Der Treppenwitz von Kensington

Vom 14. bis zum 16. April 2015 fand mit der London Book Fair eine der größten internationalen Buchmessen statt – nach achtjähriger Abwesenheit erstmals wieder im Olympia, einem beeindruckenden Glas- und Stahlbau im Westen der Stadt. Ullstein-Programmleiter Christoph Steskal musste jedoch feststellen, dass der neuerliche Umzug seine Tücken hat.

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Bye Bye Earl’s Court – Hello Olympia. Damit sind nicht die Spiele gemeint, sondern der neue alte Hallenkomplex, in den die Londoner Buchmesse dieses Jahr zurückgezogen ist. Und so strebe ich an einem lieblichen Frühlingsmorgen, nichts Böses ahnend, die Kensington High Street entlang, gespannt auf die neue Lokalität. Was hat man nicht alles vernommen über ihr schmuckes Äußeres und geräumiges Inneres.

Nach wenigen Gehminuten tauchen am Horizont die Olympia-Hallen auf. Ein prächtiges Ensemble aus dem 19. Jahrhundert, gleich vorn am Eck beeindruckend verziert von einem Pizza-Express-Schild. Nun ja, wieso nicht das Rustikal-Kulinarische mit der Buchfeinkost verbinden? Oder ist das eine gezielte Ironie? Einmal Roman mit allem, rund, knackig, billig…

Ich verdränge diesen Gedanken und begebe mich hinein. Rasch erschließt sich mir, was es mit dem geräumigen Inneren auf sich hat – in der Tat, es sind viele Räume. Größere Hallen, kleinere Seitenschiffe, alle nummeriert, wenn auch nicht sonderlich logisch. Schon zu dieser frühen Stunde eilt so mancher schwer schwitzend durch die Gänge und zweifelt angesichts des Fehlens von Gang C zwischen Gang B und D an seinem alphabetischen Verstand.

Der harte Weg zum Agent Center

Gut nur, wenn man sogleich Termine im Agent Center hat. Dieses ist leicht zu finden – wenn man weiß, wo es liegt und wie man hingelangt. Die beflissene Mitarbeiterin eines Infostandes erklärt mir wortreich die Route. Ich merke mir die ersten drei Kurven, Geheimtüren und U-Turns sowie den Begriff „stairs“ und beschließe, auf halbem Wege weiterzufragen.

Immerhin, in konzentrischen Kreisen erreiche ich die erste Treppe – ein feiner Erfolg. Mit jeder Stufe entschwinde ich dem panischen Gewühl des Erdgeschosses und entdecke oben einen großen Lageplan nebst danebenstehendem Guide. Ich frage ihn nach dem Weg. Der Uniformierte wendet sich dem Plan zu und weist auf eine der farbigen Flächen. „Wir sind hier“ sagt er. „Das ist gut“, erwidere ich, „und wo ist das Agent Center?“ Er mustert mich misstrauisch, blickt wieder auf den Plan und verstummt. Ich würde ihm gerne bei der Suche helfen, habe es aber etwas eilig, denn mein erster Termin rückt bedrohlich näher, und so mache ich mich grußlos von dannen.

Zu meiner nicht geringen Freude stoße ich auf ein Schild, das mich wörtlich zum Ziel weist. Dort vorne: große Aufzugstüren – die Lifte führen, wie es heißt, ins nämliche Stockwerk. Ich lasse mich von der in dumpfem Schweigen verharrenden Menschentraube davor nicht irritieren und stelle mich an. Die Wartepause nutze ich, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Und einen aufs Smartphone. Ich checke Mails, die Wettervorschau und ein paar eBay-Auktionen und knacke diverse Highscores. Irgendwann schrecke ich auf. Wer stört? Ach, es ist eine der beiden Aufzugstüren, die sich öffnet.

Die Masse strebt voran, wird aber vom Liftboy unwirsch zurückgewiesen: Wie Kafkas Türhüter steht er uns entgegen und erklärt, der Aufzug fahre nach unten, nicht nach oben. Mit diesen Worten schließt er die heiligen Pforten und surrt in die Tiefe.

Ich bin verblüfft: Zum einen über den Anblick eines Liftboys, zum anderen über die Messehostess, die uns zuruft, über die Treppe ginge es ohnehin viel schneller. Wir glauben ihr dies aufs Wort und eilen ihrem ausgestrecktem Arm nach Richtung Treppe – oder jedenfalls zur Wand, hinter der wir eine solche vermuten.

