Die Kirsche hat keinen Kern

Heidi, Wilhelm Tell, Schokolade, Taschenmesser – sonst noch was? Die Schweiz ist ein Land, das mit vielen Stereotypen behaftet ist. Doch was steckt dahinter? Christian Eisert wollte es herausfinden – und hat sich auf die Reise gemacht. Ein Beitrag über den Wert von Klischees und ihre Bedeutung für die Schweiz.

von Christian Eisert

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© Christian Eisert

Dass Muslime Frauen misshandeln, haben die Vorfälle von Köln bewiesen. Jawohl! Und in Nordkorea lässt der irre Kim Atomraketen bauen und sein Volk verhungern. Ganz anders die Schweiz. Da haben alle Geld, leben in schöner Landschaft bei Käse und Schokolade, und die prominenteste Schweizerin ist eine Zeichentrickfigur. Und vielleicht noch der Typ mit Armbrust und Apfel. Alles in allem jedenfalls ist die Schweiz ein putziges Land mit ulkigem Deutsch.

Klischees helfen, den Überblick zu behalten. Nicht nur vermeintlich. Gerne wird in diesem Zusammenhang angeführt, die Welt würde immer komplizierter. Das stimmt nicht, kompliziert war sie schon immer. Nur wussten wir früher – in der Prä-Internet-Ära – einfach weniger darüber. Damals gab es auch noch keine Flugreisen zum Preis einer halben Tankfüllung. Doch Klicken und Jetten hat die meisten nicht klüger gemacht. Im Gegenteil: Viele scheinen im Strudel der Informationen noch orientierungsloser geworden zu sein. Zum Glück also gibt es Klischees. Statt diese im Ausland und online zu hinterfragen, werden die neuen Möglichkeiten viel lieber genutzt, diese zu bestätigen – sagen jedenfalls Wissenschaftler.

Das Tückische an Klischees: Sie haben einen wahren Kern. In islamischen Gesellschaften sind Frauen nicht in dem Maße dem Mann gleichgestellt wie bei uns – mögen Frauen dort bisweilen auch über Haus, Hof und Haushaltskasse bestimmen. Verschleierung, Berufsverbote oder -erschwernisse, Zwangsheirat oder gar Steinigung nach (selbst nur vermutetem) Ehebruch sind ohne Diskussion abzulehnen. In Nordkorea sind die Gewalt gegen das eigene Volk, die Diskrepanz zwischen den Militärausgaben und der Not der Landbevölkerung unbestreitbare Tatsachen. Aber nicht allein Kim und seine Generäle sind dafür verantwortlich, sondern ebenso ein paar Millionen andere Nordkoreaner, die aus Angst, aber eben auch aus Vorteilssuche das System stützen – Menschen, die ihre Privilegien nicht verlieren wollen, und sei es nur das Privileg, in Pjöngjang zu wohnen, in dem relativer Wohlstand herrscht. In Nordkorea verläuft die Trennlinie zwischen Gut und Böse sehr unscharf. Das Grauen hat viele Grautöne. Die roboterhafte Wiedergabe von Lobeshymnen auf Generalissimus Kim Jong-un (das ist sein neuester Titel) in offiziellen Interviews mit Nordkoreanern läuft den Eindrücken zuwider, die der gewinnt, der sich – bei allen Beschränkungen – auf Land und Leute einlässt. Denn man kann mit Nordkoreanern herrlich herumalbern, und sie können so spontan scherzen, dass ihre Hand vor Schreck zum Mund schnellt, um das Gesagte wieder einzufangen.

Genauso sollte inzwischen jeder verstanden haben, dass die nach Deutschland Geflohenen erstens weder alle Verbrecher, noch alle Heilige und zweitens nicht alle Muslime sind, sondern auch Christen. Und dass die Welt der Muslime aus mehr als Terror und Kopftuch besteht, müsste sich dank täglicher Diskussionen derweil herumgesprochen haben. Müsste. Hat es jedoch nicht. Die Welt in Schwarz und Weiß einzuteilen ist eben einfacher als eine Palette von Grautönen.

Und die Schweiz?

