„Meine Assoziation mit dem Begriff Heimat ist ganz eindeutig völkisch und rechts.“

„Eure Heimat ist unser Albtraum“ oder „Heimat ist Albtraum“? Jede Person, die das Cover der Ullstein fünf-Anthologie anschaut, hat selbst die Chance, zu entscheiden, welche Lesart sie bevorzugt. Wir haben mit Co-Herausgeber*in und Autor*in Hengameh Yaghoobifarah im Interview über Sichtbarkeit und rassistische Blicke gesprochen. 

Hengameh Yaghoobifarah

Hengameh Yaghoobifarah (c) Valerie-Siba Rousparast

Gemeinsam mit Fatma Aydemir bist du eine*r der Herausgeber*innen der Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Wie ist die Idee zum Buch entstanden?

Fatma und ich haben uns letztes Jahr im März auf einen Kaffee getroffen und darüber gesprochen, was wir gerade lesen. Dabei ist uns aufgefallen, dass wir beide Anthologien lesen, die sich mit den Themen Migration und Rassismus auseinandersetzen. Fatmas Lesestoff war aus UK, meiner kam aus Schweden. Also dachten wir, es wäre doch nice, so etwas auf Deutsch zu machen. Zu dem Zeitpunkt war gerade die AfD in den Bundestag eingezogen und das sogenannte „Heimatsministerium“ war frisch getauft. Wir wussten gleich, dass dieser Begriff von Heimat im Zusammenhang mit Rassismus und Antisemitismus ein Thema ist, das uns nicht allein betrifft. Wir wollten so viele Perspektiven wie möglich einbeziehen.

Jedes Kapitel stammt von einer anderen Person und trägt ein Wort als Titel. Wie seid ihr bei der Arbeit am Buch vorgegangen? Wer schreibt darin und welche Themen werden angesprochen?

Bei der Auswahl der Autor*innen haben Fatma und ich gebrainstormt, wen wir lieben – die Liste der Namen war ungefähr dreimal so lang wie die, die man nun im Buch findet. Also haben wir uns darauf konzentriert, dass die Personen möglichst unterschiedliche Themen und Perspektiven einbringen. Es war uns beispielsweise wichtig, dass unterschiedliche Generationen vertreten sind, dass jemand dabei ist, der hier geboren ist, aber auch Leute, die erst als Erwachsene hergekommen sind.

Unser Ziel war es, dass man Deutschland aus der Sicht von jenen Deutschen sieht, denen das Deutschsein oft abgesprochen wird.

Thematisch wollten wir uns nicht am Heimatministerium arbeiten, sondern die alltäglichen Erfahrungen mit Rassismus und Antisemitismus in Deutschland in seinen unterschiedlichen Facetten schildern. Es gibt beispielsweise ein Kapitel zum Thema Essen. Vina Yun hatte bereits einen Text darüber im Missy Magazine geschrieben und wir fanden, dass man daraus etwas Größeres machen könnte, weil Essen vieles über eine Gesellschaft verrät. Am koreanischen Essen lassen sich beispielsweise aktuelle Entwicklungen erkennen: in Berlin wird es gerade total gehypet, vor 15 Jahren sah das aber noch ganz anders aus.

Reyhan Şahin beschäftigt sich in ihrer Arbeit viel mit Sexualitäten, weshalb uns klar war, dass wir von ihr gerne einen Text über Sex haben wollten. Deniz Utlu hatte bereits viel zum Thema NSU geschrieben, deshalb haben wir ihn gefragt, ob er über das Vertrauen in Sicherheitsbehörden schreiben will. Bei Mithu Sanyal haben wir mit ihr gemeinsam überlegt, worum es in ihrem Text gehen könnte, woraufhin sie uns erzählte, dass sie gerne etwas Historisches über die Begriffe Heimat und Zuhause machen würde. In den meisten Fällen resultieren die Themen der Beiträge also aus den bisherigen Arbeiten und Erfahrungen der Autor*innen.

Es gibt diesen Spruch, man solle ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen. In eurem Fall ist das Cover jedoch stark an den Inhalt gebunden. Was hat es mit der unterschiedlichen Farbwahl im Titel auf sich?

Je nachdem, ob man die Worte mitliest, die im selben Ton wie der Hintergrund gedruckt sind, oder nicht, steht auf dem Cover entweder: „Eure Heimat ist unser Albtraum“ oder „Heimat ist Albtraum“. Fatma hatte die Idee, die Gestaltung zweideutig zu konzipieren, weil es in unserem Buch nicht darum geht, bestimmte Identitäten festzuschreiben. Es gibt keine zwei Seiten nach dem Motto: Wir Migrant*innenkinder vs. die weißen Deutschen. Vielmehr geht es darum, zu zeigen, dass jede Person die Macht hat, sich zu entscheiden, wie sie dieses Heimatkonzept findet.

