Neu definiert und frisch verpackt? Jochen Kalka über die StartUp-Lüge

Neun von zehn StartUps scheitern. Feste Arbeitsverträge gibt es nicht. Ausbeutung ist der Normalzustand und Frauen spielen in den meisten nur eine untergeordnete Rolle. Jochen Kalka hat selbst vor einigen Jahren ein StartUp gegründet, nur würde er es selbst nie als solches bezeichnen. Weshalb es ihm schwer fällt, ernst zu bleiben, wenn „hochdotierte und durchaus gebildete Zweifüßler in Sneakers“ von Disruption sprechen, erklärt er hier. 

 

Gespräche, Interviews, Recherchen – das ist ein Großteil meines Lebens als Chefredakteur, der über Medien, Agenturen und Werbung schreiben darf. Neulich schon wieder: Anfang 2019, eines der unzähligen Interviews, die ich mit allwissenden Marketingmenschen, weltverändernden Agenturchefs oder mutigen Medienmanagern führe, da fiel es gefühlt zum zweihundertdreiundsiebzigtausendstenmal, das Wort „Disruption“. Und wenn dieses verräterische Schlagwort fällt, dann dauert es keine zwei Minuten mehr, bis das Gegenüber Begriffe wie „Blockchain“, „Scrum“, „Customer Experience“ oder irgendwas mit „Lean“ in den Raum wirft und wenige Augenblicke später sich und sein Unternehmen als verkörperte Startup-Kultur sieht.

Was ich mit StartUps zu tun habe? Ich schreibe oft darüber in Fachzeitschriften. Ich bin in diversen Jurys, in denen StartUps um Gelder pitchen. Und ich selbst habe auch mal ein StartUp gegründet. Nur wusste ich nicht, dass es ein StartUp ist. Wir waren zu zweit, mussten neben einem zeitraubenden Job nebenbei ein Patent anmelden, einen Prototyp anfertigen, eine Produktionsstätte in China suchen, eine Vertriebsfirma in Düsseldorf. Unser StartUp war die Erfindung eines neuen, aufschiebbaren Knopfes, der auch als Werbeträger funktioniert. Geldgeber hatten wir keine. Wäre eine gute Idee gewesen, um das durchaus skalierbare Geschäftsmodell schnell voranzutreiben. Aber wir hatten auch keine billige Exit-Strategie. Die Werbeartikel-Firma Kandinsky vertreibt unser Knopfpatent in ganz Europa. Heute noch. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Aus meiner Sicht hat sie mit StartUp so gar nichts zu tun. Obwohl es jeder Gründer als StartUp bezeichnen würde. Wer mit Herz gründet, dem ist es am Ende völlig egal, ob es ein StartUp ist oder ein primitives Knopfgeschäft.

Inzwischen fällt es mir schwer ernst zu bleiben, wenn hochdotierte und durchaus gebildete Zweifüßler in Sneakers wahllos ins literarische Blendwerkregal der virtuellen StartUp-Bibliothek greifen. „Disruptiv“ steht dabei ganz vorne, denn wer disruptiv unterwegs ist, verwirft alles bisher Dagewesene, um voller Schwung, Kreativität und Energie die Welt neu zu erfinden. So wie es Uber und Airbnb gemacht haben, so wie es Bitcoin im Bankenwesen wagt. Jeder Manager, jeder Entscheider, so scheint es, will in seinem Sandkasten mit den gleichen Schäufelchen spielen wie das coole Nachbarskid aus dem Silicon Valley. Wer disruptiv agiert, fühlt sich wie ein Rocker, dessen Schallwellen Mauern einreißen. Aha.

Entsprechend verkleidet sich das Karrierevolk: Einst waren Anzüge eine Investition für den beruflichen Aufstieg, je dunkler, desto weiter nach oben ging die Aufzugfahrt. Gut, dass die Epoche der Pinguinpopulationen in den Chefetagen vorbei ist, auch wenn die Krawatte nicht nur Zeichen der Macht, sondern auch des Respekts war. Doch, um ehrlich zu sein, heute steht es um den Zwang der Uniformierung nicht besser. Chucks oder Sneakers. Jeans oder Chinos – es mag kein Zufall sein, dass der Twillstoff von Chinos vor anderthalb Jahrhunderten für britische Uniformhosen verwendet wurde. Die obere Körperhälfte wird – je nach Jahreszeit – von simplen Spruch-Shirts („Do the epic shit!“), Sweaters oder Hoodies bedeckt, bei Männern wie bei Frauen. Dass ein Facebook-Gründer, heiliges Vorbild eines jeden StartUps, seine Kleidermasche lediglich von Apple-Gründer Steve Jobs abgekupfert hat, der wiederum die Idee, stets die gleichen Textilien zu tragen, von Sony aus Japan abgeschaut hat, sei nur am Rande erwähnt. Sony stellte in den mageren Nachkriegsjahren allen Mitarbeitern Dienstkleidung. Ja, als eine Art Uniform.

Was denn nun so disruptiv sei, frage ich in meinem Interview. Mein Gesprächspartner, Siliconvalleybart, Nerdbrille, weiße Turnschuhe, sagt, er habe die Abteilung disruptiv verändert.

Ich verstehe nicht, weil ich nicht verstehen will.

Nun ja, alle Mitarbeiter würden heute analoge wie digitale Kanäle bedienen. Aha. Ich beschließe, dass ich dumm bleiben will. Was auch immer der Mensch damit gemeint haben mag, disruptiv ist hier gar nichts. Wie fast überall, wo ich nachfrage.

Aber natürlich sei er aufgestellt wie ein StartUp, folgt eine weitere Erklärung für das Nichts. Auch diese Floskel wiederholt sich in meinen Interviews in einer Endlosschleife. Ich befürchte, dass in meinen letzten 200 geführten Interviews vielleicht drei Mal das Wort „StartUp“ NICHT in irgendeiner Form begegnet ist. Egal.

Auch hier werde ich, wie so oft, aufgrund meines verständnislosen Blickes durch die neu sortierten und meist jugendlich gestalteten Büroräume gezerrt. Immer das gleiche Bild: Hier Palettenmöbel, dort Flying Desks, da ein Kicker. Hier grellgrüne Wände, dort von der Decke hängende Monitore, die in Echtzeit die fleißigsten Mitarbeiter würdigen. Da ein leerstehender Kreativraum, der wirklich cool eingerichtet ist, mit einer hippen Metall-Holz-Kombi. Dort ein Ausruhzimmer mit treppenförmigen Flächen, mit Computerspielen und einem Aquarium.

Und was ist hier Startup, außer der Optik? Alle Mitarbeiter seien umgezogen, alles sei neu sortiert, es gebe fast keine festen Arbeitsplätze mehr, die Leute würden Sitzungen auf Palettenmöbeln lieben…

Was hier nun wirklich neu ist, bis auf die Verpackung der Arbeitsplätze, wird mir nicht klar. Aber mit der Verpackungskunst habe ich es eh nicht so.

Anders wohl die Unternehmen, sogar Konzerne: Wenn sie einen neuen Geschäftsbereich definieren, wird er frisch verpackt und liebevoll StartUp genannt. Gut, zugegeben, klingt auch besser als bisher, wo er zum Beispiel U276 hieß oder NAb12f. Daimler, Schraubenking Würth oder Siemens, sie alle sind im Gründungsfieber von Startups. Mit diesem magischen Wort gewinnt man problemlos billige Mitarbeiter, die zum Scheitern bereit sind und selbst dieses am möglichen Ende noch zelebrieren, in sogenannten Fuckup Nights.

Gut, kann man so machen. Ist es aber das, was mein Gegenüber vonwelcherfirmaauchimmer will? Wenn er von Disruption, von StartUp-Kultur spricht?

Warum erzählen Manager nicht einfach davon, wie sie ihre Unternehmensbereiche wieder flott machen, wie sie neue Zielgruppen erschließen oder neue Wege verfolgen? Warum nennen sie alles, was neu ist, StartUp? Warum verkleiden sie sich, um so zu tun, als würden sie nicht den Anschluss verlieren. Den Anschluss an was eigentlich?

Warum alle Welt so sein will wie ein StartUp, ist mir unbegreiflich, wenn StartUps kein klares Ziel definieren können, Märkte zu gering kennen, Kundeninteressen fehlinterpretieren oder gar nicht erst beachten, Finanzierungsrunden mit großer Klappe begleiten, da sie womöglich nur auf den Exit aus sind, also die optimale Kapitalisierung, ohne sich um die Zukunft des StartUps Gedanken zu machen, Frauen ungleich behandeln, Sexismus in negativster Weise dulden, und, und, und…

Dabei wäre die Idee eines StartUps per se so schlecht nicht. Wahrscheinlich ist es nie so einfach gewesen, an Gelder zu gelangen, vor allem, wenn die Idee skalierbar ist, also auf größere oder andere Bereiche übertragbar. Hierarchieloses Arbeiten kann neue Chancen eröffnen. Günstige Räumlichkeiten halten die Startkosten gering, erfahrene Investoren, die zugleich als Berater fungieren, können die Perspektiven eines jeden StartUps schon aus Eigeninteresse definitiv verbessern.


 

Neun von zehn StartUps scheitern. Feste Arbeitsverträge gibt es nicht. Ausbeutung ist der Normalzustand. Coole Loungesessel und Gratis-Drinks gibt es nur, damit durchgearbeitet wird. Frauen? Spielen in den meisten StartUps nur untergeordnete Rollen. Viel heisse Luft, Klick-Dummies, Prototypen und BetaPhasen wetteifern um vermeintliches Investitionskapital. Und trotzdem wollen viele Chefs, dass in ihrem Unternehmen aus so gearbeitet wird und viele Angestellte wünschten sich auch in einem StartUp zu arbeiten Warum? Weil es cool ist. Jochen Kalka konfrontiert die Modeerscheinung StartUp mit der Realität.

Jochen Kalka

Jochen Kalka

Dr. Jochen Kalka *1964, Germanist und Politikwissenschaftler, ist seit 2006 Chefredakteur aller Titel der Werben & Verkaufen GmbH in München. Dazu gehören w&v – Werben & Verkaufen, Der Kontakter und LEAD digital. Zuvor war er Chefredakteur des marketingjournals und, seit 2000, von media & marketing, das spätere w&v Media. Bereits 1992 hatte er bei W&V volontiert, 1996 ging er als Pressereferent zunächst zu Schitag, Ernst & Young, dann zum Burda-Verlag. Außerdem ist er Autor des von der Presse sehr gelobten Winnenden. Ein Amoklauf und seine Folgen (2011 bei DVA)

Foto: © standard

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