Die ist Rotweiß. Weniger in der Landschaft ‒ da herrschen Almengrün, Himmelblau und Felssteingrau vor. Nein, es ist ihr Selbstverständnis. Die Farben der Schweizer Flagge dominieren das öffentliche Leben: weißes Kreuz auf rotem Grund. Ihre Besonderheit betont die Schweiz schon mit der Nationalfahne, hat sie doch als einzige eines UN-Landes eine quadratische Form (dabei ist das gesetzlich nirgendwo festgeschrieben). Zudem sind, im Unterschied zu jedem anderen Land, in der Schweiz Landesflagge und Landeswappen identisch. Im Falle des Letzteren haben die Deutschen einen Vogel. Den Bundesadler.

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Die Schweizer Flagge kennt man hierzulande wahrscheinlich mehr als beispielsweise jene Belgiens, obwohl diese farblich mit unserer identisch ist. Damit endet in punkto Schweiz das Staatskundewissen der Deutschen in der Regel schon. Dabei sprechen die Schweizer doch mehr oder weniger unsere Sprache, glauben wir zumindest. Dagegen weiß kaum einer, dass in Belgien Deutsch eine von drei offiziellen Landessprachen ist. (Die Schweiz hat vier Landessprachen.)

Dafür wissen mit Sicherheit mehr Deutsche, dass in Belgien ein König als Staatsoberhaupt fungiert, genau wie in den Niederlanden, in Dänemark eine Königin, in Frankreich ist es ein Präsident, in Polen ebenso, in Österreich … na? … wie bei uns ein Bundespräsident und in Tschechien und der Slowakei… hm… ja, richtig, ein Präsident, schon mal gehört. In Luxemburg, das wissen zumindest Kreuzworträtsler, ist es ein Großherzog.

Und wer ist Staatsoberhaupt der Schweiz?

Man kennt sie nicht. Nein, sie ist keine Frau.

Sie, das sind die sieben Staatsoberhäupter der Schweiz. Und zwar in Gestalt der sieben Mitglieder des Bundesrates, von denen jedes Jahr einer zum Bundesratspräsidenten gewählt wird, der damit keinerlei weiteren Befugnisse erlangt, sondern eigentlich nur das Privileg, bei Staatsbesuchen über den roten Teppich zu laufen.

Dass es so bei unserem Nachbarn zugeht, wer weiß das schon?

Zum Glück gibt es Klischees. Und die haben einen wahren Kern. Wie eine Kirsche. Die übrigens gar keinen Kern hat, sondern einen Stein. Steine sind verholzt, Kerne nicht. Und Erdbeeren sind botanisch keine Beeren, sondern Sammelnussfrüchte.

Bleiben wir bei Rot. Die markante Rotweiß-Kombination der Schweiz ist nicht nur Flagge und Wappen, sie ist auch eine Marke. Und wenn sie auf Taschenmessern, Uhren und Schokoladentafeln prangt, dann ist der Preis Wurst, auch bei Käse. Hauptsache Schweiz. Denn „Swiss Made“ ist gut. Das gilt nicht nur im Ausland.

Diese „Swissness“ genannte Markenbildung spielt im Inland eine mindestens ebenso große Rolle. Ob in Wappen oder Worten, die schweizerische Herkunft wird herausgestellt. Da prangt das Schweizer Kreuz auf Joghurts und Apfelsaft, da werden sogar Eiswürfel als „Swiss Made“ gepriesen. Selbst nichtheimische Gemüsesorten werden zum „Schweizer Produkt“ erhoben. Dass sie in nordafrikanischen Gewächshäusern keimten und dann per Flugzeug und LKW in die Eidgenossenschaft gekarrt wurden, wo sie unter hohem Energieaufwand in Tag und Nacht beleuchteten Treibhäusern in wenigen Wochen ihr Verkaufsvolumen erreichen, spielt keine Rolle ‒ solange sie 80 Prozent ihrer Größe auf Schweizer Gebiet erlangen, sind sie ein Schweizer Produkt. Ein Merkmal, das nicht nur der Pflege des Patriotismus dient. Es mag bei Gemüse kurios wirken, doch für den Erhalt heimischer Arbeitsplätze ist Swissness als Verkaufsargument für Waren aus heimischer oder vermeintlich heimischer Produktion dringend nötig. Denn eigentlich alles, was in der Schweiz hergestellt wird, produziert das Ausland, Deutschland eingeschlossen, billiger.