Es gibt eine. Zu ihr gelangt man durch eine etwa 80 Zentimeter breite Schwingtür, die in ein zugiges Treppenhaus führt, das unter Queen Victoria zum letzten Mal gestrichen wurde. Ein schauriger Ort, in dem es vermutlich spukt. Ein kecker Clou besteht darin, dass man diese kleinen Türen aufstoßen kann, ohne zu sehen, ob jemand von der anderen Seite entgegenkommt – Brillenträger sind hier karambolagemäßig klar im Nachteil, Helme hingegen empfehlenswert. Die gute Kinderstube lassen wir vorübergehend beiseite, denn wer jemals den inzwischen grimmig gestimmten Mitstreitern die Tür aufhält, tut dies bis an sein Lebensende.

Laut, lauter, London Book Fair

Sichtlich derangiert betrete ich endlich das Agent Center. Vor mir tut sich die Branche in ihrer ganzen Pracht auf. Gut, dass man hierhergezogen ist. Im Earl‘s Court war es doch recht laut und eng. Hier hingegen ist es ganz besonders laut und eng, eine spürbare Steigerung also. Die Agenten sitzen so dicht aufeinander, dass jeder den heißen Atem des anderen im Nacken spürt und hofft, der Hintermann möge wenigstens nicht über eine feuchte Aussprache verfügen.

Die Treffen verlaufen entsprechend. An einem Tisch blicke ich in die müden Augen einer liebenswerten Frau kurz vorm Nervenzusammenbruch. Direkt hinter ihr schnarrt ein kaputter Lautsprecher. Ich kann mich auf das, was sie mir zu sagen versucht, nicht konzentrieren, denn meine Augen suchen die ganze Zeit vergeblich nach dem Lautsprecher. Wo steht das verdammte Ding? Dann sehe ich: Es ist ein Herr in Nadelstreifen, der jedes seiner Projekte mit seinem unüberhörbaren Organ inszeniert. Es fällt schwer, ihn zu überbrüllen. Das Gute an diesem Lärmpegel ist: Man kann lauthals fluchen, ohne jemanden zu stören.

Der Nachmittag bricht an. Ich könnte einen Schnaps gebrauchen, aber in der Cafeteria gibt es solchen nicht, dafür Gebäck. Möchte ich ein marshmallowbelegtes Schokoladenshortbread oder doch eher etwas Süßes? Während ich noch grübele, ob ein gelegentlicher Zuckerschock hier nicht sogar angebracht wäre, treffe ich eine meiner Lieblingsagentinnen, die mir im Vorbeigehen erklärt, eines ihrer Buchprojekte sei von einem anderen Verlag pre-empted worden, zum Gegenwert eines Bentleys. Ich gräme mich, vor allem deswegen, weil ich mir keinen Bentley leisten kann.

Einer meiner letzten Gesprächspartner dieses Tages hat seinen Zuckerschock offenbar verpasst. Er sitzt am Tisch wie sein erloschener Avatar, was im eigenartigen Kontrast steht zu der Art, wie er sein umfangreiches Programm präsentiert. Mit dem Tempo eines Hütchenspielers blättert er durch den wahrhaft vielseitigen Katalog. Es gelingt mir nicht, auch nur einen Buchtitel zu Ende zu lesen. Er will das auch gar nicht. Er will weg. Die Luft ist schlecht. Let’s call it a day.

Oh-lympia

Unter diesem Motto heißt es die Treppe wiederfinden, die einen hinabführt. Selbst gleich zwei sich vor meiner Nase plötzlich öffnende Aufzugstüren bringen mich nicht davon ab – zu spät, ihr hattet eure Chance, nun fahrt ohne mich. Einige Überholmanöver später befinde ich mich wieder in der Zentralhalle. Dort bietet sich mir ein erschütternder Anblick: Alle, die hier in der Mitte stationiert waren, sind gegart und erblindet. Durch die großzügigen Oberlichter hat ihnen die Sonne seit frühmorgens aufs Hirn und auf die iPads gebrannt. Jeder, der sich schon mal vor einem Tablet rasiert hat, weiß, was das heißt. Und wer denkt bei Büchern schon an Lichtschutzfaktor 50?

Hoffentlich finde ich den Ausgang. Eine Kollegin erzählte mir zuvor, sie habe vorhin einen Ordner danach gefragt. „Follow me“, rief er. Sie nahmen eine Abkürzung nach der anderen, bis sie in einem schummrigen Gang landeten. „We are lost“ jammerte der hilflose Helfer und überließ meine Kollegin ihrem Schicksal.

Aber es geht: Ein riesiges Exit-Schild kann selbst ich nicht übersehen, und so stehe ich endlich auf der Straße – das Lärmen der Bücher hinter mir, den lieblichen rush-hour-Verkehr vor mir. Auf dem Weg zum Hotel blicke ich zurück. In der Abendsonne leuchten die Zinnen der Messehallen. „Oh-lympia“, schießt es mir durch den Kopf. Das war, glaube ich, sogar einmal ein Buchtitel. Nie war er so wahr wie heute.


→ Die offizielle Website der London Book Fair

 

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