Die gebürtige Berlinerin Romy Straßenburg lebt seit über 10 Jahren in Paris, wo sie als Korrespondentin und Journalistin deutsch-französischer Medien arbeitet. Sie war die Chefredakteurin der deutschen Charlie-Hebdo, unterrichte an einer Pariser Journalistenschule und hat nun mit „Adieu liberté“ ein Buch über die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Frankreich geschrieben. Anlässlich der Veröffentlichung ihres Buchs trafen wir Romy in Berlin zum Interview. Bei einer Cola ohne Eiswürfel und Zitrone sprachen wir über ihre savoir-vivre-Illusion, Sprachvermischungen und einen Alltag zwischen den Erinnerungen an den Terror.

Romy Straßenburg (c) Etienne Laurent
Für mich wäre jede Erfahrung, auch die des Scheiterns, okay gewesen.
Wenn ich jetzt nach 10 Jahren wieder zurück nach Berlin komme, habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem Buch ein Stück von dem mitbringe, was ich in Frankreich erlebt habe.
Was hat sich in Berlin verändert, seitdem Du damals mit 24 Jahren deinen Koffer für Paris gepackt hast?
Ich sehe, wie viel sich dramatisch verändert hat. Als ich nach Paris gegangen bin, empfand ich Berlin nicht sonderlich international. Vielleicht lag das auch daran, dass ich gebürtige Berlinerin bin. Wenn man hier aufwächst und studiert und tagtäglich dieses murrige-knurrige „Dit is doch allet scheiße hier…“ mitmacht, ist es gar nicht so leicht, Leute kennenzulernen, die anders sind. Das war das Tolle an meinem Neustart in Paris: um mich herum waren plötzlich ganz viele verschiedene Europäer. Inzwischen beobachte ich ähnliches aber auch in meinem Berliner Freundeskreis. [schaut sich um] Zumindest hier in Berlin-Mitte.
Woran liegt es, dass diese Entwicklung in Berlin länger gebraucht hat?
Berlin stand viele Jahre ganz für sich, Ost-Berlin war völlig abgeschnitten und hat sich erst nach der Wende zum Ort mit großer Anziehungskraft für Künstler entwickelt. Einige, die vor 15 oder 20 Jahren nach Berlin kamen, sind geblieben und haben Kinder bekommen und dann gibt es natürlich die vielen internationalen Studierenden, die herkommen und die Stadt zu ihrem neuen Zuhause machen. Wenn du heute irgendwo in Mitte einen Kaffee bestellst, dann machst Du das oft schon auf Englisch. Die Leute wollen eben Berlin und nicht Deutschland. In Frankreich ist die Sprache sehr viel entscheidender, ohne Französisch kannst Du geradeso überleben, aber wirklich am Leben teilhaben wird schwierig.
Warum bist Du damals nach Paris gegangen – und geblieben?
Ich habe Französisch studiert und schon während des Studiums bei einer französischen Regionalzeitung gearbeitet. Mir war klar, dass ich nach dem Studium für ein Jahr nach Paris gehen wollte. Zu Beginn habe ich meine Wohnung mit einem Paar aus Frankreich getauscht, die natürlich total auf Berlin standen. Am Anfang habe ich ganz verschiedene Jobs gemacht: ein bisschen Radio, Übersetzungsaufträge und nach und nach steckt man dann drin, bekommt mehr und mehr Anfragen für Jobs. Allerdings wäre es nur schreibend schwierig geworden. Ich kam durch einen Freund zum Nachrichtengeschäft und durfte für das deutsche Fernsehen viele große Ereignisse covern. Das macht in gewisser Weise auch süchtig. Irgendwann bekam ich dann die Anfrage, ob ich die deutsche Ausgabe von Charlie Hebdo leiten wolle.
Ich weiß nicht mehr genau, wann das war, aber irgendwann merkte ich, wie sehr Paris mein Zuhause geworden ist. Ich stellte mir nicht mehr dauernd die Frage, ob und wann ich zurück nach Berlin gehe. Ich hatte aber ohnehin nie das Gefühl, dass ich in Paris unfassbar weit weg von meiner Heimat bin, allein weil meine Berliner Freunde und die Familie sehr treue Besucher in Paris sind.
In deinem Buch gibt es dennoch eine Notiz von Dir an Dich, für den Fall, dass Paris sich nicht von der besten Seite zeigen sollte. Was waren Deine Befürchtungen, als Du die folgenden Worte geschrieben hast?
