Kleine Fluchten: Helga Glaesener

Wo lasse ich im Sommer die Seele baumeln? Das wollten wir von unseren Autorinnen und Autoren wissen. Den Anfang unserer Reihe über besondere Orte macht Helga Glaesener, deren Ausflugsziele oft von der Inspiration und Recherche für ihren nächsten Roman bestimmt sind.

von Helga Glaesener

Für Autoren ist die Antwort auf diese Frage beinahe zwangsläufig – nämlich immer dort, wo der laufende Roman spielt oder wo man den nächsten ansiedeln will. Hört sich im ersten Moment nach Arbeit an, puhh, mannomann, ist es aber nicht. Was gibt es Schöneres, als dieselbe Luft zu atmen wie die verwegenen Gestalten, die im Autorengehirn ihre Kämpfe durchfechten. Hier steht der Held im nassen Gras, dort rennt die hübsche oder hässliche Maid den steilen Weg zur Burg hinauf, und durch diese schmale Ritze in der Mauer kann der Häftling aufs schöne Hinterland schauen und depressiven Gedanken nachhängen. Das macht Spaß. Wenn’s richtig gut läuft, schiebt die alte Dame auf dem Marktplatz keinen Rollator mehr, sondern einen Karren voller Hühner, und bei Galeria Kaufhof baumeln halbe Schweine von der Decke.

Gruselkeller_Glaesener

Manchmal wird die begeisterte Autorin natürlich aus ihrer Zweitwelt hinausgerissen. Da ist  sie zum Beispiel mit dem neuen Navi unterwegs… von Köln-Mitte nach Köln-Hürth, keine große Sache, könnte man sogar zu Fuß hinkriegen, mit der nötigen Kondition. Dann aber: Hoppla! Und die Erkenntnis, dass Navis nicht gern an Fensterscheiben kleben. Zweite Erkenntnis: Die vielen Lichter im Leihwagen blinken deshalb, weil ein Navi im freien Fall genügend Power entwickelt, um die Warnblinkanlage einzuschalten. Macht ein bisschen nervös im dreispurigen Innenstadtverkehr. Dritte Erkenntnis: Wenn das Navi behauptet, dass man knapp 700 Kilometer braucht, um von Köln in einen seiner Vororte zu kommen, sollte man das nicht als reizende Eigenwilligkeit des Geräts betrachten, sondern als knallharte Warnung. Hat mich eine Stunde gekostet, um zu kapieren, dass mein Führer einen Schwenk über meine Heimatstadt eingeplant hat.

Und dann ist der Zauber doch wieder da. So geschehen gerade letzte Woche. Im kleinen, eher langweiligen Dorf entdecke ich die Ruine eines Waisenhauses. Das Wasser steht kniehoch in einem Keller, in dem Gerümpel liegt und zwischen leeren Bierdosen eine tote Ratte dümpelt. Die Muse schreckt aus dem Halbschlaf auf, ein heller Juchzer. Wie geil ist das denn? Schnell, den Fotoapparat gezückt, Bilder, Bilder…  die Ratte aus jeder Richtung, die geborstenen Fensterscheiben, das Gitter vor der offenen Tür. Und dann gilt es, auf dem viel zu kleinen Notizblock die Gedanken festzuhalten, die als wilde Horde durch den Kopf purzeln und sich gegenseitig auf die Füße treten.

Wer in solchen Situationen Visionen hat, geht natürlich nicht zum Arzt, sondern dankt der hyperventilierenden Muse, dass sie der Autorin ein lustloses Planen am häuslichen Schreibtisch erspart. Einmal abklatschen – wir sind genial.

Recherchespass_Glaesener

Der dritte in diesem kreativen Bündnis ist übrigens das Gedächtnis der Autorin. Es unterscheidet nicht zwischen Realität und Tagträumen. In Frankfurt hat es eine U-Bahn gegeben? Muss wohl, bin ja irgendwie in die Innenstadt gekommen. Aber vor allem gab es eine schmale Gasse, durch die ein junger Bursche – Quatsch, durch die die Autorin selbst – im Licht der Nacht zur eigenen Hinrichtung geschritten ist. Das Herz klopft auch daheim noch, wenn man die Augen schließt.

Tja, Autoren-Sommerurlaub, das ist ein echter Geheimtipp. Kann man nur leider nicht buchen.


 

Links
Die Postmeisterin auf den Seiten der Ullstein Buchverlage
Die offizielle Website von Helga Glaesener
Helga Glaesener auf Facebook

Helga Glaesener

Helga Glaesener

Helga Glaesener wurde in Niedersachsen geboren und studierte in Hannover Mathematik. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt, Die Safranhändlerin, zum Besteller avancierte. Sie lebt in Oldenburg. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin arbeitet sie als Tutorin bei der Studiengemeinschaft Darmstadt, wo sie angehenden Autoren die Kniffe des Handwerks verrät. Ihr neuer Roman Die Postmeisterin erscheint am 12. August im List Verlag.

Foto: © Foto und Bilderwerk Oldenburg

Print Friendly, PDF & Email