BDSM Warum Sadomasochismus als sexuelle Identität anerkannt sein sollte

BDSM steht für Bondage & Disziplin, Dominanz & Unterwerfung, Sadismus & Masochismus
Foto: sUs_angel/ Getty Images/iStockphotoVor dem Hamburger Rathaus weht in der ersten Augustwoche eine Flagge. Sie hängt höher als das Hamburger Stadtwappen, bunt und selbstbewusst: die Regenbogenflagge der Pride Week. Hübsch ist sie ja. Aber neben den Knallfarben der LGBT-Community fehlt mir etwas: ein schwarzer Streifen für uns Sadomasochisten. Die stehen mit ihrem weißen Informationszelt am Jungfernstieg ziemlich abseits zwischen Hunderten Besuchern mit Regenbogensocken, -mützen, -schlipsen.
Auf den ersten Blick könnte es einer dieser unauffälligen Stände auf einem Kleinstadtsommerfest sein, an dem Bibeln verschenkt werden. Wäre da nicht das Schaf aus Plüsch auf dem Plastiktisch: Es ist geknebelt und trägt einen ziemlich schneidigen Brustharnisch. Am Stand gibt es Flyer, am Glücksrad kann man gewinnen: Augenbinden, Brustklammern. Mein Pfeil zeigt auf Lakritze. Über allem liegt das fröhliche Konfettiglitzern von Festivalsexualität, die vielleicht verbreitetste sexuelle Orientierung in meiner Filterblase: alle sind irgendwie ein bisschen kinky, man ist fluide, flexibel, frei.
Leona Stahlman, Jahrgang 1988, lebt und arbeitet nach einem Studium der Literatur und Buchkunst als freie Autorin, Journalistin und Literaturkuratorin in Hamburg. Sie wurde u.a. mit dem Literaturpreis der Stadt Hamburg (2017) und dem wortmeldungen Förderpreis der crespo foundation für kritische literarische Texte (2019) ausgezeichnet. Ihr Debütroman erscheint im Frühjahr 2020 bei Kein + Aber.
In einer Ecke, direkt neben dem Schaf, sitzt der Marquis de Sade und lächelt verkniffen zu mir herüber. Man hat ihn in ein millennialroséfarbenes Zwangsjäckchen gesteckt, ein Coachella-Marquis, alle dürfen mal anfassen. Bye-bye, Bürgerschreck Sadomasochismus. Tabu sind wir hier nicht. Stattdessen: anschlussfähig, ein bisschen niedlich. Und unsichtbar. "Aber wir sind doch mitgemeint", sagt ein Bekannter Tage später, und ich gucke ihn nur an und hebe die Augenbraue hoch und deute mit einer Hand in den Raum, in dem wir sitzen.
Mitgemeint im Hinterzimmer
Er ist gut gefüllt und ziemlich schummerig, ein Hinterzimmer in einer Bar irgendwo am Stadtrand von Hamburg, ironischerweise sitzen im Hinterzimmer dreimal mehr Menschen als in der Bar selbst. Es ist ein BDSM-Stammtisch. Einmal wöchentlich treffen sie sich hier, seit einigen Jahren schon, und sind doch nie aus dem Hinterzimmer herausgekommen.
"Mitgemeint?", sage ich, und denke, dass die Flagge, die für Diversität stehen soll, uns genauso verschweigt wie der öffentliche Raum, in dem wir uns größtenteils immer noch inkognito bewegen. Er erwähnt die Leather-Pride-Flag. Da seien wir doch aber nun wirklich richtig mitgemeint. Ich bin kein Pirat, kein Land und auch kein Fußballverein, ich brauche nicht für alles, was ich tue, einen Wimpel, den ich mir über die Tür hängen kann; trotzdem wäre ich irritiert, würde man den Hamburger Stadtteil Barmbek-Süd, wo ich lebe, plötzlich im Berliner Bären mitmeinen." Nichts gegen Berlin (oder gegen Lederschwule, oder gar Berliner Lederschwule!) aber dort eingemeindet werden möchte ich eigentlich nicht. Wir sind zu viele für ein Hinterzimmer.
Aktuelle Zahlen aus Kanada ergeben einen hochgerechneten Anteil von 15,9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bemerkenswerterweise fehlen entsprechende deutsche Studien; mit der GeSiD-Studie arbeitet das Institut für Sexualforschung erst jetzt an einer umfangreichen Untersuchung des Sexualverhaltens der Deutschen. Noch immer gibt es Berichte in großen Zeitungen, die nicht trennscharf zwischen BDSM-Sexualität und Gewaltverbrechern unterscheiden. Politische Karrieren sind ruiniert, wenn Politiker mit BDSM in Zusammenhang gebracht werden. Man drehe das Vorzeichen und ersetze BDSM - durch Homosexualität: in Deutschland heute undenkbar.
Dieses Ungleichgewicht liegt unter anderem daran, dass BDSM keine starke Lobby hat. BDSM wird nicht als sexuelle Identität anerkannt, obwohl das eine Studie von 2019 nahelegt. Ich höre oft, es gehe bei BDSM doch darum, WIE man liebt und nicht WEN. In gleicher Weise ließe sich Schwulsein auf Penis-in-Anus verengen.
Meine Sexualität ist nicht verhandelbar
Natürlich gibt es viele, die in einer Phase ihres Lebens mit BDSM experimentieren. Die dann wieder damit aufhören. Oder ein paar Praktiken übernehmen. Aber da sind auch diejenigen, die nicht wählen können. Für die BDSM keine "Bereicherung des sexuellen Spektrums" ist, sondern eine Festlegung mit Ausschlusszwang für alles andere. Dazu gehöre ich. Meine Sexualität habe ich mir nicht ausgesucht. Sie hat viele Versuche von Partnerschaft mit sogenannten "Vanillas", nicht BDSM-lern, scheitern lassen, sie ist nicht verhandelbar.
Ich fühle mich nicht zu Partnern hingezogen, weil sie Penisse oder Vaginas haben - sondern zu bestimmen Attributen, die ich ihrer sexuellen Identität als Tops (dominante Menschen) zuordne. Diese Attribute sind der Geschlechtlichkeit übergeordnet. Ich finde sie in Männern und Frauen gleichermaßen. Bisexuell würde ich mich trotzdem nicht nennen.
Eine lesbische Bekannte erzählte von einer Erfahrung mit einer Transfrau, die nicht operiert war, "die vielleicht lesbischste Nacht meines Lebens", sagt sie darüber. Sie habe den Menschen jenseits des Körperlichen als Frau gelesen. In meiner Sexualität ist das ähnlich: meine Orientierung sind die Chiffren von Dominanz und Submission. Nicht Körperteile.
Kein Begriff, den ich gern benutze
BDSM ist auch deshalb eine sexuelle Identität für mich, weil sie angeboren ist. Mit drei Jahren wusste ich davon, ohne Begriffe dafür zu haben. Mit sieben hat mich ein Wörterbuch gerettet. Ich habe es immer noch. Ich habe darin die Begriffe angestrichen, deren auratisches Leuchten ich damals nicht verstanden habe, mehrfach und dick mit Kugelschreiber, vielleicht, um mein unordentliches Inneres alphabetisch geordnet nach außen zu tragen, um es los zu sein oder auch nur mal vor mir zu sehen, schwarz auf weiß: Die Worte "Disziplin", "Strafe" und "Unterwerfung" sind vier-, fünfmal umkringelt, Jahresringe.
Worte haben mich gerettet und validiert, und heute bin ich Autorin, vielleicht kein Zufall. Trotzdem gibt es für meine sexuelle Identität noch keinen Begriff, den ich gern benutze. "Kinky" sagen viele, die ich kenne. Das kann heißen: Experimentierfreudig. Es kann aber auch heißen: Mein spezifischer Fetisch ist so erfüllend, dass ich keinen klassischen Geschlechtsverkehr möchte. Also: sexuelle Identität versus Buffetsexualität (ein bisschen hiervon, ein bisschen davon). Beides und alles dazwischen kann mit kinky, diesem so plüschigen und anschmiegsamen Kunstwort, gemeint sein.
Der Sammelbegriff BDSM bricht meine Liebesform auf eine deprimierende Technizität herunter (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism). Sadomasochismus hingegen kommt altbacken daher in seiner steifen Binarität. An dieser Stelle ruckelt der Marquis in seinem rosa Zwangsjäckchen unbehaglich hin und her und wirft mir bitterböse Blicke zu.
In der amerikanischen Szene kursiert die Wortneuschöpfung "Altersexualität": eine Sexualität, in deren Mittelpunkt etwas anderes steht als der reine Geschlechtsverkehr. Der Marquis fühlt sich narzisstisch gekränkt, aber die Zeit der weißen Männereliten mit Namensgeberanspruch ist ohnehin vorbei. Er stöhnt gequält auf in seinem Zwangsjäckchen. Naja. Ich glaube, ein bisschen genießt er das.