Svenja Gräfen: „Kollektives Wohnen wird oft stark romantisiert oder idealisiert.“

In ihrem zweiten Roman „Freiraum“ erzählt Svenja Gräfen die Geschichte eines Paars, das an den Stadtrand zieht, um in einem Wohnkollektiv zu leben. „Sie befreien sich von den immer weiter steigenden Mieten, dem Hamsterrad und der Anonymität der Großstadt, und besonders aufgrund ihres Kinderwunschs erhoffen sie sich ein solidarisches Umfeld, ein sicheres Netz“, erklärt die Autorin uns im Interview. Warum sie findet, dass das Leben in der Kommune eine weitergedachte WG ist und man es nicht romantisieren sollte, erfahren Sie hier.

Svenja Gräfen-Constantin Timm_Freiraum

(c) Constantin Timm

 

Liebe Svenja, worum geht es in deinem neuen Roman „Freiraum“?

Es geht um die Frage, ob es möglich ist, das Leben zu führen, das man sich vorstellt und wünscht, und was passiert, wenn falsche Kompromisse eingegangen werden. Konkret geht es um Vela und Maren, eigentlich ein glückliches Paar Anfang dreißig, sie wünschen sich ein Kind. Aber aus ihrer zu kleinen und schimmelnden Wohnung können sie nicht ausziehen, weil sie keine neue finden. Und statt Karriere zu machen stecken sie resigniert in Übergangsjobs fest. All die Pläne, die sie mit Mitte zwanzig hatten, zerplatzen nach und nach. In dieser Situation stoßen sie dann auf ein vermeintliches Idyll in Form eines Hausprojekts am Stadtrand. Solidarisches Leben im Kollektiv mit sieben weiteren Menschen – was ihnen zunächst wie die Lösung all ihrer Probleme erscheint, bekommt jedoch ziemlich schnell Risse. Es herrscht eine seltsame Dynamik im Haus, alle dort kreisen um Theo, ohne dass das jemand zugeben würde. Vor allem Vela fühlt sich immer unwohler und ihre Ahnung, dass in der Gemeinschaft und mit Theo etwas nicht stimmt, beginnt sich zu bestätigen.

Wieso denken Vela und Maren, dass sie in einer Kommune auf dem Land mehr Freiraum haben? Schließlich wohnen sie dort mit deutlich mehr Leuten zusammen, mit denen sie sich räumlich arrangieren müssen.

Sie entscheiden sich vor allem deshalb so Hals über Kopf für den Einzug, weil das nach jahrelanger erfolgloser Suche endlich eine Möglichkeit darstellt, ein Weg hinaus ist aus einer Situation, in der sie nicht mehr sein wollen. Sie befreien sich von den immer weiter steigenden Mieten, dem Hamsterrad und der Anonymität der Großstadt, und besonders aufgrund ihres Kinderwunschs erhoffen sie sich ein solidarisches Umfeld, ein sicheres Netz. Dafür gehen sie den Kompromiss ein, das Haus – und im Prinzip alles – mit den anderen zu teilen. Das klingt ja auch erst einmal nicht wie etwas Schlechtes…

Das Konzept der Kommune, in der Freunde zusammenleben und sich gemeinsam um die Kinder von allen kümmern etc., erinnert stark an die 70er. Woher kommt dieser Wunsch nach einer Rückkehr zum Leben im Kollektiv deiner Meinung nach?

Kollektives Wohnen hatte womöglich eine Hochphase in den 60ern und 70ern, ich denke aber, dass ein Experimentieren damit zuvor schon und auch seitdem eigentlich ständig stattfindet – letztendlich ist es ja auch bloß eine weitergedachte WG. Oder eine WG mit mehr Commitment. Inzwischen ist der Wunsch vielleicht häufiger auch Mittel zum Zweck – nicht, weil man nicht anders wohnen will, sondern weil man sich ganz einfach auf anderem Weg kein Eigentum oder generell keinen Wohnraum leisten kann. Gerade für Menschen mit Kindern kann so etwas attraktiv sein, wegen alternativer Betreuungskonzepte und um sich nicht plötzlich in Isolation wiederzufinden.

 

Natürlich kann man schnell mal behaupten, dass es keine Hierarchien gibt, man kann sogar ehrlich versuchen, so zu leben – aber man befreit sich eben nicht automatisch von sämtlichen Denkmustern, bloß weil man nicht das klassische Kleinfamilienleben lebt. 

