Shirley Hazzard: Transit der Venus

Der Roman „Transit der Venus“ ist eine späte Entdeckung. Er wurde im Verlag vorgestellt mit den Worten, man könne die Menschen in zwei Gruppen einteilen: in jene, die den Klassiker der Australierin Shirley Hazzard gelesen haben – und deren Leben er verändert hat – und in die, die ihn nicht kennen. Falls Sie zur zweiten Gruppe zählen, können wir dies ändern. Ein Auszug.

 

Bei Einbruch der Nacht würden die Schlagzeilen Verwüstung vermelden.

An einem wolkenlosen Tag hatte der Himmel sich mit einem Mal heruntergelassen wie eine Markise. Violette Stille ließ die Äste an den Bäumen vor Schreck erstarren und das Getreide auf dem Feld aufrecht stehen wie gesträubte Nackenhaare. Was es an frischer weißer Farbe gab, blitzte zwischen Hügeln und Dünen auf oder zerriss den Straßenrand mit einem Zaunstreifen. Dies ereignete sich kurz nach Mittag an einem Sommermontag im Süden von England.

Erst am folgenden Morgen tauchten überhaupt ein paar kurze Meldungen auf, denn die Zeitungen hatten Platz zu füllen, nachdem die Wahlen, grausame Verbrechen und der Koreakrieg gerade eine Auszeit nahmen – abgedeckte Häuser und zerstörte Obstgärten, aufgeführt in Anzahl und Fläche, und erst ganz am Ende kurz die Erwähnung eines Leichnams unter einer fortgeschwemmten Brücke.

An jenem Mittag wanderte ein Mann unter einem Zweig aus Blitzen langsam in eine Landschaft. Ein Rahmen von  nahezu menschlicher Erwartung umgab diese Szene, die er aus der linken Ecke betrat. Jeder Nerv – denn in solchen Momenten entwickelten selbst Scheunen, Schubkarren und gewebelose Objekte Nerven – wartete, fatalistisch. Nur er, kinetisch, schritt den Umständen zum Trotz auf ein einziges Ziel zu.

Bauern bewegten sich systematisch, brachten Tiere oder rotierende Maschinen ins Trockene. Jenseits des Horizonts gerieten Provinzstraßen bei den ersten Tropfen in Hektik. Scheibenwischer wedelten über Windschutzscheiben, auch die Menschen stürzten und sprangen hin und her, hin und her. Pakete wurden unter Mäntel gestopft, Zeitungen über frische Dauerwellen gehalten. Ein Hund jagte durch eine Kathedrale. Kinder flüchteten aufgeregt von Spielplätzen, Fenster klappten, Türen knallten. Hausfrauen schlugen Haken und schrien: »Meine Laken!« Und plötzlich spaltete ein Lichtstreifen Erde und Himmel.

In diesem Augenblick erreichte der Wanderer den Weg und blieb stehen. Oberhalb von ihm standen um einen steilen Hügel in großen Abständen vier alte Häuser, die das aufgebauschte Land am Boden hielten wie Gewichte. Im Dorf hatte man ihm ihre Namen genannt – nicht die Namen der Besitzer, sondern die der Häuser. Ihre zerfallenden Mauern waren aus gelbbraunem Backstein, eines war an der Seite ganz von Efeu bedeckt, so grün wie ein aufgerichteter Rasen. Das größte und entfernteste der Häuser hob sich von einem Wald ab und beanspruchte Überlegenheit.

Der Mann nahm aus einer entscheidenden Wende seiner eigenen Reglosigkeit die Szenerie wahr, als sähe er vor seinen Augen den Zeiger einer riesigen Uhr zum nächsten Schlag vorrücken. Bei der ersten Woge stürmischen Regens bog er von der Straße ab, stellte den Koffer hin, nahm die durchtränkte Kappe vom Kopf, klopfte sie am Oberschenkel aus und stopfte sie in eine Tasche. Sein Haar sprang auf wie das Getreide zwischen den einzelnen Böen und wurde wie ebendieses rasch nass niedergedrückt. Im Regen erklomm er stetig den Hügel, ohne dabei ein jämmerliches Bild abzugeben. Einmal hielt er inne, um einen Blick zurück auf das Tal zu werfen – oder auf die Senke, wie man sie freundlich zahm nennen mochte. Ein Donnerschlag nach dem anderen fegte hangauf- und hangabwärts darüber hinweg, bis die biegsamen Getreidehalme selbst vibrierten. Auf einem gegenüberliegenden Hügel stand eine Burg – grau, aufgedunsen, mit einem Turm und nicht ungeeignet für einen Sturm.

