Martin Beyer über die Entstehung seines Romans „Und ich war da“

„Was hätte ich getan?“ Von dieser Frage aus dem Schulunterricht über die Propaganda der Nazis wird Martin Beyer wieder eingeholt, als er 20 Jahre später an einem historischen Ort lebt – dem früheren Henkershaus der Stadt Bamberg. Sein Roman „Und ich war da“ entstand aus der Beschäftigung mit der Frage, was Menschen dazu bringt, Widerstand zu leisten – oder aber Mitläufer zu sein. Die Auseinandersetzung mit der Hauptfigur seines Romans hat ihn dafür sensibilisiert, dass auch Nicht-Handeln ein politischer Akt ist.

Martin Beyer Ullstein Resonanzboden Marian Lenhard

Martin Beyer. Foto: Marian Lenhard

„Wer von euch glaubt denn, in den 1930er Jahren gegen die nationalsozialistische Propaganda immun gewesen zu sein?“ Diese Frage stellte mein Ethiklehrer eines harmlosen Schulvormittags – Thema: „Was ist Propaganda?“ –, ich war in der 11. Klasse. Ich erinnere mich, wie mein Arm, ohne dass ich lange gezögert hätte, in die Höhe ging. Natürlich wäre ich immun und dagegen gewesen, nach allem, was ich über den Nationalsozialismus zu dieser Zeit wusste, über den offenen Antisemitismus, die Verfolgung Andersdenkender, die Kriegstreiberei. „Das weißt du doch gar nicht!“, rief Christopher von hinten, nicht gerade ein guter Freund von mir, und als ich mich im Klassenraum umsah, bemerkte ich, dass ich der Einzige war, der sich gemeldet hatte. Ich versuchte, Christopher etwas zu entgegnen, merkte aber schon beim Formulieren des ersten „Aber“, dass ich eigentlich kein stichhaltiges Argument parat hatte.

Ich schämte mich, da ich immer mehr zu dem Schluss kommen musste, dass meine Meldung einer nicht zu leugnenden Naivität entsprungen war. Später, zu Hause, als ich weiter verzweifelt nach Argumenten suchte, erkannte ich, wie schwierig es war, die Frage des Lehrers zu beantworten. Natürlich wünschte ich mir, ich wäre gegen das NS-Regime gewesen, hätte nicht zu den Tätern gezählt, aber hätte ich den Mut gehabt und, vor allem, die Klarsicht, die Inszenierungen der NSDAP zu durchschauen? Hätten mir meine Eltern diese Klarheit vermittelt, mein soziales Umfeld, wäre mein Charakter stark genug gewesen, oder hätte es ein zufälliges Ereignis gegeben, das mich auf den Weg des Widerstands gebracht hätte? Oder ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass ich ein Mitläufer gewesen wäre? Alles nicht eindeutig zu beantworten. Lauter Fragen blieben zurück und ließen mich seither nicht mehr los: Im Germanistikstudium bei der Lektüre der Nachkriegsliteratur. Immer wieder beim Erstarken rechtsextremer Strömungen. Beim Besuch der Gedenkstätte Buchenwald.

Über 20 Jahre nach besagter Schulstunde lebe ich in Bamberg, in einer Wohnung im alten Henkershaus der Stadt. Das Haus sollte abgerissen werden, doch meine Vermieter hatten es gekauft und über die Jahre liebevoll restauriert. Es liegt etwas außerhalb des Stadtkerns, denn den Henker, den Scharfrichter, hatte man nicht gerne um sich. Ich fange an, mich mit diesem Berufsstand auseinanderzusetzen und stoße zwangsläufig auf einen der letzten Vertreter seiner Art in Deutschland, Johann Reichhart, staatlich bestellter Scharfrichter für die Hinrichtungsorte München, Dresden, Stuttgart, Frankfurt und Wien. Über 3.000 Menschen fielen seiner Guillotine zum Opfer, darunter Mitglieder der Weißen Rose wie Sophie und Hans Scholl oder Christoph Probst. Reichhart verstand sich als Modernisierer des Henkerberufes. Er war kein großer Ideologe des Nationalsozialismus, er übte seiner Auffassung nach nur einen Beruf aus, der in seiner Familie über die Generationen weitergetragen worden war, er selbst hatte das „Handwerk“ von seinem Onkel gelernt. Er hatte immer zwei bis drei Gehilfen dabei, und es gibt manches Foto, auf denen sie zu sehen sind; und als ich diese Bilder sehe, löst das eine Erinnerung aus.

Ich sitze in der Dachkammer des Henkershauses, und mir kommt die Ethikstunde wieder in den Sinn und die Frage: „Wer von euch glaubt denn, immun gewesen zu sein?“ Alles ist wieder da, vor allem die eigene Unsicherheit – noch immer! –, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Und wie ist es heute? Hier und jetzt. Als Erwachsener, als Vater eines kleinen Sohns? Bist du immun gegen die sich weltweit ausbreitende rechtspopulistische Propaganda? Und was machst du überhaupt dagegen, wie mutig bist du, wie mutig musst du sein – in einer Schwellenzeit, in der es darum geht, für unser offenes Lebens- und Gesellschaftsmodell einzutreten?

Wie kommt es, dass der eine Widerstand leistet, während der andere zum Mitläufer wird?

Eine Idee reift heran, einen jungen Mann zu erfinden, einen Jedermann, der an jenem 23. Februar, dem Hinrichtungstag der Geschwister Scholl, als Gehilfe auf der Seite des Henkers steht, und nicht auf der Seite derjenigen, die bereit sind, für ihre Ideale zu sterben. Aber was hat ihn, genauso alt wie Hans Scholl, dorthin gebracht? Welche Parameter waren ausschlaggebend? Wann und wo hat er sich falsch entschieden, wann hat er sich nicht entschieden, und wann konnte er sich nicht entscheiden?

Recherchieren; Zeitzeugen befragen; sich ärgern, so wenig über die eigene Familienvergangenheit zu wissen. August Unterseher nimmt Konturen an, er ist jemand, der im Namen der Ideologie Schreckliches verübt, ohne schrecklich zu wirken. Er wächst auf einem Bauernhof unweit von München auf, die Mutter ist bei seiner Geburt verstorben, der Vater führt ein autoritäres Regiment, aber er ist beileibe kein glühender Nationalsozialist. Das zweite Regime neben dem Vaterstaat ist die Hitlerjugend, sie fordert ebenso Disziplin und blinden Gehorsam ein. August zieht mit, manches Ritual fasziniert ihn, aber diese großen Reden, die abstrakten Begriffe, das alles dringt nicht wirklich zu ihm durch.

Die Freundschaft zu Paul eröffnet ihm einen neuen Weg. Paul ist ein verträumter Junge, Sohn eines Naturforschers, der August in die Welt der Wissenschaften und der schönen Künste einführt. Paul ist Teil der verbotenen Jungenschaft dj.1.11, August lernt bei einigen Sitzungen verbotene Musik und Literatur kennen, vor allem aber beginnt er sich für die Tierforschung von Pauls Vater zu interessieren. Als Zweifel an der arischen Herkunft von Pauls Vater aufkommen, muss er mit seiner Familie aus München fliehen. Er bietet August an mitzukommen, doch dieser kann sich nicht dazu durchringen, den Hof des Vaters zu verlassen. Wenig später lernt August Isabella kennen, vermeintliche Händlerin von Schwarzwaren. Er verliebt sich in sie, und auch sie bittet ihn, mit ihr abzutauchen, doch er kommt zu spät zum vereinbarten Treffpunkt – wieder schließt sich eine Tür, die ihn in ein anderes Leben geführt hätte.

Als er 1941 einberufen und als Wehrmachtssoldat an die Ostfront beordert wird, fühlt sich das für August beinahe wie eine Befreiung an. In Russland profiliert er sich durch draufgängerische Aktionen; Ausdruck seiner wachsenden Lebensmüdigkeit. Später wird ihm von einer Partisanin ein Arm zerschossen, August kehrt nach Deutschland zurück. Er fühlt sich in der väterlichen Welt, in der ein funktionierender Körper das Entscheidende ist, unbrauchbar. Im Februar 1943 klopft ein gewisser Johann Reichhart an die Tür. Er ist der bayerische Scharfrichter und exekutiert für die Nationalsozialisten tausende Menschen mit der selbstgebauten Guillotine. Da seine Assistenten ausfallen, sucht er Ersatz, und so bittet er den Krüppel August um Hilfe: „Kann ich auf dich zählen?“

August Unterseher ist eine fiktive Figur, er konnte Christoph Probst, Sophie und Hans Scholl also nicht begegnet sein, aber sie hätten einem wie ihm begegnen können, so meine Annahme. Die unsühnbare Schuld, die im Dabeisein, im Mitmachen und Mitlaufen besteht, die darin besteht, nicht Nein zu sagen, hat Peter Rühmkorf in seinem Gedicht Und ich war da (zwischen 1947 und 1952), das für meinen Roman titelgebend wurde, auf lakonische Weise zum Ausdruck gebracht:

 

Und ich war da und da warst auch Du

Und keiner von uns sagte nein […]

 

Und Du bist da und da bin auch ich

Als Diener am Schafott.

Und wenn man auch uns die Wirbel bricht,

Dann schrei nicht nach mir, auch ich rufe nicht

Nach Dir oder Gnade und Gott.[1]

 

Sich falsch entschieden zu haben, ein Mörder geworden zu sein und niemanden außer sich selbst dafür verantwortlich machen zu können, damit muss August Unterseher leben.

Zurück in die Ethikstunde. Vielleicht, ich weiß es nicht mehr, hat mein Lehrer, nachdem mein kleiner Disput mit Christopher beendet war, Hannah Arendt (falsch) zitiert: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“ Oder korrekt: „Niemand hat das Recht, sein Gehorchen als Vorwand für die Rechtfertigung seines Handelns zu benutzen. Gehorchen ist keine Rechtfertigung für Handeln.“ August Unterseher scheitert daran, diese Forderung zu erfüllen. Und hätte ich sie erfüllt? Aus der Perspektive von uns Heutigen ist diese Frage nicht mehr eindeutig zu beantworten, das weiß ich inzwischen. Das macht es nicht überflüssig, diese Frage zu stellen, im Gegenteil. „Und keiner von uns sagte nein“ – die Auseinandersetzung mit August Unterseher hat mich dafür sensibilisiert, dass auch das Nicht-Handeln ein politischer Akt ist – und zwar ein Akt des Konformismus, der dazu führen kann, dass man Teil jener Kräfte wird, die die Freiheit gefährden oder – im Falle Augusts – sie sogar zerstören.

 

[1]Peter Rühmkorf: Und ich war da und da warst auch du, in: ders.: Gedichte. Werke 1. Hg. von Bernd Rauschenbach. Reinbek 2000, S. 38.

 

August Unterseher hat überlebt. Anders als so viele andere, die er kannte und liebte: Konrad, sein Bruder, ein glühender Nazi, gefallen bei Charkow. Paul, sein bester Freund, Suizid im italienischen Exil. Isa, seine erste Liebe, Schwarzhändlerin und Kommunistin, verschollen. Erst spät in seinem Leben vermag er, sein Schweigen zu brechen und zu erzählen. Vom Bruder und vom Vater, von Paul und Isa. Von sich, vom Krieg und den Jahren danach. Und er versucht zu begreifen, warum er mit seiner Zeit gegangen ist, statt sich ihr entgegenzustellen.

Martin Beyer

Martin Beyer

Martin Beyer, geboren 1976, ist promovierter Germanist, freier Schriftsteller und arbeitet als Dozent für Kreatives Schreiben und Storytelling. „Und ich war da“ ist nach „Alle Wasser laufen ins Meer“ sein zweiter Roman. Er ist einer von vierzehn Finalisten beim Bachmannpreis 2019. Er lebt in Bamberg. www.hinter-den-tueren.de

Foto: © Marian Lenhard

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