 

Wie sieht das von dir beschriebene Leben im Kollektiv aus? Wird hier versucht, etwas Neues, eine neue Art des Zusammenlebens zu schaffen?

Zumindest ist das der Wunsch und die Vorstellung der Bewohner*innen. Es soll keine Zweckgemeinschaft sein, sie unterstützen einander – auch finanziell – , sie teilen alles. Gewissermaßen haben sie den Anspruch, alles irgendwie „besser zu machen“ – und dabei merken sie aber nicht, wie sie an Grenzen stoßen und einige auch überschreiten.

In der Theorie soll es keine Hierarchien geben. (Wie) kann so etwas funktionieren?

Überhaupt nicht! Genau das ist der Trugschluss – oder das Bild, mit dem ich brechen wollte: Ich denke, kollektives Wohnen wird oft stark romantisiert oder idealisiert. Natürlich kann man schnell mal behaupten, dass es keine Hierarchien gibt, man kann sogar ehrlich versuchen, so zu leben – aber man befreit sich eben nicht automatisch von sämtlichen Denkmustern, bloß weil man nicht das klassische Kleinfamilienleben lebt. Natürlich gibt es auch in alternativen Kommunen und Hausprojeken Machtgefälle und letztlich dieselben Probleme wie in der restlichen Gesellschaft. Auch ein wöchentliches Plenum sorgt nicht automatisch dafür, dass auf Augenhöhe und ehrlich miteinander kommuniziert wird.

Wie wirkt sich das Leben im Kollektiv auf die Beziehung zwischen Vela und Maren aus?

Sie sind sehr unterschiedliche, fast schon gegensätzliche Charaktere. Maren ist so ein Freigeist, eine Optimistin, die sich schnell auf neue Ideen und Menschen einlassen kann, während Vela eher vorsichtig, eher skeptisch ist, die Dinge zerdenkt. Ihr fehlt so ein gewisses Grundvertrauen, das bei Maren dafür stellenweise etwas zu stark ausgeprägt ist. Was sie seit Beginn ihrer Beziehung verbindet, ist vor allem ein gemeinsames Träumen, das gemeinsame Vorstellen ihres Lebens, so eine gemeinsame Suche. Während diese Suche für Maren mit dem Einzug ins Hausprojekt abgeschlossen zu sein scheint, geht sie für Vela weiter. Sie fühlt sich im Gegensatz zu Maren überhaupt nicht angekommen, kann sich nicht von alten Vorstellungen lösen und stößt dann auch noch auf die sehr realen Probleme innerhalb der Hausgemeinschaft, die Maren nicht wahrhaben will. So drängt sich auch erstmals in der Beziehung etwas zwischen die beiden.

Wer sind die anderen Menschen, die sich für das Leben in der Kommune entschieden haben?

Da ist noch Jo, Marens Schwester, die mit ihrem Freund Karsten und dem gemeinsamen Kind Eli schon von Anfang an dabei war. Außerdem Karstens bester Freund Theo, dem das Haus gehört, und seine Partnerin Ellen, dann noch Nat und Darek, der erst ein paar Monate vor Vela und Maren eingezogen ist. Für sie alle ist es ein Experiment, eine Versuchsanordnung; sie sind aus unterschiedlichster Motivation heraus eingezogen – und letztlich sind sie alle auf der Suche nach etwas, das sie in dieser Gemeinschaft gar nicht finden können.

 „Natürlich muss Vela sich daran gewöhnen. An Theo, und an Theos Blicke, die sie erst noch durschauen muss.“ Wer ist Theo und woher kommt Velas Unbehagen?

Um Theo kreisen sämtliche Bewohner*innen. Er ist extrem charismatisch und schafft es in der Regel, sehr schnell ein Gefühl von Nähe entstehen zu lassen. Aber er ist auch jemand, der andere, bewusst oder unbewusst, kontrollieren will und das auf verschiedene Arten auch tut. Er muss die Fäden in der Hand haben. Hinzu kommt noch seine Rolle als Besitzer des Hauses – der sich nach außen hin aber nicht um Besitz schert, „das Haus gehört denen, die es bewohnen“, er inszeniert sich als ungefährlich, aufgeklärt, als netter Typ und versteckt damit, wie viel Macht er eigentlich hat. Vela ist er von Anfang an nicht geheuer, und während sie noch nicht sicher ist, ob das tatsächlich an ihm oder an ihrer Wahrnehmung liegt, erfährt sie immer mehr Dinge und durchschaut dadurch Abhängigkeiten.