Liebe R. Dies ist eine Nachricht von mir an Dich. Nun also Paris. So weit, so gut: Hör zu! Lass es uns probieren, aber versprich mir, Du bleibst nie aus Stolz in dieser Stadt. Du musst Dir nicht beweisen, dass Du es mit ihr aufnehmen kannst! Wenn sie Dich nervt, geh zurück, wenn sie Dich anstrengt, geh zurück, wenn sie zu viel von Dir fordert und Dir zu wenig gibt, geh zurück! Du hast noch einen Koffer in Berlin. Deine R.
Wenn man weggeht, hat man immer die Angst, dass man scheitert und sich eingestehen muss, dass es nichts geworden ist. Das wollte ich von vornherein vermeiden. Paris ist eine Herausforderung und in seiner Geschichte für viele Menschen, besonders Kreative, ein Ort, an dem sie eine Zeit ihres Lebens verbracht haben. Für mich wäre jede Erfahrung, auch die des Scheiterns, okay gewesen. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich die meiste Zeit als freie Journalistin in Paris arbeiten würde – ich hätte ja auch institutionell arbeiten können. Es hat sich aber automatisch immer weiterbewegt, was trauriger Weise auch mit Ereignissen wie dem Absturz der Germanwings-Maschine und den Anschlägen auf Charlie Hebdo– Redaktion und den Konzertclub Bataclan zusammenhängt. Ich bin in einer turbulenten Zeit nach Frankreich gekommen.
Waren diese Ereignisse auch der Auslöser, Deine Erfahrungen und Gefühle in diesem Buch zu verarbeiten? Du sprichst darin vom Verschwinden Deines Frankreichs…
Mein Frankreich sagt ja schon aus, dass Frankreich nicht für jeden das gleiche bedeutet. Ich hatte schon im Vorfeld eine Vorstellung von Frankreich und Paris, die sehr klischeehaft war. Ich dachte, dort sei im Gegensatz zu Deutschland, alles viel stilvoller und ästhetischer: liberté, savoir-vivre, laisser-faire und all das. Dieses Frankreich meiner Vorstellung ist recht schnell verschwunden, weil es nicht der Realität entsprach. Frankreich ist viel hierarchischer, bürgerlicher, chauvinistischer. Meine Idealvorstellung von Freiheit war weg. Trotzdem und zum Glück war all das, was nach meiner Desillusionierung von Frankreich übrigblieb, noch immer der Wahnsinn. Angefangenen bei ganz banalen Dingen wie dem Essen, den politischen Diskussionen, dem Rhythmus, den die Stadt vorgibt.
Der gesellschaftliche Rückzugsbereich in Paris ist sehr klein, im wahrsten Sinne des Wortes. Was hinter den Türen stattfindet, sehen die meisten Touristen nicht, denn du brauchst einen Türcode, um in die Hinterhöfe, zu den Wohnungen zu gelangen. Dort verbringt aber ohnehin kaum jemand viel Zeit, weil es einfach zu eng ist und man lieber draußen in den Cafés sitzt und sich auf den Boulevards promeniert. Man ist generell mehr nach Außen gewandt. Was dann aber passierte, die Anschläge und all das politische Wirrwarr von Sarkozy, über Hollande bis zum Duell zwischen Macron und der fürchterlichen Marine Le Pen; das hat das Leben in diesem Frankreich verändert. Wenn man weitab von Paris durch Frankreich fährt und sich all die Zustände der Menschen in den Vororten oder den Provinzstädten anschaut, merkt man auch, dass es nicht überall so ist wie in Saint-Germain im Café, wo – natürlich Klischee – du mit deinen Leuten über das Leben philosophierst. Für manche Leute ist Frankreich ein Land, in dem sie es schwer haben. Man muss sich bloß mal die Gelbwesten anschauen. Wenn ich sage, dass mein Frankreich verschwindet, meine ich damit also, dass zum einen schreckliche Dinge passiert sind, die Frankreich und das Leben der Menschen verändert haben. Zum anderen sehe ich auf einmal Dinge, die vorher nicht in mein Bild von Frankreich gepasst haben, die es aber ganz stark ausmachen.
Frankreich ist nicht das erste Land, das vor Deinen Augen verschwindet. Du erzählst in „Adieu liberté“ auch von deinem Leben in der DDR und ziehst Vergleiche zwischen damals und heute, zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Berlin und Paris. Wie siehst Du dieses ständige „Dazwischen“ in deinem Leben?
