

Debatte über Woody-Allen-Biografie Die Kunst des Aushaltens


Umstrittener Filmemacher Allen: Seit 30 Jahren Aussage gegen Aussage
Foto:Vera Anderson/ WireImage/ Getty Images
Ganz am Schluss, als der Text fertig war und er das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte, schrieb eine seiner Mitverfasserinnen in die gemeinsame Facebook-Gruppe der Rowohlt-Autoren und -Autorinnen: "Schön, dass er zufällig am Frauentag rauskommt". Das war am Sonntagnachmittag, drei Tage, nachdem in derselben Gruppe die Frage gestellt worden war, wer Interesse habe, sich mit Woody Allens Stiefkindern Dylan und Ronan Farrow in einem offenen Brief zu solidarisieren. Im Lektorat beim Rowohlt-Verlag gebe es Leute, die nicht happy seien, dass Woody Allens Autobiografie in ihrem Haus erscheine.
Bei Allens US-Verlag Hachette war man sogar so unhappy, dass man die Veröffentlichung ganz gestrichen hatte. Dort hatte sich der Starreporter Ronan Farrow, Sohn von Allens Ex-Frau Mia Farrow, mit seinem Buch "Catch and Kill" an die Spitze der #MeToo-Bewegung gestellt. Auf Deutsch war das Buch im Oktober letzten Jahres bei Rowohlt erschienen. Nun sollte bei dem deutschen Verlag auch die Autobiografie des Stiefvaters folgen.
Dylan Farrow wirft dem heute 84-jährigen Filmemacher vor, sie 1992 sexuell missbraucht zu haben, und betrachtet die Veröffentlichung seiner Memoiren als Verrat. Seit 30 Jahren steht in der Sache Aussage gegen Aussage. Weder Allens Schuld noch seine Unschuld ist bewiesen. Dennoch drohten die Mitarbeiter des amerikanischen Verlags mit Streik, und so wurde die Veröffentlichung des Buches mit dem Titel "Apropos of Nothing" (deutsch: "Ganz nebenbei") kurzerhand abgeblasen.
Nun steht auch Rowohlt vor der Frage, wie mit der Autobiografie des Künstlers umzugehen sei. "Die Rechte müssten geklärt werden, da diese nun an Woody Allen zurückgefallen seien", heißt es beim Verlag. Zunächst will er wohl an der Veröffentlichung festhalten.
Rowohlt-Verleger Florian Illies muss nun moderieren, das ist ein schöner Zufall. Schließlich war es der Autor Florian Illies, nicht der Verleger, der noch im vergangenen Jahr in der "Zeit" Angela Merkel dafür kritisiert hatte, dass sie ihre Lieblingsbilder des Antisemiten Emil Nolde einfach abgehängt hatte, nachdem bekannt geworden war, dass er tiefer in den Nationalsozialismus verstrickt war als bislang gedacht. Merkel schwieg dazu. Sie ließ ihren Pressesprecher Steffen Seibert ausrichten, es sei nicht die Aufgabe der Bundeskanzlerin, hier historische Bewertungen vorzunehmen.
Illies hätte sich gewünscht, dass die Kanzlerin ihr Erschrecken darüber teilt, wie es ist, fasziniert zu sein von einem Künstler, dessen Weltanschauung sie verabscheut. In der "Zeit" hatte er gefragt: "Was folgt daraus, wenn man die Ethik die Ästhetik aushebeln lässt?" Diese Fragen, die ihn als Autor beschäftigten, muss er jetzt als Verleger beantworten.
Gäbe es ein Desinfektionsmittel, um sich vor Woody Allen zu schützen, es wäre ausverkauft
Die Angst vor Ansteckung hat sich wie ein Nebel über dieses Frühjahr gelegt. Woody Allen ist toxisch, seine Darsteller distanzieren sich von seinen Filmen, manchmal auch erst, nachdem sie schon abgedreht sind. Schauspieler wollen nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden, seine Filme finden in den USA keinen Verleih, Verlage wollen seine Bücher nicht. Man will sich die Hände nicht schmutzig machen. Gäbe es ein Desinfektionsmittel, um sich vor ihm zu schützen, es wäre ausverkauft.
Fast wirkt es, als wäre das Thema wie ein Virus, gegen den es noch immer keinen Impfstoff gibt. So wäscht man sich die Hände in Unschuld, bevor man die weiße Weste überzieht. Vielleicht ist das auch eine Konsequenz aus der Diskursverschiebung der vergangenen Jahre: Je salonfähiger der Dreck wird, mit dem die Donald Trumps dieser Welt die Atmosphäre verpesten mit Parolen, die unter geistige Umweltverschmutzung fallen, umso deutlicher möchte man sich reinwaschen, sauber halten, moralisch auf der richtigen Seite stehen, besser sein, differenzierter, progressiver.
