Für seine erzählerische Studie Evicted (Zwangsgeräumt) erhielt Matthew Desmond 2017 den Pulitzer-Preis. Um ein reales Bild der Armut im urbanen Amerika zu zeichnen, lebte der Autor über ein Jahr lang selbst im ärmsten Viertel von Milwaukee. Hier schreibt er, was er über die Schicksale der Bewohner von Trailer Parks und Rooming Houses erfuhr, die ihn, den privilegierten weißen Mann, mal mehr, mal weniger als Teil der Community akzeptierten – als Seelenklempner, Sozialarbeiter oder Freund.

Verlassener Trailer Park © Matthew Hester I CC BY 2.0
Als ich jung war, war mein Vater Prediger und meine fleißige Mutter arbeite alles Mögliche. Das Geld war immer knapp. Manchmal wurde uns das Gas abgedreht – dann kochte Mom das Abendessen auf unserem Holzofen. Sie wusste, wie man mit wenig auskommt, schließlich war sie gegenüber einem Schrottplatz in Columbus, Georgia, und später im berüchtigten Ford Hotel in San Francisco aufgewachsen. Meine Mutter hatte sich ein besseres Leben geschaffen und erwartete von uns Kindern, dass wir dasselbe anstrebten, dass wir aufs College gingen, auch wenn sie und mein Vater uns keinerlei finanzielle Unterstützung bieten konnten. Mein Vater hämmerte uns seine Ansichten auf seine eigene Art ein: Wann immer wir an gebückten Menschen vorbeifuhren, die schwitzend in der Sonne irgendeine undankbare Arbeit erledigten, drehte er sich zu uns um und fragte:
»Wollt ihr das für den Rest eures Lebens machen?«
»Nein.«
»Dann geht aufs College.«
Dank einiger Darlehen und Stipendien konnte ich die Arizona State University besuchen, die vier Autostunden von meiner Heimatstadt Winslow entfernt lag. Ich dachte damals, vielleicht Rechtsanwalt werden zu wollen, daher belegte ich Seminare über Kommunikation, Geschichte und Recht. In diesen erfuhr ich nach und nach Dinge, die nicht zu dem Bild der USA passten, das mir meine Eltern, meine Lehrer in der Sonntagsschule und meine Gruppenleiter bei den Pfadfindern stets vermittelt hatten. War der Amerikanische Traum für die meisten Menschen erreichbar oder war er nur wenigen Privilegierten vorbehalten? Wenn ich nicht gerade arbeitete oder lernte, wälzte ich in der Bibliothek Bücher auf der Suche nach Antworten über den Charakter meines Landes.
Dreißig Quadratmeilen umgeben von Realität
Etwa zu dieser Zeit eignete sich die Bank das Haus meiner Eltern an. Ein Freund und ich halfen meinen Eltern beim Umziehen, und ich weiß noch, dass mich dies zutiefst bedrückte und beschämte. Ich wusste erst nicht, wie ich damit umgehen sollte; aber vielleicht fand ich unbewusst doch einen Weg, denn als ich wieder zurück auf dem Campus war, verbrachte ich die Wochenenden nunmehr damit, meiner Freundin beim Häuserbau mit Habitat for Humanity zu helfen. Dann begann ich, mehrere Abende in der Woche mit Obdachlosen rund um die Tempe’s Mill Avenue zu verbringen. Diese Menschen, die auf der Straße lebten und die ich nun kennenlernte, waren mal jung, mal alt, lustig, unverfälscht und voller Sorgen.
Nach meinem Abschluss verspürte ich das Bedürfnis, die Armut in den USA, in der ich den Ursprung von so viel Elend sah, zu verstehen. In meinen Augen eignete sich die Soziologie dafür am besten. Also schrieb ich mich in ein Promotionsprogramm der University of Wisconsin in Madison ein, einer Stadt, die ältere Einwohner von Milwaukee als »dreißig Quadratmeilen umgeben von Realität« bezeichnen.
