Nachteule und Opiumliebhaber: Marcel Proust
Foto: Hulton Archive/ Getty ImagesHamburg - Jeder kennt die Ödnis im Alltag, den Moment, in dem man auf die große Idee wartet, aber nur daran denken kann, was man gleich in der Kantine bestellt. In diesen Momenten der Inspirations- und Konzentrationslosigkeit kann man Twitter checken, spazieren gehen oder sich noch einen Kaffee holen. Oder, man googelt wie andere ihren Arbeitstag organisieren und schreibt über die Schaffensstrategien und -probleme anderer Leute. So gemacht von Mason Currey, amerikanischer Journalist und Autor.
In seinem Buch "Daily Rituals" präsentiert er seine Recherchen: 161 Kurzporträts berühmter Persönlichkeiten und ihrer schöpferischen Marotten. "Ich wollte zeigen, wie große, kreative Visionen sich in kleinen alltäglichen Routinen niederschlagen", schreibt Currey in der Einleitung. Dabei lassen sich durchaus einige Muster beobachten. Der Versuch einer Typisierung.
Klicken Sie sich durch die Alltagsmarotten konzentrationsgeplagter Künstler.
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Die Frühaufsteher: Einer der ersten am Schreibtisch ist Haruki Murakami, Punkt 4 Uhr morgens geht er an die Arbeit, fünf, sechs Stunden lang. Am Nachmittag liest er, hört Musik, führt Erledigungen durch. Seit 25 Jahren joggt er außerdem täglich. Um 21 Uhr ist dann Nachtruhe. "Ich halte mich jeden Tag an diesen Ablauf, ohne Abweichungen." Wie so mancher seiner Zunft geht er davon aus, dass institutionalisierte Abläufe den Weg fürs Wesentliche frei machen.
Die Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart und...
... Ludwig van Beethoven waren beide Frühaufsteher, wobei Mozart aus Zeitmangel auf die frühen Morgenstunden ausweichen musste. Während Mozart von einem Termin zum nächsten hetzte, Musikunterricht gab und Gönner beim Essen bespaßte, war Beethoven mehr Kontinuität gewährt. Er konnte in der Früh sogar die 60 Bohnen für seinen Morgenkaffee selbst auszählen - dann arbeitete er bis zum Nachmittag.
Thomas Mann stand jeden Tag um 8 Uhr morgens auf, eine halbe Stunde später gab es Frühstück im Beisein seiner Frau. Um Punkt 9 Uhr schloss er sich in seinem Büro ein. Bis zum Mittag arbeitete er durch, den Kindern war es strikt untersagt, in dieser Zeit auch nur einen Mucks von sich zu geben. Sein Motto: Was bis 12 Uhr nicht erledigt ist, muss bis zum nächsten Tag warten.
Die Nachteulen: "Nur die 'Hitlers dieser Welt' arbeiten bei Nacht, kein ehrlicher Künstler sonst", notierte der Schriftsteller W. H. Auden über seine nachtschaffenden Kollegen. Nun denn: Für sein monströses Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (1,5 Millionen Wörter, sieben Bände) verschrieb sich Marcel Proust komplett der Arbeit. Er schlief tagsüber und schrieb nachts. Sein Pariser Schlafzimmer verließ er nur, wenn er neue Eindrücke sammeln musste. Er schrieb ausschließlich im Liegen auf seinem Bett, den Kopf von zwei Kissen gestützt. Wenn er am späten Nachmittag erwachte, entzündete er zunächst ein wenig Opium - angeblich zur Linderung seines Asthmas.
Franz Kafka begann seine Arbeit in jungen Jahren meist nicht vor Mitternacht. Dies war der Tatsache geschuldet, dass er mit seiner Familie zusammenlebte und nur dann die Zeit fand. Außerdem gehörte er zu den wenigen, die tagsüber noch einen Job hatten - um das nächtliche Schreiben zu finanzieren.
Die Süchtigen: Jean-Paul Sartre pflegte in jeder Hinsicht ein ungesundes Leben. Er arbeitete viel und schlief wenig. Den Rest des Tages füllte er mit Wein, Zigaretten, Völlerei, Drogen und Partys. In den Fünfzigern forderte dieser Lebensstil seine Opfer, Sartre stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Dieses Tief kurierte der Philosoph mit einem Mix aus Amphetaminen und Aspirintabletten.
Honoré de Balzac war ein ehrgeiziger Mann, der unerbittlich an seiner Literatur feilte. Er stand mitten in der Nacht auf und arbeitete bis morgens um 8 Uhr. Nach einem 90-minütigen Nickerchen folgte eine weitere Schreibsession bis zum Nachmittag. Um sein enormes Arbeitspensum durchzuhalten, kippte er einen Kaffee nach dem anderen in sich hinein - manchmal angeblich bis zu 50 Tassen am Tag.
Durch seine Zeit beim Militär war F. Scott Fitzgerald einen strikten Zeitplan gewöhnt. Später fiel ihm ein geregelter Tagesablauf jedoch immens schwer. Im Idealfall stand er um 11 Uhr auf und saß um 17 Uhr am Schreibtisch, wo er bis in die frühen Morgenstunden blieb. In der Realität zog er jedoch mit seiner Frau Zelda durch die Cafés. Ein weiterer ständiger Begleiter, nicht nur im Pariser Nachtleben: der Gin.