Manchmal, wenn dieser Wille überbordend ist, geht das auch schief: "Wir haben keinen Grund, an den Aussagen von Woody Allens Tochter Dylan Farrow zu zweifeln", schreiben die Rowohlt-Autoren. Es ist ein Satz, der von genau jener moralischen Selbstüberhöhung strotzt, gegen die Kunst doch gerade aufbegehren sollte. Hier wollen Moralisten Richter spielen, nur leider haben sie keine Robe.
An anderer Stelle in ihrem offenen Brief sind sie Psychotherapeuten: Bei Woody Allens Autobiografie handle es sich um "das Buch eines Mannes, der sich nie überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt hat". Haben die Autoren Woody Allen auf die Couch gelegt, tiefenpsychologische Interviews geführt? Man weiß es nicht. Aber die Ferndiagnose treibt abstruse Blüten.
Die Reinheitsfantasien der Gegenwart sind scheinbar grenzenlos
Außerdem, so die Autoren, seien die Fakten der Allen-Memoiren nie wirklich geprüft worden - ein Vorwurf, den auch Ronan Farrow dem US-Verlag Hachette macht. Es ist natürlich immer gut, gegen Fake News zu sein, aber Fakten in einer Autobiografie? Wer will sie denn überprüfen? Herr Allen ist ein alter Mann, da ist das mit der Erinnerung so eine Sache. Man kennt das Problem von Zeitzeugen aus Guido-Knopp-Dokus. Muss im Zweifel ein Historiker übernehmen, der Woody Allen diktiert, wie sein Leben war?
Die Reinheitsfantasien der Gegenwart sind scheinbar grenzenlos. Aber wenn Kunst nur noch von guten Menschen in guten Verlagen für gute Menschen gemacht wird, ist das ihr Ende. Sie ist dann eine komplett entkernte Kunst, die sich nur noch ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit versichern kann: puristisch streng und brav. Sie näherte sich dann der modernen Architektur an, all den Hochhäusern aus Glas, die so transparent scheinen, aber doch nur kalt bleiben. "Glas ist nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt. Auch ein kaltes und nüchternes. Die Dinge aus Glas haben keine Aura", schrieb der Philosoph Walter Benjamin.
Das würde bedeuten, wir dürften überhaupt nur noch Kunstwerke von moralisch einwandfreien Künstlern lesen, sehen und hören. Filme gäbe es nur noch mit Hannes Jaenicke in der Hauptrolle, Bücher ausschließlich von Peter Wohlleben, Musik nur noch von Sting und Phil Collins, in Deutschland dürften nur noch Herbert Grönemeyer und Die Prinzen singen.
Pablo Picasso, das Schwein, abhängen! Die Bayreuther Festspiele des Judenfeinds Richard Wagner - verbieten! Nie wieder James Brown, Miles Davis, Charlie Parker, Bill Cosby, John Galliano, Ezra Pound, Michael Jackson. Kunst wird nun einmal auch von Arschlöchern gemacht, so traurig und unbequem das ist.
Wo sich der Moralismus Bahn bricht, geht die Vernunft oft flöten. Der Soziologe Niklas Luhmann schreibt, es sei "die vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen". Moral ist die Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln. Sie bleibt immer subjektiv. Alles lässt sich mit ihr begründen. Man kann aus moralischen Gründen Sex vor der Ehe ebenso ablehnen wie die Rettung von Menschen aus dem Mittelmeer. Solange wir moralisch denken, teilen wir die Welt manichäisch ein in Freund und Feind, in Gut und Böse, in Gebote und Verbote.
Vielleicht liegt eine mögliche Antwort auf die Frage, ob und wo Woody Allens Autobiografie erscheinen soll, nur in einem Raum jenseits der Moral. Vielleicht geht es vielmehr um die Frage, was wir aushalten müssen und sollten. Wo wir gezwungen sind, Widersprüche auszuhalten, statt sie aufzulösen. Dass ein Mensch vielleicht toxisch ist, gemein oder niederträchtig, und genau deshalb seine Bücher erscheinen müssen. Dass die wichtige und notwendige Diskussion über sexuellen Missbrauch weder beendet noch gemindert wird dadurch, dass Vater und Sohn, so sehr sie sich verachten mögen, im selben Verlag publizieren.
Von Friedrich Nietzsche stammt der Satz: "Ich impfe euch mit dem Wahnsinn". Vielleicht könnte Woody Allens Autobiografie genau das sein: ein Impfstoff, der unsere Echokammern, in denen wir unsere so bedingungslos richtigen Überzeugungen horten wie Nudeln oder Klopapier, wieder einmal durchbläst und unser diskursives Immunsystem befähigt, auf eine Infektion mit den Erregern der Gegenwart so wirksam zu reagieren, dass wir immun dagegen werden. Jenseits von der nicht zu beantwortenden Frage nach Schuld und Unschuld.