Als ich nach meinem Abschluss anfing, die Armut zu studieren, lernte ich, dass Ungleichheit meist auf zweierlei Arten erklärt wurde. Die erste verwies auf »strukturelle Kräfte«, die außerhalb unserer Kontrolle zu liegen scheinen: das historische Erbe der Diskriminierung zum Beispiel oder grundlegende Veränderungen in der Wirtschaft. Der zweite Ansatz hob die Schwächen des Einzelnen hervor: etwa »kulturelle« Gepflogenheiten (wie dem Zeugen unehelicher Kinder) oder Defizite im »Humankapital« (wie ein niedriges Bildungsniveau). Liberale bevorzugten die erste Erklärung, Konservative die zweite.
Die Armen galten als »unsichtbar« oder als Teil der »anderen USA«.
Auf mich wirkten beide Ansätze unpassend. Jeder von ihnen behandelte einkommensschwache Familien, als lebten sie in Quarantäne. Obwohl es Bücher gab über alleinerziehende Mütter, Gangmitglieder und Obdachlose, schrieben Sozialwissenschaftler und Journalisten über arme Menschen, als seien sie vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten. Die Armen galten als »unsichtbar« oder als Teil der »anderen USA«. Das Ghetto wurde wie »eine Stadt innerhalb einer Stadt« angesehen. Die Armen wurden von der Debatte über die soziale Ungleichheit ausgeschlossen, als glaubten wir, dass zwar die Lebensgrundlagen der Reichen und der Mittelschicht miteinander verknüpft seien, nicht aber die der Armen und aller anderen. Wo waren die reichen Menschen, die einen gewaltigen Einfluss auf das Leben der einkommensschwachen Familien und deren Gemeinschaften ausübten – und die reich waren, weil sie genau dies taten? Weshalb, rätselte ich, haben wir dokumentiert, wie die Armen über die Runden kommen, ohne uns zu fragen, weshalb ihre Rechnungen so hoch sind oder wohin ihr Geld fließt?
Ich wollte versuchen, ein Buch über Armut zu schreiben, dessen Schwerpunkt nicht ausschließlich auf armen Menschen oder armen Orten liegt. Armut verbindet arme und reiche Menschen gleichermaßen, dachte ich. Um Armut zu verstehen, musste ich diese Beziehung verstehen. Also machte ich mich auf die Suche nach den Vorgängen, die arme und reiche Menschen durch beiderseitige Abhängigkeit und Schwierigkeiten aneinanderbinden. Eine Zwangsräumung war ein solcher Vorgang.
Im März 2008 zog ich in Tobins Trailerpark, nachdem ich in der Zeitung gelesen hatte, dass dessen Bewohnern womöglich eine Massenräumung drohte. Diese fand nicht statt, aber ich blieb trotzdem vor Ort, da sich der Trailerpark als geeigneter Ort erwies, um Menschen kennenzulernen, denen die Wohnung gekündigt wurde. (…)
Für mich bedeutet Ethnografie, zu versuchen, Menschen zu verstehen, indem man ihr Leben so vollständig und authentisch wie möglich mit dem eigenen verschmelzen lässt. Dies tut man, indem man eine Beziehung zu den Menschen aufbaut, die man besser kennenlernen möchte, und sie über einen langen Zeitraum hinweg begleitet, dasselbe beobachtet und erlebt wie sie, an ihrer Seite arbeitet und spielt und an so vielen Handlungen und Interaktionen teilnimmt, wie man nur kann – bis man beginnt, sich zu bewegen wie sie, zu sprechen wie sie, zu denken wie sie und etwas so zu fühlen, wie sie es fühlen. In diesem Beruf ist es sehr hilfreich, intensive Feldforschung zu betreiben. Nur so gelangt man zu einer allumfassenden Erfahrung, und man weiß ja auch nie, wann etwas Wichtiges passieren wird.