Hier bekommt das heitere Bild der ulkigen, leicht verschrobenen Schweiz ernste Risse. Da sich ernste Überlebenskämpfe schlecht vermarkten lassen, überschütten die Schweizer ihr Land selbst mit klebrigsüßer Klischeesoße, taufen ganze Landstriche „Heidiland“ und veranstalten zum Erhalt der inneren Einheit seit 150 Jahren einen Tell-Kult, der der Verehrung der Familie Kim im Fernen Osten kaum nachsteht. Wichtiger Unterschied: Die Kims gab und gibt es. Und so wie fast Dreiviertel der Schweizer an die Tell-Legende glauben, sind sie überzeugt davon, ein friedliches Volk zu sein. Zwar ein wehrhaftes – in Schweizer Haushalten liegen eine halbe Million Sturmgewehre herum –, aber kein aggressives; nur eines, das bereit ist, im Ernstfall seine Freiheit zu verteidigen. Davon sind die meisten Eidgenossen beseelt. Die Schweiz-Klischees wirken auch nach innen und machen vergessen, dass weit vor Taschenmessern, Uhren und Schokolade wichtigstes Exportgut der Schweiz Soldaten waren. Über 500 Jahre lang. Selbst der Landesname ist dem Söldnertum der Eidgenossen geschuldet. Die Soldatenware aus den Alpentälern war in allen Armeen Europas für ihre Gewaltbereitschaft gleichsam gefürchtet wie geschätzt. Von etwa 1300 bis 1800 fand kaum ein europäischer Krieg ohne Schweizer Söldner statt. Auch die heute fast zur Marke gewordene Schweizer Neutralität geht auf diese Zeit zurück und war mehr von außen erzwungen als ein innerer Wille nach Freiheit und Unabhängigkeit. Die Oma des russischen Zaren Alexander I. spielte da eine entscheidende Rolle.

Der heutige Wohlstand und der Reichtum der Schweizer (auch hier stimmt das Klischee überwiegend) ist gerade drei Generationen alt.

„Aus der Not eine Tugend machen“, das gilt für kaum ein Land mehr als für die Schweiz. Diesem von Welt- und Wirtschaftsmächten (ja, auch Österreich war mal eine Weltmacht) umzingelten Volk ehemaliger Bergbauern, von Rohstoffarmut und Topographie gebeutelt, gelang es durch Einfallsreichtum und Bauernschläue zu dem zu werden, was die Confoederatio Helvetica heute ist: ein heidiharmlos wirkender Hort der Hochfinanz, an dem die Geschicke der Welt maßgeblich gelenkt werden. Es sei nur die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel erwähnt, die Schweizer Ermittlungsbehörden nicht betreten dürfen und deren Angestellte diplomatische Immunität besitzen. Hier treffen sich – von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt – alle zwei Monate die Mächtigen der wichtigsten Länder zu einem informellen Austausch.

Wie all das die Schweizer prägt und was die Schweizer überhaupt sind, das versuchte ich herauszufinden. Auf einem Weg, der sich weder nach den touristischen Hotspots richtete, noch sich in einem „Sich-treiben-lassen“ verlor. Er folgte der naheliegendsten Route, die man nehmen kann, um die Schweizer zu ergründen: Dem Wort „Schweiz“.


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„Viele Ziegen und kein Peter“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage

Christian Eisert

Christian Eisert

Christian Eisert, geboren 1976 in Berlin (Ost), ist TV-Autor, Satiriker und Comedy-Coach. Er war acht Jahre  Autor für Harald Schmidt und schreibt für die Fernsehshows „Alfons und Gäste“ und „Grünwald Freitagscomedy“ sowie für „Shopping Queen“ und „Löwenzahn“. Sein Reisebericht „Kim und Struppi – Ferien in Nordkorea“ stand über ein Jahr lang ganz oben in der Spiegel-Bestseller-Liste. Sein aktuelles Buch „Viele Ziegen und kein Peter“ ist am 15. April 2016 bei Ullstein extra erschienen.

Foto: © privat

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