieser winzigen Einzimmerwohnung. Einunddreißig Menschen lebten da. Der Wohnraum der Familie, die ich aufsuchte, bestand aus der unteren Hälfte eines Etagenbettes. Sie hatten ein geblümtes Laken davorgehängt, um wenigstens ein kleines bisschen Privatsphäre zu haben. Eine andere Familie, die ich besuchte, hatte kein Bett für das Baby, das sie im folgenden Monat erwartete; sie zeigten mir die Schublade, die sie mit Stoff ausgekleidet hatten, damit es darin schlafen könne. Frauen erzählten von Massakern, Folterungen oder extremem Terror, während wir gemeinsam auf Termine bei Einwanderungsanwälten, vor Essensausgaben oder in Krankenhäusern warteten. Geschichten von Auswanderung, Verlust und Exil durchziehen meine eigene Familiengeschichte, aber diese Welt des Schreckens und der Entbehrung war eine ganz neue für mich.
Was mich interessiert, sind alle Spielarten und Erscheinungsformen von Mutterschaft, die Arten und Weisen, wie Familien auseinanderbrechen und neu entstehen können, sowie der Trost, den wir manchmal bei Menschen finden, die nicht mit uns verwandt sind.
Während ich den Familien half, dieses neue unübersichtliche Leben, das sie in New York erwartete, zu meistern, bekam ich Geschichten von tiefsten Traumata und größtem Durchhaltevermögen zu hören. Ich schloss dauerhafte Freundschaften und lernte viel mehr, als ich mir je hatte vorstellen können. All diese Erfahrungen flossen in Das Kinderhaus ein, auch wenn ich den Roman erst einige Jahre später schreiben sollte.
Es sind viele Männer und Frauen, deren Geschichten und Erfahrungen mich zur Figur der Constance, der ruandischen Überlebenden des Völkermords inspiriert haben. Allesamt Personen, die eine der schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte überlebt haben, in neue Länder und neue Leben überführt wurden und dennoch nie aus dem Schatten ihrer traumatischen Erlebnisse treten können. Für viele Menschen entstellt dieser Schatten – der lange Nachhall eines Traumas – die Existenz, die nach der Katastrophe kommt. Meine Arbeit hat nicht nur mein Bewusstsein für das vielschichtige Phänomen der Vererbung von Traumata geschärft, sondern mich auch mit Fragen der Resilienz vertraut gemacht. Welche Kräfte halten uns zusammen? Was bewegt Menschen dazu, angesichts enormer Verluste weiterzuleben, neue Leben zu erschaffen?
In vielerlei Hinsicht ist Das Kinderhaus auch eine Liebeserklärung an die Familie mit all ihren Geheimnissen und Verflechtungen, all ihren gordischen Knoten aus Liebe und Schmerz, und es ist eine ausführliche Betrachtung darüber, was es heißt, Mutter zu sein.
Mich interessiert, was passiert, wenn das Muttersein scheitert, aber ich bin ebenso fasziniert davon, wie wir Trost in der Welt suchen, wenn unsere Bedürfnisse von unseren Eltern nicht gestillt werden; wie wir nach Heilung streben, wenn etwas in diesen grundlegenden Beziehungen irgendwie schiefgegangen ist.
Es gibt alle Arten von Liebesbindungen innerhalb von Familien und Gemeinschaften, die uns eine Stütze sein können. Mich beschäftigt, wie die mütterliche Liebe biologische Grenzen überwinden kann.