Frank Richter: „Der Osten muss nicht so werden wie der Westen, er darf anders sein.“

„Ich habe den Backstage-Bereich der ostdeutschen Gesellschaft beleuchtet und versucht, auf wenigen Seiten zu erklären, warum manche Dinge ganz anders laufen als im Westen. Das dürfen sie nämlich.“ Wir haben mit dem Theologen und Bürgerrechtler Frank Richter über sein aktuelles Buch „Gehört Sachsen noch zu Deutschland?“ gesprochen. Warum gerade jetzt eine wichtige und wertvolle Zeit in der (gesamt)deutschen Nachkriegsgeschichte ist, erklärt er in diesem Gespräch.

Frank Richter, resonanzboden, Interview, Ullstein

Wir müssen uns politisch engagieren, denn ich möchte nicht, dass die neuen Rechten in Sachsen regierungspolitische Verantwortung übertragen bekommen.

Herr Richter, genau vor einem Jahr haben Sie auf der Leipziger Buchmesse Ihr erstes Buch „Hört endlich zu!“ vorgestellt. Was ist seither passiert?

Ein Schlüsseltag war der Montag nach der Bundestagswahl 2017, als klar war, dass die AfD in Sachsen die stärkste politische Kraft geworden ist. Ich bin weit davon entfernt, über die Motive jedes einzelnen AfD-Wählers ein Urteil abgeben zu können oder die Sympathisanten in toto in die rechte Ecke zu stellen. Viele, die ihr Kreuzchen bei dieser Partei machen, tun dies aus Empörung, aus Wut, aus Protest, weil sie Fragen haben, die sie bei anderen Parteien nicht beantwortet bekommen. Gleichwohl halte ich die politischen Drahtzieher, die Ideologen im Lager der neuen Rechten, die auch für die AfD maßgeblich Politik machen, für gefährlich.

Diese Menschen wollen ganz offensichtlich eine andere Republik – keine liberale, sondern eine autoritäre. Keine offene, vielfältige Gesellschaft, sondern eine völkische. Das will ich nicht. Ich glaube, das wollen viele nicht, aber der Protest dagegen muss sich politisch formieren. Ich habe letztes Jahr im Oberbürgermeister-Wahlkampf schon mal die Erfahrung gemacht, was es heißt, eine hoch politisierte und emotional aufgeladene Gesellschaft demokratisch mitzugestalten.

Was ist in diesem Jahr sonst noch passiert? Ich habe ein zweites politisches Buch geschrieben, halte viele Vorträge und kann sagen, dass sich mein Leben stark politisiert hat. Die SPD hier in Sachsen ist auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich auf ihrem Ticket für den nächsten Landtag kandidieren möchte, auch wenn ich parteilos bin.

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe das Angebot angenommen. Nun ist wieder Wahlkampf.

Wie ist das für Sie, mit einer Partei zusammenzuarbeiten? Bislang kannte man Sie als vermittelnde Person, als „Pegida-Versteher“.

Ich persönlich brauche keine Partei, um mich politisch zu engagieren. Wenn ich aber die Parteien betrachte, die zur Auswahl stehen, dann ist mir die SPD ganz klar am nächsten. Insofern gehe ich auch gerne und aus Überzeugung für die SPD in diesen Wahlkampf. Es gibt auch viele Menschen, die eine tatsächliche oder unterstellte totale Identifikation mit einer Partei nicht vollziehen wollen. Wenn man das nur als Defizit beschreibt, dann beschädigt man das Demokratische in dieser Gesellschaft. Man sollte es als Positivum beschreiben, dass viele Menschen unterwegs sind zu einer Partei oder mit einer Partei sympathisieren, ohne einzutreten, oder dass sie sich in anderen Formen am politischen Meinungsbildungsprozess beteiligen.

Ich bin froh, dass es Parteien gibt. Das sind Politikmaschinen. Parteien müssen ihrerseits begreifen, dass es viele Menschen gibt, die einen Eintritt als letzten Akt der Zustimmung nicht vollziehen, sondern – wie man in der Theologie sagt – sich in der „Vorhalle des Allerheiligsten“ aufhalten wollen. Das ist doch auch okay. Diese Haltung vertreten die meisten Menschen in unserem Land und wir sollten sie deshalb nicht kritisieren, sondern sie einladen, sich politisch einzubringen.

Sie sagen, viele Menschen wollen sich „noch nicht“ für den Eintritt in eine Partei entscheiden. Wie wichtig ist es denn, sich heutzutage öffentlich zu einer bestimmten politischen Haltung zu bekennen?

Mit ein wenig Abstand betrachtet müssen wir feststellen – auch wenn das nicht leicht fällt –, dass viele Menschen, die mit der AfD sympathisieren oder in die AfD eingetreten sind, es uns vormachen: Viele haben sich in der AfD oder wegen der AfD politisiert. Darüber zu klagen, bringt nichts. Wer nicht will, dass dieses Land ein AfD-Land wird, muss sich seinerseits politisch engagieren. Sei es, indem er in eine andere Partei eintritt oder eine Bürgerinitiative gründet oder den Wahlkampf unterstützt. Das ist nötig. Wenn man es genau betrachtet, ist dies eine der wichtigsten und wertvollsten Zeiten Deutschlands in der Nachkriegsgeschichte, weil dieses Land seine demokratische Gestalt neu erobern bzw. gestalten und entwickeln muss. Demokratie ist eine Herrschafts- und Gesellschaftsordnung, die von jeder Generation neu gelernt werden muss. Learning by doing ist ein durchaus effektives Lernkonzept.

Was wir sehen, ist nicht einfach nur ein Pendelausschlag nach rechts, es ist die aufziehende Gefahr einer rechten Diktatur.

Frank Richter Gehört Sachsen noch zu Deutschland

Frank Richter auf der Leipziger Buchmesse.

Der Titel Ihres ersten Buches ist ein Appell: „Hört endlich zu!“. Ihr aktuelles Buch „Gehört Sachsen noch zu Deutschland?“ stellt dagegen eine recht provokante Frage. An wen richten Sie sich? Was wollen Sie erreichen?

„Hört endlich zu!“ war eine allgemeine Aufforderung an alle, auch an mich selbst. Wir brauchen eine vernünftige Form des Sprechens, Hörens und des Kommunizierens. Ich erlebe nach wie vor sehr viele vergiftete, simulierte, falsche und oberflächliche Gespräche und erkenne, dass viele Menschen einander gar nicht verstehen wollen, sondern die eigene Wahrheit ausschließlich behaupten oder diese den anderen wie einen kalten Waschlappen um die Ohren schlagen wollen. Das kann ja wohl kaum ein vernunftbegabtes Verhalten in einer demokratischen Gesellschaft sein. Das erste Buch war also ein Appell an uns alle.

 

Das zweite Buch ist ein Warnsignal; es will sagen: Hier läuft etwas in die falsche Richtung. Mehr muss man tatsächlich auch nicht aus dem Buch herauslesen. Ich habe Erfahrungen zusammengetragen, ich habe den Backstage-Bereich der ostdeutschen Gesellschaft beleuchtet und versucht, auf wenigen Seiten zu erklären, warum manche Dinge ganz anders laufen als im Westen. Das dürfen sie nämlich. Der Osten muss nicht so werden wie der Westen, er darf anders sein. Aber warum er anders ist, das muss man erklären. Und weil er anders ist, entwickeln sich manche politischen Dinge im Osten auch anders. Da ist vieles nur oberflächlich benannt oder beschrieben worden, das müsste man alles viel tiefgründiger tun, aber mir ging es in erster Linie darum, vor den Wahlen im Osten ein Warnsignal zu senden.

In Ihrem Buch heißt es: „Von einem Rechtsruck zu sprechen, verharmlost die Gefahr.“ Worin besteht die Gefahr bei dieser Bezeichnung?

Die Demokratie ist eine offene Gesellschaftsordnung, in der sich politische Richtungen ablösen können. Wenn man es mit der Liberalität und der Vielfältigkeit übertreibt und irgendwann jede Ordnung verliert, dann ist es nicht verwunderlich, dass es einen Pendelausschlag in die andere Richtung gibt, der etwas mehr Autorität und etwas mehr Ordnungspolitik einfordert. Etwas mehr Definition dessen, was wir miteinander tun und was wir lassen wollen. Demokratie pendelt als Herrschafts- und Gesellschaftsordnung immer ein wenig hin und her, das darf sie und das ist ja auch gerade das Schöne an ihr: Sie ist nicht festgelegt. Die Gefahr entsteht spätestens dann, wenn politische Kräfte auf den Plan treten, die das Demokratische, das Liberale, das Vielfältige, das Offene mit den Mitteln des Demokratischen abzuschaffen versuchen. Das lässt sich nur mit großem Aufwand beweisen, weil sich die Feinde der Demokratie demokratischer Instrumente bedienen. Die Indiziendichte ist mittlerweile allerdings so stark geworden, dass aller Grund dafür besteht, Alarm zu schlagen. Was wir sehen, ist nicht einfach nur ein Pendelausschlag nach rechts, es ist die aufziehende Gefahr einer rechten Diktatur.

Wer nicht will, dass dieses Land ein AfD-Land wird, muss sich seinerseits politisch engagieren.

Wenn man eine Gefahr aufziehen sieht, dann sollte man Alarm schlagen. Wenn es eine große Gefahr ist, dann sollte man sehr deutlich und laut Alarm schlagen. Mir ist es lieber, man übertreibt in einem solchen Fall, als dass man den Kopf in den Sand steckt. Auch muss man damit rechnen, dass der Überbringer der schlechten Nachricht für die schlechte Nachricht verantwortlich gemacht wird. Diese Erfahrung habe ich bereits gemacht. Vertreter der neuen Rechten haben schon wenige Stunden, nachdem mein Buch erschienen war, mehrere Passagen kritisiert und blödsinnige Vorwürfe erhoben.

Was sind in Ihren Augen die nächsten Schritte, die nun auf politischer und gesellschaftlicher Ebene anstehen? 

Man muss verhindern, dass die neue Rechte (und damit meine ich auch die AfD) in Regierungsverantwortung kommt. Da gehört es sich, dass die anderen Parteien zusammenstehen. Sie sollten ihr die Aufmerksamkeit entziehen. Außerdem brauchen wir neue und gute Geschichten, Ideen und Visionen über die Art, wie wir in Zukunft friedlich und demokratisch miteinander leben wollen, auch die Art, wie wir im Osten miteinander leben wollen.

Diese Ideen entstehen nicht am Schreibtisch, sie entstehen an der Basis, dort wo sich Menschen zusammentun und gemeinsam Zukunftsstrategien entwickeln. Das ist dringend geboten. Wenn die Bundesregierung meint, einen großen Teil des Landes abhängen zu können, dann bekommt sie kein ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtstaatliches Problem. Ich denke, dass neu überleget werden muss, was zur nachhaltigen Entwicklung des Ostens gesellschaftlich, politisch und ökonomisch zu tun ist.

Vielen Dank für das Interview.

 

Das Interview führte Marie Krutmann


 

Spätestens seit den Pegida-Aufmärschen und den Exzessen von Heidenau, Freital und Chemnitz hat sich das Bild von Sachsen über die deutschen Grenzen hinaus verdunkelt. Statt an Frauenkirche, Friedliche Revolution und Gemütlichkeit denken viele jetzt an Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Der Freistaat ist zum Synonym für die Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft geworden. Wofür steht der Ruf „Wir sind das Volk!“ im Jahr 2019? Droht die Abkehr der Bürger von der Demokratie? Der engagierte Bürgerrechtler und Theologe Frank Richter führte 2018 einen spektakulären Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters in Meißen. Aus eigener Erfahrung berichtet er über eine beunruhigende Entwicklung, welche die politische Landschaft der Bundesrepublik tiefgreifender verändern kann, als wir ahnen.

Frank Richter

Frank Richter

Frank Richter (* 20. April 1960 in Meißen) ist ein deutscher Theologe und seit dem 1. Februar 2017 in der Geschäftsführung der Stiftung Frauenkirche in Dresden. In der Friedlichen Revolution in der DDR wurde er als Gründer der Gruppe der 20 in Dresden bekannt. Auf Vorschlag des sächsischen Kultusministeriums war Richter von 2009 bis Anfang 2017 Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

Foto: © SLpB

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