»Ich habe jahrelang als Krankenpfleger gearbeitet. Aber dann bin ich abhängig von Schmerzmitteln geworden und habe alles verloren – meine Arbeit, mein Auto, mein Haus.«
Ich begann meine Feldstudie im Büro des Trailerparks, wo einige meiner Nachbarn die meiste Zeit verbrachten. Ich war an dem Abend im Büro, als Larraine hereinkam, zitternd und mit einem Räumungsbescheid des Sheriffs in ihrer Hand. Ich sah, wie sie Tobin so viel bezahlte, wie sie konnte, bevor sie sich zurück zu ihrem Trailer schleppte. Ich folgte ihr dorthin. Larraine öffnete die Tür, während sie mit dem Saum ihres T-Shirts ihre Tränen wegwischte. So haben wir einander kennengelernt. Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass ich gerne mit Menschen reden würde, die gerade eine Zwangsräumung durchmachten, bekam Pam meine Telefonnummer in die Finger und rief mich an.
Wenige Tage, nachdem wir uns kennengelernt hatten, begann ich sie und ihre Familie bei der Suche nach einer neuen Bleibe zu begleiten. Pam erzählte Scott von meinem Projekt, und der sagte mir, ich solle bei seinem Trailer vorbeischauen. Als ich das eines Morgens tat, kam Scott heraus und sagte: »Lass uns eine Runde gehen.« Dann erzählte er: »Also, ich lege einfach mal die Karten auf den Tisch: Ich habe jahrelang als Krankenpfleger gearbeitet. Aber dann bin ich abhängig von Schmerzmitteln geworden und habe alles verloren – meine Arbeit, mein Auto, mein Haus.«
Niemand weiß genau, weshalb sich manche Menschen einem Fremden mit Notizblock und Stift so sehr öffnen; weshalb sie einem die Tür aufmachen und einen hereinlassen. Für Mieter, die kurz vor der Obdachlosigkeit standen, gab es materielle Leistungen, wie etwa die Benutzung eines Autos oder eines Telefons, und auch psychologische Hilfe. Einige nannten mich ihren »Seelenklempner«. Aber es ist auch so, dass manche Menschen, die am absoluten Tiefpunkt angekommen sind, glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. An einem Abend im Aldea-Reha- Zentrum nickte Scott, der dort seit einigen Monaten trocken lebte, in meine Richtung – ich kritzelte gerade etwas auf meinen Notizblock – und fragte AA-Urgestein Anna Aldea: »Macht es dich nervös, dass Matt hier ist?«
»Quatsch, nein«, sagte Anna.
»Mein Leben ist ein offenes Buch.«
Scott erwiderte: »Geht mir genauso. Ich habe keinen Stolz oder sowas mehr übrig.«
Als der Herbst kam und Scott, Larraine und Pam und Ned aus dem Trailerpark zwangsgeräumt worden waren, machte ich mich auf die Suche nach einer neuen Unterkunft in der North Side. (…)
Ich ging mit ihnen in die Kirche und zu Beratungsgesprächen, Treffen der Anonymen Alkoholiker, Beerdigungen und Geburten.
Das rooming house befand sich im zweiten Stock eines weißen Zweifamilienhauses. Woo und ich teilten uns das Wohnzimmer, das Bad und die Küche, deren Schränke man verschließen konnte, damit einem die Mitbewohner nicht das Essen klauten. In meinem Zimmer gab es ein Fenster, das mit einer schweren Decke verhängt war, und ein Doppelbett, unter dem ich eine leere Dose Classic Ice, Flugblätter von Narcotics Anonymous, mehrere Nagelknipser und eine Schreibmaschine in einem Plastikkoffer fand. Hinter dem rooming house lagen eine Gasse, deren Wände voller hastig gesprayter Gangster-Disciples-Graffiti waren, und ein Hinterhof mit einem Kirschbaum, der jeden Mai seine Blüten losließ, sodass es aussah, als habe jemand Konfetti geworfen. Ich lebte bis Juni 2009 in diesem rooming house. (…)
Nach einiger Zeit begannen sowohl Mieter als auch Vermieter meine Anwesenheit zu akzeptieren und wieder ihrem alltäglichen Leben nachzugehen. Sie hatten ja auch größere Sorgen. Bei Räumungsklagen saß ich neben den Mietern im Gericht, ich half ihnen beim Umziehen, ich begleitete sie in Unterkünfte und verlassene Gebäude, ich passte auf ihre Kinder auf, stritt mit ihnen, schlief in ihren Häusern. Ich ging mit ihnen in die Kirche und zu Beratungsgesprächen, Treffen der Anonymen Alkoholiker, Beerdigungen und Geburten. Ich folgte einer Familie bis nach Texas und reiste mit Scott nach Iowa. Je mehr Zeit ich mit den Menschen verbrachte, desto mehr entwickelte sich so etwas wie Vertrauen, auch wenn es ein zerbrechliches, stark eingeschränktes Vertrauen war. Noch Jahre, nachdem wir uns kennengelernt hatten, fragte mich Arleen manchmal in einem ruhigen Moment, ob ich für das Jugendamt arbeitete.