Als er sich dem letzten Haus näherte, hielt er erneut inne und betrachtete es mit so schlichtem Interesse, als herrschte gutes Wetter. Von seinem in den Nacken gelegten Kopf rann ihm das Wasser in den Kragen. Das Haus verdüsterte sich, blieb jedoch standhaft. Über zwei bis drei Jahrhunderte mit kleineren Anbauten hatte Peverel an Maßstab und Kongruenz festgehalten wie an einem Prinzip und war konsistent geblieben bis auf ein einziges größeres Fenster im oberen Stockwerk – eine absichtliche, frivole Unvollkommenheit, wie ein für ein Schmuckstück durchstochenes Ohrläppchen.

Schlamm floss über Kies und festgestampften Lehm. Gestutzte Ligusterhecken erzitterten. Der Mann watete wie aus dem Meer kommend zum Hauseingang hinauf und zog an einer Türglocke. Rasche Schritte waren womöglich seine eigenen Herzschläge. Die Frau, die ihm öffnete, war in seinen Augen alt. Wäre er selbst ein paar Jahre älter gewesen, hätte er sie vielleicht zu mittelalt befördert. Das Alter war ins glatte graue Haar gewickelt und zeigte sich deutlich in einer Haut, die für Jugendlichkeit zu empfindlich war, sowie in einer aufrechten, wenn auch nicht kriegerischen Haltung. Sie zog ihn über den Bodenbelag einer einst vornehmen Eingangshalle ins Haus. Ihre Augen waren vergrößert und verblasst durch die Entdeckung dessen, was nach allgemeinem menschlichen Empfinden besser im Verborgenen bleibt.

Wie ruhig sie ihre Namen nannten und dabei die Brandung in seinem Rücken und seine durchtränkten Kleider ignorierten. Von seinem billigen Koffer sickerte Orange auf den schwarzweißen Fußboden, während Ted Tice wie angewiesen seinen Regenmantel auszog und an einen Ständer hängte. In der kalt eingeseiften und glänzend gebohnerten Leere wurde ein scharfer Geruch von nasser Wolle, Socken und Schweiß freigesetzt.

All diese trägen Angelegenheiten hatten nur Sekunden in Anspruch genommen, innerhalb derer man auch wahrnehmen konnte, dass der Eingangsbereich rund war und dass unter einem dunklen, goldgerahmten Bild auf einem Tisch neben einer der üblichen  Zeitungen eine Schale mit Rosen stand. Unter einer geschwungenen Treppe öffnete sich eine Tür auf einen mit einem Perserläufer ausgelegten Flur. Und darüber, auf dem Bogen der Treppe, stand reglos eine junge Frau.

Tice blickte zu ihr auf. Es wäre unnatürlich gewesen, es nicht zu tun. Er blickte auf von seinen nassen Schuhen und seinem nassen Geruch und seinem orangefarbenen Fleck billigen Gepäcks. Und sie blickte von oben herab, auf dem Trockenen. Er hatte eine Ahnung von ihrem Körper in all seinen Dimensionen – als hätte er sie einmal umrundet und ihr starkes Rückgrat, das schwarze Haar, das sich über der markanten Wölbung im Nacken teilte, und die zarte Falte ihrer Kniekehle gesehen. Ihr Gesicht lag im Schatten. Ohnehin wäre es zu passend, zu perfekt gewesen, hätte sie sich als schön erwiesen. »Ich habe nach Tom gesucht«, sagte sie und verschwand.

Ted Tice griff nach seinem zerfließenden Koffer: ein Neuankömmling, der unter den Eingeweihten seine Meinung für sich zu behalten hatte. Der bald selbst nach Tom suchen oder wissen würde, weshalb andere  nach ihm Ausschau hielten. »Meinem  Ehemann«, sagte Charmian Thrale, »geht es schon sehr viel besser, und er wird zum Lunch herunterkommen.« Ted Tice sollte im Juli und August mit Professor Sefton Thrale, dem es schon sehr viel besser ging, zusammenarbeiten. Einstweilen wurde er von Mrs Thrale den Perserteppich hinuntergeführt, vorbei an alten Fotografien, einem gerahmten Brief mit goldenem Wappen und einer Serie von Stichen der britischen Häfen. Als Nächstes würde Mrs Thrale sagen: »Dies ist Ihr Zimmer«, und dann wäre er allein.

Sie blieb im Türrahmen stehen, während er seinen neuen Fußboden überquerte, um den Koffer dort abzustellen, wo er am wenigsten Schaden anrichten würde. »Hinter der Flügeltür am Ende des Korridors finden Sie das Zimmer, in dem wir uns aufhalten. Warten Sie dort, wenn Sie fertig sind, eins der Mädchen wird nach Ihnen sehen.« Als würde es ihm etwas ausmachen, allein gelassen zu werden, wo er es doch zu jeder Zeit begrüßte. Sie erwähnte auch das Badezimmer. Dann erklärte sie, sie würde den Tisch decken gehen. Irgendwann würde er das auch lernen: selbstsicher zu sprechen und den Raum zu verlassen.

Durch das einzelne niedrige Fenster sah man verschwommen verschiedene Büsche und ein Stück von einem nassen Lattenzaun, schief und vom Fensterrahmen beschnitten, wie ein ungeschickt aufgenommenes Foto. An einigen Stellen klebte noch verkrustete Verdunkelungsfarbe an der Scheibe. Das Schlafzimmer war schlicht und mochte einst für einen Diener von höherem Rang genügt haben. Tice dachte diese Worte, Diener von höherem Rang, ohne zu wissen, was sie zu ihrer Zeit bedeutet hatten. Er war hierher gesandt worden, um einem angesehenen, bejahrten und kränklichen Wissenschaftler beim Verfassen eines Gutachtens über den Standort für ein neues Teleskop zu helfen, und war möglicherweise selbst ein Diener von höherem Rang. Er war jung und arm und verfügte über die besten Referenzen – wie eine Gouvernante, die in einer alten Geschichte in die adlige Familie einheiratet.

Er verstreute zerknitterte  Kleidungsstücke im Raum und  durchwühlte seine Taschen nach einem Kamm. Selbst sein feuchtes Haar verströmte einen rostroten Geruch. Er legte seine Bücher auf einen Schreibtisch, der mit einer Garnitur aus Messing und Porzellan und zwei Holzstiften ausgestattet war. Summend setzte er sich, um seine Schuhe zu wechseln, und tauschte das Summen hin und wieder durch den Text eines alten Liedes aus: »Blow the wind southerly, southerly, southerly, Blow the wind south o’er the bonny blue sea.« Dann hielt er sich nachdenklich die Faust vor den Mund und starrte dabei vor sich hin, als könnte er es erst allmählich glauben.

Der Raum mit den Flügeltüren war so kalt wie der Korridor. Sessel hässlichen Komforts, ein steifes, zierliches Sofa, Bücher, die eher ältlich waren als alt, noch mehr Blumen. Der Wind schauderte  in einem eisigen Kamin, das Unwetter war ein Wasserfall vor dem Erkerfenster. Ted Tice setzte sich in einen der plumpen, zerschlissenen Sessel und lehnte den Kopf gegen das altbackene Extra-Plüschkissen, versunken in Neuheit und noch bevorstehende Neuheit. Der Raum mochte einst ein Arbeitszimmer gewesen sein, oder ein Morgenzimmer – wobei der Ausdruck »Morgenzimmer« derselben vagen literarischen Gattung angehörte wie der Diener von höherem Rang. Irgendwo gab es einen größeren Raum, offenkundig unheizbar, closed up for the duration. Die Formulierung aus Kriegszeiten kam einem rasch in den Sinn, noch im Frieden und noch während man sich fragte: die Dauer von was?

Im Kamin, unter dem leeren Rost, lagen fünf oder sechs Brocken getoasteten Brots aufgereiht, die mit einer dunklen Paste bestrichen und von Asche überzogen waren. Er war an Kälte gewöhnt und saß so behaglich da, als wäre es in dem Raum warm gewesen. Physisch konnte er diese Unbekümmertheit in Gegenwart anderer nicht zum Ausdruck bringen, da ihm die vollausgewachsene Version seines Körpers noch nicht ganz vertraut war, im Geiste jedoch war er entspannt, agil und gelassen. Alles wies darauf hin, dass sein Körper einen anderen Bewohner erwartet hatte. Er nahm an, die beiden würden im Laufe der Zeit noch miteinander in Einklang kommen – so wie er mit der Zeit erfahren würde, dass das geschmierte Toastbrot dort lag, um Mäuse zu vergiften, und dass Tom die Katze war.

Neben  seinem Sessel lag ein Buch, in dem ein Bleistift als Lesezeichen steckte. Er nahm es zur Hand und las den Buchrücken: »Zanoni. Ein Roman des Sehr Ehrenwerten Lord Lytton«. Es schien nicht abwegig, dass ein solches Buch in einem solchen Raum im Regal stand. Dass es offen dalag und gelesen wurde, wirkte dagegen schon unwahrscheinlicher.

Für einen Augenblick dachte er, dass nun dasselbe Mädchen eintrat, das Mädchen von der Treppe. Es lag daran, dass sie Schwestern waren, allerdings war die nun Anwesende blond und kleiner. Sie sagte: »Ich bin Grace Bell.« Der junge Mann stand auf und bot erneut seine Hand und seinen Namen dar. Sie trug ein sehr gutes neues Wollkleid in der Farbe von Rosen. Sie wussten beide – alles andere war unmöglich –, dass er sie schön fand. Doch weil sie jung waren, taten sie, als wüssten sie nichts von dieser oder auch jeder anderen Schönheit. 

»Man hat Sie lange hier allein gelassen.«

»Ich habe es gar nicht bemerkt.« Obwohl seinerseits kein Verschulden vorlag.

»Das Licht ist ausgegangen. Ich wurde geschickt, um Sie zu holen.«

Wegen des Sturms hatte er dort im Dunkeln gesessen.

»Hier entlang.« Sie sprach in kurzen Mitteilungen. Ihre Selbstsicherheit bewies, dass sie schon als Kind hübsch gewesen war. »Was für ein reizendes kleines Mädchen«, und dann: »Grace verwandelt sich in eine – aus Grace ist eine regelrechte Schönheit geworden.« Die Schönheit hatte sich nach innen und außen gerichtet. Es hatte auch Benimmunterricht gegeben. Er bewunderte ihre Fähigkeit, mit ihm auf den Fersen geschmeidig zu gehen. Sie war alles andere als mollig, machte  jedoch einen weichen, nachgiebigen Eindruck. Das Kleid erschien ihm außergewöhnlich – der Stoff, der Schnitt. Zum ersten Mal nahm Ted Tice wahr, wie ein Kleid geschneidert war, auch wenn er schon oft angesichts eines unerschrockenen Auftritts in der Kleidung armer Leute zusammengezuckt war.

Das rosenrote Kleid war per See- und Landpost aus Kanada gekommen, verschickt vom Sohn des Hauses, einem Regierungsbeamten, mit dem Grace Bell verlobt war. Bei seiner Rückkehr nach Großbritannien  von der Ottawa-Konferenz würde er ihr ein weiteres Kleid mitbringen, und danach würden sie heiraten. Eine kleine gekräuselte Chrysantheme von einem Hund geriet über ihr Auftauchen in Verzückung. »Grasper, Grasper.« Der Hund  sprang sprachlos auf und ab. Irgendjemand  läutete  eine Glocke. Grace öffnete eine Tür. Und ganz von selbst ging das Licht an, wie auf einer Bühne.

 

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus Shirley Hazzards „Transit der Venus“.


Das Buch

Die ungleichen Waisen Caro und Grace Bell verlassen Australien, um in England nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben zu beginnen. Sie treffen dort auf die Männer, mit denen sich ihre Leben in den folgenden drei Jahrzehnten durch alle politischen Verwerfungen und über die Kontinente hinweg verweben.

„Transit der Venus“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage.

 

 

 

 

Shirley Hazzard

Shirley Hazzard

Shirley Hazzard, geboren 1931 in Sydney, war die größte australische Schriftstellerin der Gegenwart. Mit ihren Eltern lebte sie in Südostasien und Neuseeland, in den 1950ern arbeitete Hazzard bei den Vereinten Nationen in New York. Mit ihrem Mann Francis Steegmuller verbrachte Hazzard die Sommer auf Capri, sie lebte abwechselnd dort und in New York.

Seit den 1960ern veröffentlichte Shirley Hazzard zahlreiche Kurzgeschichten, mehrere Romane und Sachbücher. Transit der Venus, ihr dritter Roman, ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Awards 1980, gilt als Klassiker der angelsächsischen Literatur. Shirley Hazzard starb am 12. Dezember 2016 in Manhattan.

Foto: © Gasper Tringale

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