Ging es euch vor allem darum, unterschiedliche Erfahrungen mit Rassismus sichtbar zu machen?

Unser Ziel war es, dass man Deutschland aus der Sicht von jenen Deutschen sieht, denen das Deutschsein oft abgesprochen wird. Dabei geht es nicht darum zu zeigen, dass wir auch von hier sind, dass wir auch deutsch sind, das ist gar nicht das Level. Sasha Salzmann beschreibt es in ihrem Text ganz gut: Wir wollen gar nicht Teil irgendeiner konstruierten Normalität sein. Es geht stattdessen darum zu sagen: Hey, Deutschland hält sich für so mega offen und demokratisch, ist es aber nicht. Es gibt einen großen Gap zwischen dem, was im Grundgesetz steht und dem, was in der Realität passiert. Wir wollten diese Realität spiegeln. Sowohl mit Blick auf die Gegenwart als auch auf die Geschichte. In unseren Texten werden beispielsweise auch Leute honoriert, die für uns relevant waren, in der (deutschen) Geschichte jedoch nahezu keine Erwähnung finden. Die Dichterin May Ayim etwa, die in Deniz Utlus Text zitiert wird, oder Semra Ertan, eine deutsch-türkische Poetin, von der Fatma in ihrem Text erzählt und die sich als Protest gegen Rassismus selbst umgebracht hat.

Wünscht ihr euch auch Rückmeldungen von den „Annikas“ und „Stefans“, die in manchen der Texte angesprochen werden?

Wenn die Bock haben, können sie es lesen. Unser Anspruch war es nicht unbedingt, dass wir bestimmte Leute aufklären wollen. Das Buch ist tatsächlich in allererster Linie ein Buch für uns, wie es auch in der Widmung heißt. Alle Leute, die dieses Buch suchen, sollen es finden.

Wahrscheinlich will die Romni genauso U-Bahn fahren wie die Frau, die panisch ihre Tasche festhält und die Schwarze Studierende spricht nicht zwangsläufig Slang oder hört Hiphop, sondern mag vielleicht Rock oder Klassik.

In vielen Texten fallen Begriffe wie Rassismus, Sexismus, othering oder silencing. Wie wichtig ist es deiner Meinung nach, das (oft auch unbewusste) Handeln anderer oder das eigene Handeln zu definieren?

Das finde ich sehr wichtig. Wenn wir Dinge nicht benennen können, dann können wir sie auch nicht bekämpfen oder analysieren. Wenn wir für etwas keine Worte finden, dann ist es leicht, so zu tun als ob sie in der Realität gar nicht existieren.

Wie steht es um den Begriff Heimat? Kannst und willst du Heimat für dich definieren?

Die Bedeutung des Heimatbegriffs ist sehr vage. Du kannst zehn Leute fragen, was für sie Heimat ist und wirst zehn unterschiedliche Antworten erhalten. Für die einen ist es ein Sehnsuchtsort, für die anderen hängt es mit Geografien, Speisen oder Gerüchen zusammen. Wenn du historisch recherchierst, erfährst du, dass Heimat im Nationalsozialismus eine große Rolle gespielt hat. Heute bezeichnet sich die NPD als soziale Heimatpartei und aus der Terrorgruppe „Thüringer Heimatschutz“ ist einst der NSU entsprungen.

Jeder zweite Kommentar unter meinen journalistischen Texten lautet: „Geh zurück in deine Heimat.“ Daher ist meine Assoziation mit dem Begriff Heimat ganz eindeutig völkisch und rechts.

Dein Text im Buch heißt „Blicke“. Worum geht es darin?

In meinem Text geht es einerseits darum, wie Blicke sich auf einen richten, was das mit einem macht und welche Blick-Prozesse es gibt. Was bedeutet es, eine normierte Linse auf die Welt zu setzen? In welche stereotypen Settings ordne ich welche Körper ein? Es geht aber auch darum, wie man selbst den weißen Blick  verinnerlichen kann und wie dieser die Eigenwahrnehmung beeinflusst, oder wie man sich von ihm empowern kann.

Wie definierst du den weißen Blick ?

Der weiße Blick  kann analog zum männlichen Blick betrachtet werden, der Begriff male gaze stammt aus der Filmwissenschaft und meint zum Beispiel, dass weibliche Körper aus einer rein männlichen Perspektive betrachtet werden, was in der Regel sowohl sexistisch als auch sexualisierend ist. Beim weißen Blick  verhält es sich ähnlich. Beispiele dafür sind Situationen, in denen beispielsweise Studierende, die eine*n Schwarze*n Kommiliton*in sehen, anfangen beim Sprechen wild zu gestikulieren und eine Art Slang imitieren. Oder eine Frau, die in der U-Bahn eine Romni sieht und sich anspannt, weil sie denkt, dass ihr gleich etwas gestohlen wird. Das sind Blicke, die rassistisch sind. Wahrscheinlich will die Romni genauso U-Bahn fahren wie die Frau, die panisch ihre Tasche festhält und die Schwarze Studierende spricht nicht zwangsläufig Slang oder hört Hiphop, sondern mag vielleicht Rock oder Klassik.

Du sagst, dass dein Standpunkt innerhalb der Gesellschaft „wie auf magische Weise“ switchen kann, ohne dass du dich selbst bewegst. Wovon hängt deine Positionierung ab? Woran merkst du, was andere Menschen in dir lesen?

Ein ganz simples Beispiel ist zum Beispiel, wenn ich mit meiner Beziehungsperson als queeres Couple (und meine Beziehungsperson ist weiß) am Flughafen bin. Dann bin ich ein von fünf Malen in der Bomben- und Sprengstoffkontrolle. Wenn ich dagegen allein reise oder zusammen mit meiner Schwester unterwegs bin, gerate ich vier von fünf Malen in die Kontrolle. Einmal bin ich gereist und trug eine Schlafhaube in den Haaren, weil es sehr früh am Morgen war. Anscheinend hielt man die Haube für einen Turban, woraufhin ich gleich zweimal kontrolliert wurde, obwohl der Rest meines Outifts gar nicht so modest war.

Sprichst du die Menschen in deinem Umfeld in solchen Situationen auf ihr Verhalten an?

Wenn ich die Zeit habe, frage ich nach, warum ich eigentlich jedes Mal in der „zufälligen“ Kontrolle lande. Ich bekomme aber nie eine richtige Antwort und spare mir die Diskussionen manchmal, weil ich in dem Moment auch einfach nur im Duty-free-Shop ankommen möchte.

Ich hatte oft das Gefühl, dass ich bestimmte Dinge besser wissen müsste, weil die anderen sonst denken, dass ich ungebildet bin.

Bereits in deiner Schulzeit wurde dir signalisiert, dass du als Deutsch-Iraner*in mehr über das politische Weltgeschehen wissen müsstest als man es den meisten weiß-deutschen Erwachsenen abverlangt. Von wem kam diese Erwartungshaltung und wie bist du damals mit diesem Druck umgegangen?

Die Erwartungen kamen vor allem von Erwachsenen: Lehrer*innen, aber auch die Eltern von Freund*innen stellten mir zum Beispiel viele interessierte Fragen zur iranischen Revolution. Ich dachte mir: Bruder, ich leb auch erst seit ein paar Jahren – ich weiß es auch nicht so genau. (lacht) Du könntest doch auch nicht einfach so Kinder zu Themen wie der Oktoberrevolution, zur DDR oder RAF befragen. Wie kann man dieses Wissen voraussetzen? Es gibt genug Erwachsene, die darüber nichts wissen.

Mich haben die Fragen verwundert, aber sie haben auch dazu geführt, dass ich mich schon sehr früh mit Politik auseinandergesetzt habe – was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist. Aber man hat mir eine gewisse Unbeschwertheit genommen, die andere Kinder genießen durften. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich bestimmte Dinge besser wissen müsste, weil die anderen sonst denken, dass ich ungebildet bin. Also habe ich vieles gelesen, was ich mit 12 Jahren natürlich noch nicht ganz kapiert habe.

(Wie) kann man sich vor den Blicken anderer schützen?

Ich starre zurück.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Marie Krutmann.


 

Dieses Buch ist ein Manifest gegen Heimat – einem völkisch verklärten Konzept, gegen dessen Normalisierung sich 14 deutschsprachige Autor_innen wehren. Zum einjährigen Bestehen des sogenannten „Heimatministeriums“ sammeln Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah schonungslose Perspektiven auf eine rassistische und antisemitische Gesellschaft. In persönlichen Essays geben sie Einblick in ihren Alltag und halten Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als »anders« markiert, kaum schützt oder wertschätzt. Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Margarete Stokowski, Olga Grjasnowa, Reyhan Şahin, Deniz Utlu, Simone Dede Ayivi, Enrico Ippolito, Nadia Shehadeh, Vina Yun, Hengameh Yaghoobifarah und Fatma Aydemir.  

Hengameh Yaghoobifarah

Hengameh Yaghoobifarah

Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991 in Kiel, ist freie_r Redakteur_in beim Missy Magazine und bei der taz, schreibt für deutsch-sprachige Medien, u.a. die Kolumne „Habibitus“ für die taz sowie für Spex, an.schläge und für das Literaturjournal politisch schreiben. Yaghoobifarahs Essay Ich war auf der Fusion, und alles, was ich bekam, war ein blutiges Herz erschien 2018.

Foto: © Valerie-Siba Rousparast

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