 

Ich denke, jede Person, egal wie alt, hat irgendwie den Wunsch, selbstbestimmt das Leben zu führen, das sie führen will.

 

Wie hast du für den Roman recherchiert? Machst du die Erfahrung, dass viele junge Erwachsene in deinem Umfeld einen ähnlichen Traum nach Freiraum haben wie Vela und Maren?

Ich hab darüber nachgedacht, zur Recherche in ein Hausprojekt zu ziehen, dann aber festgestellt, dass es mir nicht darum geht, abzubilden, wie ein Leben in der Kommune aussehen kann, welche Regeln es gibt und so weiter. Mehr als um das Wohnkonzept an sich geht es ums Zwischenmenschliche, um das Hadern mit und das Anzweifeln von getroffenen Entscheidungen. Ausgehend von Velas Perspektive habe ich mich an die anderen Figuren und das Zusammenleben im Haus dann heran geschrieben.

Was den Traum von Freiraum angeht – natürlich. Ich denke, jede Person, egal wie alt, hat irgendwie den Wunsch, selbstbestimmt das Leben zu führen, das sie führen will. Aber erstens bedeutet das auch für jede*n etwas anderes und zweitens ist es auch nicht immer möglich oder zumindest von vielen Faktoren abhängig. Die einen fühlen sich frei, wenn sie neben der Lohnarbeit noch Zeit für Hobbys haben, die anderen müssen vielleicht permanent Teile ihrer Identität verstecken, fühlen sich daher nie ganz frei. Und dann gibt’s ja auch noch den Zwist zwischen innerer und äußerer Freiheit. Bei Vela und Maren ist der Wunsch zunächst ja auch eigentlich ‚nur’ der: Sie suchen einen Ort, an dem es für sie möglich ist, eine Familie zu gründen.

Während der Arbeit an deinem zweiten Roman warst du Teilnehmerin des Literaturkurses in Klagenfurt. Hat sich der Schreibprozess dadurch (oder generell) von dem deines ersten Romans „Das Rauschen in unseren Köpfen“ unterschieden?

Der größte Unterschied ist wahrscheinlich, dass ich diesmal viel länger einfach nur über die Geschichte, die Figuren nachgedacht und mehr geplottet habe. Beim „Rauschen“ habe ich einfach drauflos geschrieben, das ist mir bei „Freiraum“ zunächst schwer gefallen. Viele Szenen habe ich diesmal erst drehbuchartig skizziert und bin dann davon ausgehend in die Details gegangen. Am Ende war es dann doch ziemlich ähnlich – ich habe nicht chronologisch, sondern durcheinander geschrieben, war zwischenzeitlich ziemlich verwirrt und habe dann irgendwann angefangen, die einzelnen Stränge und Kapitel zu ordnen und aneinander zu puzzeln. Dabei hatte ich vor allem Unterstützung durch meinen Agenten und durch Freund*innen, mit denen ich auch immer wieder über den Text gesprochen habe.

Vielen Dank für das Gespräch. 

 

Das Interview führte Marie Krutmann.


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Eigentlich führen Vela und Maren eine glückliche Beziehung, sie hegen einen gemeinsamen Kinderwunsch. Aber all ihre Träume und Pläne zerbröseln zunehmend an den Anforderungen der Großstadt. Maren will ausbrechen und ein alternatives Leben führen; am Rande der Stadt, in einem Haus mit vielen anderen, ohne Mieterhöhungen und permanente Konkurrenz. Hier ist auch Theo, um den in dieser Gemeinschaft alles kreist. So wie er versuchen Vela und Maren ihren neuen Platz zwischen Hoffnung, Zukunftsangst und der Frage nach dem richtigen Leben zu finden.

Svenja Gräfen

Svenja Gräfen

Svenja Gräfen, geboren 1990 und aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, ist Schriftstellerin und feministische Aktivistin. Sie steht mit Texten auf der Bühne, hält Vorträge und leitet Workshops. 2018 wurde sie zum Klagenfurter Literaturkurs eingeladen und ist Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. Sie lebt in Leipzig und Berlin. »Freiraum« ist nach »Das Rauschen in unseren Köpfen« ihr zweiter Roman.

Foto: © Constantin Timm

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