Wäre ich kein weißer Mann mit einem Notizblock in der Hand gewesen, hätte er sich vielleicht anders verhalten.
Mein Umzug in die North Side, der Woo anfänglich verwirrte, brachte meine Nachbarn im Trailerpark regelrecht aus der Fassung. Als ich Larraine von meinen Plänen erzählte, weinte sie fast. »Nein, Matt – du weißt nicht, wie gefährlich das ist.« Beaker schaltete sich ein: »Die packen Weiße dort nicht in Watte.« Aber in Wirklichkeit werden Weißen im Ghetto besondere Privilegien gewährt. Zum einen verliefen meine Begegnungen mit der Polizei schnell und unkompliziert, sogar nachdem vor meiner Haustür mehrere Schießereien stattgefunden hatten. Einmal beobachtete ich, wie ein Polizist mit seinem Streifenwagen zu Arleens ältestem Sohn Ger-Ger heranfuhr und sagte: »Mann, bist du am Arsch!« (Ger-Ger hatte eine Lernbehinderung, weshalb er sich langsam bewegte und schleppend sprach.) Als ich aus der Wohnung kam, um mir das genauer anzusehen, blickte mich der Polizist bloß an und fuhr weiter. Wäre ich kein weißer Mann mit einem Notizblock in der Hand gewesen, hätte er sich vielleicht anders verhalten.
Als weißer Mensch, der in der Inner City lebt und darüber schreibt, ist man Gefahren nicht wie kein anderer ausgesetzt, sondern wird vielmehr wie kein anderer von ihnen abgeschirmt. Und die Einwohner der Inner City versteiften manchmal regelrecht in meiner Gegenwart. Sie begannen oft aufzuräumen und um Entschuldigung zu bitten, wenn sie mich zum ersten Mal trafen. Ich mit meinen Ende zwanzig wurde viel öfter »Sir« genannt, als dass mir irgendein junger Schlägertyp sagte, ich solle mir einen »G pass« besorgen – einen »Gangsterpass«, mit dem ich meine weiße Haut erklären könnte. Das ist nicht unwichtig für jemanden, der versucht, das Leben so festzuhalten, wie es tatsächlich gelebt wird. Das Einzige, was man dafür tun kann, ist, so viel Zeit wie möglich vor Ort zu verbringen und sich von der »Sensation« in den »ewig Fremden« zu verwandeln. Gibt man den anderen Menschen genug Zeit, entspannen sie sich in der Regel und kümmern sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten, auch wenn sie unter bestimmten Umständen wieder ihren Schutzwall hochziehen.
Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Version des Epilogs aus Matthew Desmonds „Zwangsgeräumt“.
Das Buch
Die meisten Armen in den USA stecken über die Hälfte ihres Einkommens in die Miete, so dass Zwangsräumungen zu einem alltäglichen Phänomen geworden sind – vor allem für alleinerziehende Mütter. Matthew Desmond nimmt den Leser mit in die ärmsten Viertel von Milwaukee, einer typischen amerikanischen Großstadt. Er erzählt die Geschichte von acht Familien am Rande der Gesellschaft und zeigt in scharf beobachteten, für den Leser unvergesslichen Szenen die frappierende Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Das Buch verändert unseren Blick auf Armut, Ausbeutung und Segregation und erinnert daran, wie wichtig es ist, ein Zuhause zu haben.
„Zwangsgeräumt“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage.