Ein Mann steht unter einem Wassertank, aus dem es auf seinen Hut tropft. Ein anderer wartet im Schatten, umschwirrt von einer neugierigen Fliege. Minuten vergehen, die sich wie Stunden anfühlen. Die Rede ist von der legendären Anfangsszene aus Sergio Leones Film „Spiel mir das Lied vom Tod“. Was dieser Western mit Literatur zu tun hat? Wenn man Martin Schult fragt, eine ganze Menge: Er ist der Grund, weshalb er schreibt.

© Youtube: Anfangsszene aus „Spiel mir das Lied vom Tod“
Schreiben ist für mich eine visuelle Erfahrung. Buchstaben und Wörter müssen zu Bildern werden. Erst wenn sich ein Text zu einem Film im Kopf zusammenfügt, der der realen Welt eine Alternative beifügt, bin ich zufrieden. Das ist aber keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern das Gegenteil. Um die Welt richtig verstehen zu können, braucht man mitunter einen Spiegel. Und Literatur, oder der Film im Kopf, kann so ein Spiegel sein. Mein größter Traum: Die Tinte fließt unablässig aus dem Kugelschreiber auf das Papier, von dem ich manchmal verwirrt aufschaue, um mich zu fragen, in welcher Welt ich gerade bin.
Dass ich so denke, hat mit einer Szene aus einem Kinofilm zu tun, die ich mir immer wieder gerne anschaue. Es ist der Anfang von „Spiel mir das Lied vom Tod“, ein Western, den ich zum ersten Mal als Achtjähriger im Fernsehen gesehen habe, versteckt hinter dem Sessel meines Vaters, der mich eigentlich schon ins Bett geschickt hatte. Denn der Film ist brutal. Menschen werden getötet. Aber darum geht es hier nicht.
Drei Männer warten mitten im Nirgendwo auf die Ankunft eines Zuges. Man weiß nicht, wo sie herkommen, und man weiß nicht, wer sie sind. So wie sie aussehen, scheinen sie nichts Gutes im Schilde zu führen. Aber um das zu tun, was sie zu dem fast verlassenen Bahnhof geführt hat, müssen sie warten …
Einer der Männer steht unter einem Wassertank, aus dem es auf seinen Hut tropft. Ein anderer wartet im Schatten, umschwirrt von einer neugierigen Fliege. Minuten vergehen, die sich – begleitet von enervierenden Alltagsgeräuschen: das Summen der Fliege, das Tropfen des Wassers, der Wind, ein quietschendes Scharnier – wie Stunden anfühlen. Der Mann im Schatten fängt die Fliege mit dem Lauf seines Revolvers. Er stülpt einen Finger über die Öffnung. Im Inneren summt die Fliege weiter. Hört sie auf, schüttelt er leicht den Revolver. Der Mann unter dem Wassertank erträgt stoisch die Tropfen und starrt in die Ferne. Der dritte Mann schaut sich die Gegend an und gibt dem alten Bahnhofswärter zu verstehen, sich nicht einzumischen, was immer auch passiert …
Langsam nähert sich aus der Ferne ein Zug. Man fühlt ihn pfeifen – vielleicht hört man es auch, man ist mittlerweile im eigenen Film. Der Mann im Schatten nimmt den Finger vom Lauf. Die Fliege ist wieder frei. Der Mann unter dem Wassertank setzt vor- sichtig den Hut ab und trinkt das Wasser, das sich in der Hutkrempe gesammelt hat. Zusammen mit dem dritten Mann gehen sie auf den Bahnsteig und warten vergeblich darauf, dass jemand aussteigt.
Als der Zug wieder abfährt, gehen sie zu ihren Pferden. Man hört eine Mundharmonika und sieht einen vierten Mann, der sie spielt. Er ist auf der anderen Seite des Zuges ausgestiegen. Er fragt die Männer nach Frank, der aber nicht mitgekommen ist. Kurz darauf beginnt die Schießerei …
Ohne dass explizit darauf hingewiesen wird, hat der Regisseur Sergio Leone mit dieser Szene die beiden wichtigsten Themen des Films gesetzt. Es geht um den Bau neuer Eisenbahnlinien im menschenleeren Westen Amerikas. Und es geht um Rache, mit der der nicht anwesende Mann namens Frank und der namenlose Mann mit der Mundharmonika zu tun haben. Einige Erwartungen werden bewusst nicht erfüllt. Die Fliege hätte sterben können. Der Mann mit dem Hut hätte das Wasser einfach wegkippen können. Die drei Männer hätten den Mann mit der Mundharmonika erschießen können. So aber tötet er sie.
Besser als mit dieser Filmszene kann ich nicht erklären, warum ich schreibe: In der Anfangsszene steckt bereits das Ende des Films mit drin, denn man weiß sofort, dass mit einem finalen Duell die Gerechtigkeit wieder hergestellt werden soll. Aus den vielen Zufälligkeiten, die es auch im Leben gibt, hat sich der Regisseur die herausgepickt, mit denen er die Geschichte weitererzählen will, bis es zu diesem Showdown kommen wird.
Die lange Anfangsszene ist aber zugleich ein erstes Angebot an den Zuschauer, sich an jeder Stelle des Films auszumalen, wie es weitergeht. Die langen Kamerafahrten und das gleichberechtigte Auftreten von Nebenpersonen bieten dazu immer wieder ausreichend Gelegenheit. Kurz vor Filmende bittet die Hauptdarstellerin den Mann mit der Mundharmonika, bei ihr zu bleiben. Man möchte ihm zurufen: Ja, bleib ihr! Doch er geht zur Tür. Sie sagt zu ihm, dass sie auf ihn warten würde. Er bleibt kurz stehen und man glaubt, man hofft, man wünscht, er würde es sich anders überlegen. Doch mit den Worten „Irgendjemand wartet immer“ geht er einfach zur Tür hinaus.
Die Geschichte, die ich in einem Roman aufschreibe, ist auch nur eine unter vielen, die ich mir hätte ausdenken können. Es gibt – um bei dem Bild der Eisenbahn zu bleiben – unendlich viele Weichen, Schranken, Umsteigebahnhöfe und Kreuzungen. Wenn ich ans Ende meiner Geschichte komme, habe ich viele von ihnen benutzt, ich hätte aber ebenso immer einen anderen Weg wählen können – wie übrigens in der realen Welt ja auch. Vielleicht hätte auch der Leser manchmal lieber einen anderen Weg als ich genommen. Wenn ich es gut mache, bleibt er aber hoffentlich bei mir, weil er neugierig darauf ist, wie meine Reise weitergeht. Schließlich ist es meine Geschichte, mein Film im Kopf.
Das Buch
Dem Kroisleitner Karl sein Vater ist tot. 104 war der alte Kroisleitner, aber noch topfit, das lag an der guten Luft oder am Marillenschnaps. Schon bald ermittelt die Kriminalpolizei aus der nahen Bezirkshauptstadt, was der wortkarge Wanderer mit der schlechten Ausrüstung damit zu tun hat. Ebenjener mit dem Namen Frassek, seines Zeichens Polizeiobermeister aus Berlin, hatte sich doch nur in der Steiermark von seinem letzten, gelinde gesagt unglücklich verlaufenen, Fall erholen wollen – und von seiner pubertierenden Tochter. Inmitten von Lügen, Intrigen und Dorfklatsch wird Frassek unversehens vom Tatverdächtigen zum Ermittler.
„Dem Kroisleitner sein Vater“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage