Wozu Freundschaft, wenn alles möglich ist?

In „Dschungel“ erzählt Friedemann Karig die Geschichte zweier Freunde. Als 15jährige unzertrennlich wissen sie als junge Erwachsene kaum noch etwas voneinander. Bis der Erzähler sich eines Tages auf die Suche nach diesem, seinem besten Freund macht, der im kambodschanischen Dschungel verschwunden ist. Ist er es wert, das geregelte Leben daheim, den gutbezahlten Job und die langjährige Liebesbeziehung aufzugeben? Ist er es ihm schuldig ihn zu finden? Wie weit kann eine Freundschaft gehen? Friedemann Karig analysiert in diesem Essay, was Freundschaft in Zeiten der Möglichkeiten bedeutet.

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„Wie weit kann eine Freundschaft gehen?“ – Friedemann Karig über die Freundschaft in Zeiten der Möglichkeiten.

Der Satz in „Dschungel“, über den ich am wenigsten nachdenken musste, ist der allererste. Die Widmung lautet: Für meine Freunde. Mit ihr beginnt die Geschichte einer Freundschaft, einer überlebensgroßen, literarisch aufgeputschten, ins Extrem gesteigerten Freundschaft. Der Erzähler folgt seinem verschwundenen Freund Felix nach Kambodscha, tief in den Dschungel, weil die beiden seit Kindheitstagen eine Beziehung verbindet, die man am besten mit den Termini politischer Tyrannei beschreibt: totalitär, absolut, diktatorisch. Sie hatten niemals eine Wahl gegen das gemeinsame Schicksal – und damit auch nicht gegeneinander. „Eine Freundschaft“, verrät ein Khmer dem Erzähler „wiegt nur so schwer wie die in ihr behüteten Geheimnisse“. So lautet ein altes Sprichwort seiner Kultur, in der Freunde immer auch als „Brüder“ gleichgesetzt werden. Nicht zwei Brüdern im Blute, sondern Brüdern in einem dunkleren Sinn folgen wir tiefer in ihre gemeinsame Vergangenheit, erinnert von einem Erzähler, der der Leserin, dem Leser langsam, aber sicher immer unglaubwürdiger erscheint. Denn wer sagt, dass er keine Schuld trage am Verschwinden des Freundes? Ist er vielleicht erst losgefahren, um etwas wieder gut zu machen? 

Ich habe Freunde, die beginnen ein Gespräch grundsätzlich mit einer Entschuldigung, mindestens einer Erklärung, warum es erst jetzt stattfinde, nur per Sprachnachricht oder nur fünf Minuten dauern könne, mindestens aber wo sie gerade seien (Baumarkt, ICE hinter Kassel), also warum es eigentlich kein optimaler Zeitpunkt wäre, aber besser als wieder nicht kommunizieren.

Solch eine tonnenschwere Freundschaft, unter dem Druck zu bittersüßer Abhängigkeit geworden, habe ich mir, wenn ich ehrlich bin, lange ersehnt. Und ersehne sie mir manchmal heute noch. Wenn ich auch inzwischen weiß, dass außerhalb von Büchern diese Bande nur sehr selten derart fesseln, und wenn, dann steht uns heute ein Arsenal an Begriffen und Pathologisierungen zur Verfügung – übergriffig, co-abhängig, manipulativ, toxisch. Zurecht. Freundschaft, soll sie funktionieren, also ein Individuum mit einem anderen verweben, muss Luft zum Atmen lassen. Um überhaupt ein „significant other“ für jemand anderen zu sein, muss ich ich sein dürfen. Die meisten unserer Freundschaften sind lässiger, freier und nicht trotzdem, sondern gerade deshalb im Alltag unheimlich anstrengend und schwierig zu pflegen. Schon allein das Vokabular, das wir gestressten, immer unter Zeitnot und damit Priorisierungszwang leidenden Individualisten lustvoll nutzen, zeigt eine Ökonomisierung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Man muss an Freundschaften arbeiten, in sie investieren, sie aufbauen und pflegen. Wo früher vor allem Stände, Berufe, Wohnort, Konfessionen über Freundschaften entschieden, wo Familie noch die erste und letzte Peer Group stellte, sind wir heute frei. Doch Freiheit in Kombination mit einer endlichen Ressource (Zeit) ergibt Knappheiten, ergibt Konflikte, die wiederum den Wert der Beziehung an sich angreifen. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat dies in mehreren Schriften („Warum Liebe weh tut“ u.a.) eindrucksvoll nachgewiesen – für die romantische Beziehung. Für die Freundschaft fehlt ein theoretischer Rahmen noch. Zählt man einmal grob durch, erscheinen die Studien, Essays, Texte und Streitschriften zum Thema Freundschaft denen zur Liebe zahlenmäßig so unterlegen, man könnte meinen, es wäre alles in Ordnung mit der Freundschaft in Zeiten der Möglichkeiten. Das ist keineswegs so. Und wir alle kennen die Verteilungskämpfe.

Doch selbst wenn wir alles zu geben bereit sind: Was vermag Freundschaft überhaupt?

Ich habe Freunde, die beginnen ein Gespräch grundsätzlich mit einer Entschuldigung, mindestens einer Erklärung, warum es erst jetzt stattfinde, nur per Sprachnachricht oder nur fünf Minuten dauern könne, mindestens aber wo sie gerade seien (Baumarkt, ICE hinter Kassel), also warum es eigentlich kein optimaler Zeitpunkt wäre, aber besser als wieder nicht kommunizieren. Darauf folgt, besonders wenn man sich endlich einmal wieder sieht, also etwas unternimmt, essen geht oder einen anderen akuten Anlass (Geburtstag, Kultur, Sport) nimmt, sich persönlich zu treffen, ein Aufholen des Verpassten, ein Abhecheln der geteilt erlebten Ereignisse, ein „Was bisher geschah“ des eigenen Lebens seit Zeitpunkt X = letzter Kontakt. Man sprintet miteinander durch ein Leben, klatscht ab mit „jetzt erzähl aber du mal“, und dann, vielleicht, pustet man durch in einigen kostbaren Minuten ohne Auftrag, erlebt fast so etwas wie einen gemeinsamen Alltag oder gar geteilte Langeweile, Schweigen, das heimliche Grundnahrungsmittel geglückter Beziehungen. Wahrscheinlicher stolpert man in ein Thema, eine Diskussion, reibt sich, wird warm und bereut es ambivalenter Weise fast, über die Klimakatastrophe oder den besten Hummus der Stadt palavert zu haben und nicht über innigere Probleme, obwohl man doch genau wegen dieses Palavers befreundet ist. 

Ein ironisches Augenzwinkern später trennt man sich wieder, bis zum nächsten „Zeitfenster“, durch das man gemeinsam auf diese wahnsinnige Welt blickt. „Ich freue mich dich zu sehen“, beendet ein anderer Freund jedes Gespräch, vermutlich um den Schmerz der nie genügenden Nähe zu mildern. Ein dritter Freund versucht die Technik des gezielten „Blocker setzen“ in seinen übervollen Kalender, um sich Stunden oder Tage freizuhalten für gemeinsame Aktivitäten, was ein Zeichen fortschreitender Hilflosigkeit bleibt, weil alle Parteien wissen: wenn etwas wirklich Wichtiges dazwischen kommt, verschiebt man diese Blocker sowieso, denn sie sind letztlich immer verhandelbar, genau wie unsere Freundschaften. So führt unsere ständige Erreichbarkeit auf mehreren Kanälen, unsere flexiblen Lebensentwürfe nicht zu stabilerer Kommunikation voller Wertschätzung und Empathie. Sondern zu einem systematischen schlechten Gewissen, sich nicht „oft genug“ gemeldet zu haben, nicht da zu sein, zu fehlen. So werden unsere vermeintlich lockeren, selbstbestimmten, aber eben nur sehr lose verbundenen Soziotope zum fruchtbaren Boden für einen Urwald von (latentem oder explizitem) Zweifel bis hin zu schwerwiegender Schuld. 

Freundschaft definiert sich immer auch über die Enttäuschungen und deren Antizipation, und es gehören zwei dazu – einer, der enttäuscht, einer, der enttäuscht wird.

Das wäre alles nicht so schlimm, würde nicht die Freundschaft immer wichtiger werden. Wenn kaum jemand mit seiner großen Liebe bis zum Ende zusammenbleibt, die serielle Monogamie längst Normalität ist, man sich für jede Lebensphase einen Partner sucht, sind vielleicht die Freunde die eine große Konstante im Leben. Umso wichtiger, ihnen heute gerecht zu werden. Nur wie? Wie weit kann eine Freundschaft gehen? Ist sie nicht immer ungerecht, will nicht immer eine mehr als die andere, fühlt sich einer zurückgesetzt, vernachlässigt? 

»Er ist mein Freund.«, begründet der Erzähler seiner Freundin, dass er sofort los muss, nach Kambodscha, Felix suchen. 

»Bist du dir sicher?«, fragt sie.

»Felix, der Typ mit den Locken. Du erinnerst dich?«

»Nein, ich meine: Bist du auch sein Freund?«

Und woher will er das überhaupt wissen, wenn er den Verschwundenen nicht aufspürt, zur Rede stellt, die Augenhöhe der Freundschaft zur Not erzwingt? Seine abenteuerliche Suche ist auch der ultimative Beweis: Wer so treu folgt, muss ein guter Freund sein. 

Wer sich immer wieder unfreundschaftliches Benehmen gefallen lässt, tut das vielleicht auch aus dem Wunsch nach Überlegenheit, nach Macht, nach Kontrolle.

Doch selbst wenn wir alles zu geben bereit sind: Was vermag Freundschaft überhaupt? Überschätzen wir sie und damit uns nicht ständig, wir kleinen Narzissten, die immer noch mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung wollen? Kann man einen Menschen ändern, gar retten? Wollen wir das überhaupt? Freundschaft definiert sich immer auch über die Enttäuschungen und deren Antizipation, und es gehören zwei dazu – einer, der enttäuscht, einer, der enttäuscht wird. Neben dem fehlerbehafteten Freund strahlt man heller. Wer sich immer wieder unfreundschaftliches Benehmen gefallen lässt, tut das vielleicht auch aus dem Wunsch nach Überlegenheit, nach Macht, nach Kontrolle. Er oder sie hat die moralische Hoheit in der Freundschaft, und der andere geht den Deal ein, eine parasitäre Symbiose. So sehen wir auch in „Dschungel“ zwei Menschen dabei zu, wie sie fallen und sich im Fallen aneinander festklammern, unsicher, wer wen gestoßen hat.

Und dennoch, es gibt keine Alternative zur Loyalität, Zuneigung, Fürsorge einer tiefen Freundschaft. „Die Hölle sind die anderen“, schrieb Sartre. Der Himmel aber auch. Was ist die Lösung?

„In einer Freundschaft gilt keine Menschenwürde?«, fragt Felix in „Dschungel“, lange bevor er verschwindet.

„Würde – das war doch für dich immer nur ein Konjunktiv“, antwortet der Erzähler.

Liebevolle Gemeinheiten mit einem wahren Kern, sie sind vielleicht die einzige Rettung des zerbrechlichsten, schönsten Zustandes der Welt: einander wirklich nah zu sein. Oder um es mit dem Erzähler von „Dschungel“ zu sagen, diesem besten, schlechtesten Freund der Welt: Freunde, die lachen, beißen nicht.


 

Er muss ihn finden. Seinen besten Freund, der schon immer auf der Jagd nach dem Extremen war - nie wird er vergessen, wie euphorisiert Felix neben ihm vor dem felsigen Abgrund stand, unter ihnen ragten die Klippen hervor wie aufgeklappte Messer. Doch selbst Felix sieht es nicht ähnlich, auf einer Reise in Asien spurlos zu verschwinden. Für den Erzähler steht fest: Nur er kann das rätselhafte Abtauchen aufklären. Dafür setzt er sogar seine große Liebe aufs Spiel. Schließlich verbindet ihn mit Felix eine besondere Freundschaft. Und ein Geheimnis, das sie ebenso eint wie trennt. Immer tiefer dringt der Erzähler auf seiner Suche in das wilde Kambodscha vor, in dieses nie genesene Land ohne Gedächtnis, immer verzweifelter durchforstet er seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was passiert sein könnte. Bis er begreift, dass er den Freund nur retten kann, wenn er mit ihm verschwindet.

Friedemann Karig

Friedemann Karig

Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für Süddeutsche Zeitung, SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er  moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format „Jäger&Sammler“ von „funk“, dem jungen Online-Angebot von ARD&ZDF. „Dschungel“ ist sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch „Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie“. Karig lebt in Berlin und München.

Foto: © Paul Ripke

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