Ohne dass ich von Schicksal oder so etwas sprechen will, hat es sich bislang immer so gefügt, dass ich es als Glück empfinde, zwischen den Kulturen zu leben. Man kann das vielleicht mit der Sprache vergleichen: wenn man zwischen zwei Ländern lebt, dann mischen sich zwangsläufig beide Sprachen miteinander. Ich sage zum Beispiel Sachen wie: putain, c’est hyper boring oder bezeichne Freunde als Monsieur oder Mademoiselle, ein bisschen mehr Charme also. Einige Leute erwidern dann, ich sei zu faul, mein Gehirn zu bedienen, um in einer einzigen Sprache nach den richtigen Begriffen zu suchen. Dabei ist es eigentlich genau andersherum. In dem Moment, wo ich so eine bagage culturel mit mir rumschleppe, haben also so eine Fülle an kulturellen Bezügen und Wörtern habe, wählt das Gehirn immer das Wort in der Sprache aus, welches das Gefühl oder die Sache am besten beschreibt, so dass mir das Gesagte inhaltlich und in seinem Klang noch treffender erscheint. So wird etwas ganz Eigenes draus, ohne fremd zu wirken … wenngleich man diese eigene Sprache mit Leuten spricht, denen es ähnlich geht.
Gibt es für Dich so etwas wie eine europäische Identität?
Absolut. Da kann jeder seins reinwerfen: ich komm aus einem Land, das nicht mehr existiert, der nächste kommt aus einer katholischen Familie in Italien und wurde in Frankreich zum Libertin. Meine Freundin zieht mit einer türkischen Frau zusammen ihr Kind auf, die in Berlin Kinder mit Migrationshintergrund Deutsch lehrt. Da sieht man, was für spannende Identitäten entstehen, wenn Menschen in Bewegung sind und neue Beziehungen eingehen.
Merkst Du, trotz europäischer Identität, dass Du in bestimmten Situationen plötzlich zur Deutschen oder zur Französin wirst?
Ja, jetzt gerade zum Beispiel würde man mir wahrscheinlich vorhalten, wahnsinnig prätentiös zu sein. Aber wieso kriegen die es in Deutschland nicht hin, in so ein Cola-Glas Zitronenscheiben und Eiswürfel zu machen, aber wenn ich das vor meinen Freunden sage, verdrehen sie die Augen und sagen, ich solle nicht so stark die Pariserin raushängen lassen. Dabei werde ich nie an echte Pariserinnen wie meine Freundin Camille aus dem Buch herankommen! Denn selbst in dem stylischsten Kleid, hab ich garantiert am Fuß ein Loch in der Strumpfhose.
[wühlt in ihrer Tasche]
Ist es okay, wenn ich mich hier schminke?
[holt ein kleines Täschchen heraus, breitet ihre Schminkutensilien auf dem Tisch aus und beginnt Make-Up aufzutragen.]
Glaub jetzt nicht, dass ich so eitel bin – ich will bloß bei meinem nächsten Termin wach aussehen. In Berlin wird man ja immer ein bisschen schräg angeschaut, wenn man sich in der Öffentlichkeit zurechtmacht. In Paris schminken sich die Frauen einfach in der Metro… aber um auf deine Frage zurückzukommen: Es prägt mich natürlich als Frau in einem Land zu leben, in dem es zahlreiche Bilder und Assoziationen zum Frausein gibt. Mit Eltern aus dem Osten kennst du sowas wie erotische Finesse kaum. Wir sind zum Baden an den FKK-See gefahren, Prüderie kenn ich nicht und will ich mir auch nicht aneignen, zumal ich wahrscheinlich dafür auch nicht geeignet wäre…
Um das französische Umfeld mit dem deutschen zu vergleichen, portraitierst Du verschiedene Beispiele aus deinem Freundeskreis. Was hast Du dabei über Dich und Deine Generation gelernt?
Ich habe ein solches Panorama an Themen wie Liebe, tinder, Politik und Partys in meinem Buch, die alle mit verschiedenen Personen in meinem Umfeld zusammenhängen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich eine Art Generationsportrait der heutigen 30 bis 40jährigen zeichne. Keinesfalls repräsentiert es alle, sondern gilt für mein spezielles Milieu, urban, kosmopolitisch, bisschen öko und hipster. Es gibt so viele verschiedene Lebensentwürfe in meinem Umfeld: manche meiner Freunde haben ein oder zwei Kinder und einen festen Job, andere sind freischaffend und haben kein Kind und entscheiden sich auch bewusst dagegen. Dieses eine Lebensmodell gibt es nicht, aber ich habe schon versucht zu gucken, welche Ereignisse uns alle geprägt haben. Jeder von uns weiß, wo er oder sie am Abend der Anschläge vom 13. November 2015 war oder wie es war, als sie von Charlie erfuhren.
Die Rahmengeschichte in Deinem Buch ist eine Hausparty zum Motto Mauerfall. Wieso war es Dir wichtig, die verschiedenen Menschen, deren Geschichten Du in „Adieu liberté“ erzählst, an einem Ort zu versammeln?
Die Party, die ich in „Adieu liberté“ beschreibe ist eine Art Agglomerat aus den letzten drei Partys. Jedes Jahr veranstalte ich sie um den 09.11. herum bei mir Zuhause. Das Besondere daran ist, dass dort die unterschiedlichsten Menschen und Welten aufeinandertreffen. Nehmen wir zum Beispiel meinen Freund Pierre, der in Syrien eine Geisel des IS war und auf meiner Party auf einmal auf Coco traf, die das Attentat auf Charlie Hebdo miterlebt hat. Daneben standen wiederum die Leute, mit denen ich die Charlie-Geschichte für das deutsche Fernsehen gecovert habe. Dort, auf meiner Party wirkte alles verdichtet. Mir ist klargeworden, dass alles und alle miteinander zusammenhängen.
Die Geschichten, die wir gerade erleben, gehen irgendwann in die Geschichte ein. Das Attentat auf Charlie Hebdo wird bald in den Schulbüchern stehen – und ich habe dort gearbeitet! Andererseits haben ich und meine Kollegen dort auch immer ganz normal miteinander gelebt, standen gemeinsam am Flipper, haben gelacht oder unsere gescheiterten Beziehungen beweint. Ich habe einen ganz normalen Alltag, kaufe mein Klopapier im Supermarkt und denke mir nicht jeden Tag, in welch einer unfassbaren Zeit ich gerade lebe.
Du bist einerseits die Journalistin Romy, die sachlich über die politischen Ereignisse in Frankreich berichtet und gleichzeitig bist Du die Privatperson Romy, die in Frankreich lebt und ganz persönliche Gedanken und Gefühle mit Ereignissen wie den Attentaten verbindet. Besonders deutlich wird diese „Doppelrolle“ in der Situation in Deinem Buch, in der Du ein älteres Ehepaar zu ihren Zeugenaussagen am 13. November befragst. Die Journalistin in Dir ist zufrieden mit dem guten Interviewmaterial, die Pariserin in Dir ist erschüttert, weil es in einer Nacht 130 Tote gegeben hat.
Ich wollte kein Buch schreiben, in dem ich all meine persönlichen Gefühle oder Erlebnisse ausbreite, auch wenn das ein Teil des Buches ist. Aber die Begegnungen, die ich sowohl beruflich als auch privat in meinem Alltag habe, machen natürlich etwas mit mir. Ich wollte nicht über Frankreich schreiben, nur um über Frankreich zu schreiben. Ich wollte so über Frankreich schreiben, wie ich es erlebe und hatte das Glück, dass man mir dazu die Gelegenheit gab.
So, und wer ist jetzt wieder gestorben? [schaut auf ihr Smartphone, das zum wiederholten Male laut vibriert.]
Ist es nicht wahnsinnig nervig und auch belastend, dass Du jederzeit angerufen werden kannst, wenn etwas passiert? Im Buch schilderst Du den Moment, als Du im Skiurlaub von den Anschlägen auf die Hebdo-Redaktion erfährst und innerhalb weniger Minuten live im Radio darüber berichten musst. Als die Anschläge auf das Bataclan passierten, bist Du selbst gerade mit Freunden in einer Bar unterwegs.
Diese Momente sind grauenhaft. Das ist mein Zuhause, in dem plötzlich diese schrecklichen Dinge passieren. In zwei der Cafés, die auch an dem Abend attackiert wurden, war ich mit meinen Eltern, als sie mich besucht haben. Oder das Bataclan, in dem so viele Freunde sich Konzerte anhörten, viele gehen heute nicht mehr dorthin. So etwas übersteigt die eigene Vorstellungskraft. Damals wollte mein Sender, dass ich mit einem Kamerateam die Tatortreiniger im Club begleite. Ich glaube, das war das einzige Mal, dass ich die Redaktion nicht zurückgerufen habe.
Wie ist es nun, ein Buch auf Deutsch in Deutschland über Dein Leben in Frankreich zu veröffentlichen?
Witziger Weise dachten viele meiner Freunde, dass das Buch in Frankreich erscheinen würde. Es ist aber so, dass ich darin viele Dinge schildere, die für Franzosen ganz selbstverständliche sind und die man für Deutsche genauer erklären muss. Für mich ist es tatsächlich eine Art Résumé meiner letzten 10 Jahre – eine Möglichkeit, dieses Leben ins Deutsche zu übersetzen.
[wirft einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und zieht dann noch einmal den roten Lippenstift nach.]
Besser wird`s nicht.
Merci für das Interview.
Das Interview führte Marie Krutmann