Ayn Rand bekam von ihrem Doktor das Amphetamin Benzedrine gegen ihre Müdigkeit verschrieben. Doch die Autorin wurde ein großer Fan des Aufputschmittels, sie begann Tag und Nacht zu arbeiten, einmal saß sie 30 Stunden am Stück über ihren Notizen für den Roman "The Fountainhead". Der Überkonsum hatte seinen Preis, bis zu ihrem Tod war Rand abhängig von dem Mittel, das neben Stimmungsschwankungen für ihre Paranoia verantwortlich war.
Viele berühmte Männer hatten eine tüchtige Frau hinter sich, die ihnen den Rücken frei hielt, so auch Sigmund Freud. Er instruierte seine Gemahlin aus Gründen der Zeitersparnis, ihm die Zahnpasta auf die Zahnbürste zu quetschen und die Kleidung herauszulegen. Um mit seinem vollgepackten Alltag aus Patientenbetreuung und Studien der Psychoanalyse klar zu kommen, griff der Arzt zu Nikotin: Freud rauchte bis zu 20 Zigarren am Tag.
Sylvia Plath musste warten bis ihre Kinder aus dem Haus oder zumindest im Bett waren, um ihre Gedichte aufzusetzen. Leider hatte dies keine guten Auswirkungen auf die plathschen Routinen: Abends konnte sie nur mit Beruhigungsmitteln einschlafen. Wenn diese um 5 Uhr morgens aufhörten zu wirken, setzte sie sich ans Werk - bis dann die Kinder wieder wach waren.
Die Disziplinierten: Gustav Mahler pflegte entgegen seiner sonnigen Symphonien ein Leben, das wie der Autor feststellt "fast schon unmenschlich in seiner Purität" war. Mahler, ein ausgesprochener Morgenmuffel, stand auch im Urlaub um 6 Uhr auf und verschwand dann in einer Hütte im Wald - hierhin zog sich der Komponist zurück, weil er es morgens nicht ertragen konnte, mit anderen Menschen zu sprechen.
Der Maler Francis Bacon führte zwar ein Leben der Superlative was Essen (viel), Partys (noch mehr) und Stimulantien (alles von Alkohol bis Amphetamine) betraf. Doch er schaffte es trotzdem, jeden Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl aufzustehen und dann einige Stunden bis zum Nachmittag zu arbeiten. Arbeit trotz Kater - mehr Disziplin geht wohl kaum.
Nach dem Motto "Ordnung ist das halbe Leben" sah auch der amerikanische Psychologe und Philosoph William James die Dinge. Er war der Meinung, wenn man einen Teil des Lebens auf Autopilot stellte, könne man sich den höheren Dingen zuwenden. In der Theorie gut, doch auch wenn er seinen Alltag durchtaktete - ging es an die eigentliche Arbeit, war ein Großmeister des Auf-die-lange-Bank-Schiebens.
Die Sonderlinge und Extrawürste: "Ich habe so viele Ideen, wie Ratten Orgasmen haben", pflegte Patricia Highsmith über sich zu sagen. Damit das auch so blieb, bedurfte es einer speziellen Anordnung: Umgeben von Zigaretten, Aschenbechern, Streichhölzern, einer Tasse Kaffee, einem Donut und einer Zuckerdose kauerte sie in einer fötalen Stellung auf ihrem Bett. Vor Arbeitsbeginn gab es einen starken Drink - zum Runterkommen, nicht zum Aufputschen - dann ging es los. An einem guten Tag schaffte sie so um die 2000 Wörter. In einer Ecke züchtete sie außerdem Schnecken - in deren Gesellschaft fühlte sie sich wohler als mit Menschen.
Mark Twain konnte am besten in den Sommermonaten arbeiten, in denen er mit seiner Familie auf einer kleinen Farm im US-Bundesstaat New York lebte. Dort hatte er ein kleines Büro auf dem Grundstück, wo er nicht gestört zu werden wünschte. Dort saß er nach einem ausgiebigen Frühstück, rauchte permanent Zigarre und schrieb unter anderem "Tom Sawyer". Sollten ihn die Kinder oder seine Frau in dieser Zeit brauchen, blieb ihnen nur eines: Sie bliesen in ein Horn.
Der Schriftsteller Thomas Wolfe gehört zu der Art von Künstlern, die sich zunächst selbst etwas erregen mussten, um Erregendes zu Papier zu bringen. So beschrieb er einem Freund 1930 einen autoerotischen Akt als "gutes männliches Gefühl", das ihn zu kreativer Energie anstieß.
Auch andere schworen auf erotische Inspirationen. Der Schriftsteller John Cheever pflegte nur in seiner Unterwäsche zu arbeiten. Er war der Ansicht, dass eine Erektion seine Konzentration förderte: "Mit einem erregten Penis kann ich sogar die kleinen Buchstaben in der Bibel lesen."
Der belgische Schriftsteller Georges Simenon hat nach eigener Aussage in seinem Leben mit mehr als zehntausend Frauen geschlafen. Das würde auch sein "Do not disturb"-Schild am Büro erklären, auf das er ausgesprochen Wert legte.
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