Bierzelt und Neonlicht – Was macht eine gelungene Lesung aus?

Wie holt man bei einer literarischen Lesung sein Publikum ab und vermeidet, dass es gedanklich abdriftet? Mithilfe von Requisiten, Schauspieleinlagen, interaktiven Fragerunden? Ulrike Gerold und Wolfram Hänel haben den Veranstaltungsbetrieb unter die Lupe genommen. Welche Erfahrungen sie gemacht haben und wie sie ihre eigenen Lesungen gestalten, erfahren Sie hier.  

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Bei Lesungen gilt das Gleiche wie bei Beton: Es kommt drauf an, was man draus macht. Lesungen sind nicht per se eine schöne Sache, ganz egal wie ehrenwert die gute Absicht ist, dem Zuhörer im direkten Kontakt mit dem Schriftsteller die Faszination der Bücherwelt nahezubringen.

Stellen Sie sich nur mal vor, da hinterm Lesepult hockt dann einer, der sich verzweifelt und stotternd durch seine eigenen Sätze kämpft, der noch nicht mal Blickkontakt aufnimmt oder ein paar persönliche Worte für seine Zuhörer hat, sondern stattdessen deutlich den Eindruck erweckt, dass er nur den Moment herbeisehnt, in dem es endlich vorbei ist. Kurz: Der ungefähr so offen wirkt wie … eben eine Betonwand. Und mal ganz ehrlich – würden Sie, nachdem Sie das erlebt haben, wirklich das Risiko eingehen, noch ein zweites Mal eine Lesung zu besuchen? Wohl eher nicht. Und Gleiches gilt für die Selbstdarsteller auf der Bühne, die womöglich sogar gut und „mit Betonung“ (Zitat von Harry Rowohlt) lesen können, aber sich in ihrer Eitelkeit unerträglich spreizen, während sie den kunstvoll gebundenen weißen Seidenschal affektiert über die Schulter werfen und abschließend solche Plattitüden von sich geben wie: „Zur Zeit (Kunstpause) schmecke ich (erneute Kunstpause) noch an den ersten Sätzen meines neuen Romans, der, davon bin ich überzeugt (Kunstpause und Seidenschalwurf), etwas zum Ausdruck bringen wird, was auch die schärfsten Kritiker nur als (Kunstpause) wahrhaftige Literatur bezeichnen können (Seidenschal).“

Auch den Kollegen möchte man kein zweites Mal hören, und schon gar nicht seinen neuen Roman lesen, oder?

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kleinen Genrewechsel hin zum Kinder- oder Jugendbuch und den Schullesungen, die tatsächlich vielen (Kinderbuch-)Autoren das Überleben auf dem Buchmarkt sichern. Schullesungen bedeuten, dass da im Publikum nicht zwangsläufig Menschen sitzen, die freiwillig gekommen sind, um sich etwas vorlesen zu lassen. Die Imponderabilien (schönes Wort!) dieser Art von Lesungen sind vielfältig, von der Pausenhalle als nicht wirklich überzeugendem Leseort und Schülern, die mangels Vorbereitung nicht wissen, ob da ein Schauspieler/Musiker/Comedian oder Clown auftritt, bis hin zum Klassenkasper, der die Gunst der Stunde nutzt, um alle Aufmerksamkeit von der Bühne weg und auf sich selbst zu ziehen. Um einen beliebten Begriff aus der Pädagogik zu bemühen: Diese Zielgruppe will überhaupt erstmal „abgeholt“ werden, und man kann sich seinem Text und seiner Geschichte noch so sicher sein, es hilft alles nichts, so lange es nicht gelingt, einen Kontakt zum Publikum herzustellen.

Ich erinnere mich noch, dass ich bei meiner ersten Lesung für Schulkinder die (meiner Meinung nach geniale) Idee hatte, einen Hund mit auf die Bühne zu bringen. In meiner Geschichte ging es um einen Hund, ich habe mir also von Freunden einen Vierbeiner ausgeliehen, der den Illustrationen tatsächlich zum Verwechseln ähnlich sah. Und natürlich hat der Hund mir die Schau gestohlen, es war völlig egal, ob ich nun da war oder nicht oder was ich gelesen habe, alle Augen hingen wie gebannt an dem Zottelvieh und haben jede noch so kleine Reaktion meines „Partners“ mit begeisterten Beifallsstürmen quittiert! Also nie wieder eine Lesung mit Hund, das war damit klar.

Und auch mein nächster Trick, um die Aufmerksamkeit zu fesseln, erscheint mir heute eher albern, hat aber deutlich besser funktioniert als der Hund. Ich habe quasi als „Vorspiel“ zur Lesung eine Reihe von Requisiten präsentiert, einen verbeulten Hut, eine Krawatte, eine Perücke, und die Schüler sollten Ideen sammeln, welche Art von Geschichten man über diese Dinge wohl schreiben könnte. Für den Fall, dass es zu laut wurde, hatte ich auch immer noch einen Eierkarton dabei – um dem jeweils größten Störenfried unerwartet ein Ei zuzuwerfen: „He, du, pass auf, fang mal!“ Und glauben Sie mir, selbst die schlimmsten Rabauken haben sich nach Kräften bemüht, das Wurfgeschoss so vorsichtig wie möglich in ihre Hände zu bekommen – und erst dann gemerkt, dass es ein Requisiten-Ei war, aus Plastik!

Andere Kollegen haben andere Tricks entwickelt, um vor Schulklassen bestehen zu können, sicher ist, dass jeder, der diese harte Schule durchgemacht hat, besser als jeder Belletristik-Autor weiß, wie man eine Lesung nicht nur wohlbehalten überlebt, sondern das Publikum auf seine Seite zieht.

Und somit ist auch bei den „großen Zuhörern“ mancher Trick erlaubt, wenn er dazu dient, das Publikum zu unterhalten und zu erfreuen – wir haben mal eine Irland-Lesung gemacht, bei der wir eine Flasche Whiskey auf dem Tisch stehen hatten, deren torfig-braunem Inhalt wir während der Lesung reichlich zugesprochen haben. Selbst die Presse war von unserer Trinkfestigkeit beeindruckt. Aber um dem Verdacht vorzubeugen, dass alle Schriftsteller auch Trinker sind: Wussten Sie eigentlich, dass schwarzer Tee zumindest aus einer gewissen Entfernung und bei Lampenlicht dem guten irischen Whiskey täuschend ähnlich sieht? Nun gut, Harry Rowohlt hat zu guten Zeiten das Ganze mit echtem Whiskey gemacht, aber das war eben auch Harry Rowohlt, ist nicht jedermanns Sache und kann schnell zur ungewollten Katastrophe führen, wenn der Schriftsteller dann beim Lesen die Konsonanten nicht mehr richtig voneinander zu trennen vermag.

Nun haben wir ja ohnehin den großen Vorteil, dass wir bei unseren Abendlesungen immer zu zweit sind und demzufolge nicht nur szenisch lesen können (und da wir beide vom Theater kommen, wissen wir auch, wie wichtig es ist, „mit Betonung“ zu lesen), sondern wir können uns auch in der Moderation die Bälle zuspielen und unser Publikum mit persönlichen Zwischenbemerkungen über unsere Arbeit und Geschichten aus dem Leben als Schriftsteller durch den Abend führen.

Den kleinen Witz mit dem vorgeblichen Whiskey benutzen wir übrigens schon lange nicht mehr. Solche Showeinlagen beinhalten ja immer auch das Risiko, zu sehr von dem Text, um den es eigentlich geht, abzulenken (siehe die Geschichte mit dem Hund). Irgendwann allerdings haben wir mal einen Kollegen erlebt, der einen Musiker mit auf die Bühne brachte. Zu Beginn gab es ein Stück auf der Gambe, am Schluss dann noch ein zweites. Das war eigentlich (für die Atmosphäre) ganz schön, hatte nur leider so gar nichts mit dem dargebotenen Text zu tun. Und während der Schriftsteller einsam las, saß der Musiker neben ihm und wirkte zunehmend verloren, während er auf seinen abschließenden Einsatz wartete.

Wolfram Hänel und Ulrike Gerold bei einer ihrer Lesungen mit musikalischer Begleitung.

Aber wir haben uns hinterher angesehen und hatten beide die gleiche Idee: Das muss auch anders gehen!

Von diesem Moment an hat uns die Sache mit der Musik nicht mehr losgelassen. Und wir leben in Hannover, das zwar eher das (ungerechtfertigte) Image großer Langeweile verkörpert, aber doch auch (und das durchaus zu Recht) als die heimliche Hauptstadt der Rockmusik gilt, den Scorpions, Jane, Eloy, Fury in the Slaughterhouse und anderen Bands sei es gedankt. Es lag also nahe, uns in dieser Szene umzusehen, und so haben wir schließlich ein echtes Urgestein der deutschen Rockmusik überzeugen können, uns bei unseren Lesungen zu begleiten – Arndt Schulz kann nicht nur Gitarre spielen, sondern auch hervorragend singen, und zwar so gut wie alles, von Schlagern der 30er Jahre, Brecht und Bowie bis zu Ton Steine Scherben und anderen ausgewählten Preziosen, die zu unseren Texten passen. Und sowohl bei unseren Krimis und Skandinavienthrillern wie auch im neuen Roman erwähnen wir gerne immer mal wieder einen Song oder zitieren Textzeilen, der Musiker kann also diese Motive aufgreifen, ist fester Bestandteil der Dramaturgie und hockt nicht nur arbeitslos neben uns.

Vor allem in diesem Zusammenspiel mit der Musik gelingt es uns, auch noch den letzten Skeptiker zu überzeugen, dass Lesungen alles andere als schwerverdauliche Kost sein müssen. Und ebenso wie nach einem guten Kinofilm sollte das Publikum sich hinterher ein bisschen fühlen wie Robert Redford, der gerade die Welt gerettet hat (Clint Eastwood geht zur Not auch).

Aber was ich damit eigentlich sagen will: Lesungen dürfen ruhig ein wenig sein wie Rock’n’Roll, unerwartet und schnell und mit einer Energie, die sich auf die Zuhörer überträgt. Vielleicht haben wir es in unserer Konstellation leichter, dieses Ziel zu erreichen, aber generell gilt, dass jeder, der mit seinem Text auf eine Bühne geht, auch etwas dafür tun muss, dass er „gut rüberkommt“, sich einfach nur durch die Seiten zu blättern, reicht nicht.

Ein alter Freund von uns aus Theatertagen hat es mal so formuliert: „Vertrau deinem Text, du hast ihn geschrieben, es sind deine Worte. Aber jetzt musst du sie verkaufen! Erwecke sie zum Leben, nimm deine Zuhörer mit in deine Welt. Und denk immer daran, dass du dabei ganz du selbst bleibst, dass du authentisch bist, mit all deiner Freude, deiner Begeisterung, deiner Wut, deinem Kummer. Nur so wirst du die unsichtbare Wand zwischen Bühne und Publikum aufheben können.“

Und so nett es von manchem Veranstalter gemeint ist, wenn er den Schriftsteller in einem Märchenoma-Sessel Platz nehmen lässt, so tödlich ist das für die Körperspannung, die man braucht – wer nicht aufrecht sitzen kann, hat keine Kraft in der Stimme, wer das Buch oder das Blatt frei in den Händen hält, verrät seine Nervosität durch das Zittern der Seiten, und das Publikum möchte auch nicht unbedingt sehen, wie er die Füße verkrampft und seine Knie unruhig beben. Auch der Schauspieler Dietmar Bär, der nun wirklich hervorragend liest, sitzt grundsätzlich am Tisch, über den ein bodentiefes Tuch gedeckt ist – raten Sie mal, warum!

Wir lesen im Übrigen grundsätzlich nicht in Bierzelten. Und auch nicht unter Neonlicht, das jeden Versuch, eine intime Atmosphäre zu schaffen, zwangsläufig zunichtemacht. Womit wir wieder bei der Betonmauer vom Anfang dieses Artikels wären: Es gibt vieles, was man bei einer Lesung vermeiden kann, aber was ganz sicher nicht dazu gehört, ist die Angst, sich zu verlesen – es passiert eben! Auch wir verpassen nach all den Jahren immer noch und immer mal wieder einen Einsatz oder hängen uns bei einer schwierigen Lesepassage an den eigenen Sätzen auf, aber dann geht es darum, das Beste daraus zu machen und im Zweifelsfall noch mal neu anzusetzen – das Publikum nimmt das nicht übel, im Gegenteil, es weiß solche kleinen Pannen durchaus zu schätzen, weil sie eben zeigen, dass da oben keine Roboter sitzen, sondern … Menschen! Dieses „nobody is perfekt“ macht den Unterschied zum Beton.


 

Berlin in den Nachkriegsjahren: Die Stadt liegt in Trümmern, doch die Lebenslust der Menschen erwacht. Die junge Architektin Ilse hat eine Vision. Sie will die Stadt wieder aufbauen und Wohnungen auch für die einfachen Arbeiter schaffen. Der Wettbewerb für den Bau der Arbeiterpaläste in der Karl-Marx-Allee in Ostberlin ist ihre große Chance. Als einzige Frau will sie sich gegen ihre männlichen Kollegen durchsetzen. Und ihre Pläne werden tatsächlich ausgewählt. Aber ihr Ehemann erpresst Ilse und gibt die Entwürfe als seine eigenen aus. Ilse soll den Architekten nur zuarbeiten. Enttäuscht fasst sie einen Entschluss: Sie wird diese Ungerechtigkeit nicht hinnehmen, sondern um ein freies Leben und den richtigen Mann an ihrer Seite kämpfen.

Ulrike Gerold & Wolfram Hänel

Ulrike Gerold & Wolfram Hänel

Ulrike Gerold, Jahrgang 1956, studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte an der FU Berlin. Sie arbeitete als Produktions- und Öffentlichkeitsdramaturgin an verschiedenen Theatern. 1992 konzipierte sie das Theaterstrukturmodells IFFLANDS. Seit 1993 ist sie freie Journalistin für Kultur, Wissenschaft und Reise. Außerdem schreibt Ulrike Gerold Sachbücher für Kinder und Jugendliche sowie Reisegeschichten, seit 2012 auch Romane.

Wolfram Hänel, Jahrgang 1956, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin. Er arbeitete als Plakatmaler, Werbetexter, Theaterfotograf, Studienreferendar, Spieleerfinder und Dramaturg. Seit 1987 schreibt er Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher, seit 2007 auch Romane für Erwachsene.

Foto: © Hans Scherhaufer

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