Das Virus zieht in Spanien die wohl schlimmste Wirtschaftskrise seit 80 Jahren nach sich. Die sozialistische Regierung setzt ihr ein Grundeinkommen für die Ärmsten entgegen.
Madrider Bürger warten in einer Schlange auf Lebensmittelspenden: Kündigung per WhatsApp
Foto: JAVIER SORIANO/ AFP
Zwei Tage bevor sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Miete nicht bezahlen kann, steht Jessica vor den Toren der privaten Wohlfahrtsorganisation "Hermandad del Refugio" im Zentrum von Zaragoza. In der Hauptstadt der Region Aragón, zwischen Barcelona und Madrid gelegen, sind die Sommer besonders heiß und die Winter besonders windig. Um kurz vor zehn Uhr morgens Ende Mai brennt schon die Sonne. Vor Jessica warten bereits 18 Männer und Frauen. Mit verschränkten Armen stehen sie schweigend in der Schlange. Sie haben große Einkaufs-Trolleys mitgebracht, in die sie gleich Milchkartons, Nudeln und zwei Kilo Hühnerfleisch packen wollen. Ohne die Lebensmittelspenden der katholischen Freiwilligen kämen sie nicht über die Runden.
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Jessica trägt schwarze kabellose Kopfhörer in den Ohren und Converse-Sneaker an den Füßen. Die Schuhe sind noch unbefleckt weiß: Jessica, 27 Jahre alt, ist neu hier in der Schlange der Armenspeisung. "Komm rein", sagt der Mann an der Tür. "Aber vorher die Hände desinfizieren."
Alte Menschen in Madrid: Schwacher Sozialstaat nach Franco
Foto: Paul White/ AP
Die Corona-Pandemie hat große Teile der spanischen Wirtschaft zum Erliegen gebracht. Als Ministerpräsident Pedro Sánchez am Abend des 14. März den Lockdown verkündete, schlossen Geschäfte, Restaurants, Konzerthallen und Unternehmen. Von einem auf den anderen Tag stand das öffentliche Leben und die Wirtschaft still. Innerhalb von sechs Wochen verloren zusätzlich zu noch über drei Millionen Arbeitslosen vom Jahresanfang 760.000 Menschen ihre Beschäftigung, über drei Millionen wurden vorübergehend freigestellt.
Auch Jessica war ihren Job los. Streng genommen musste sie nicht mal entlassen werden. Jessica ist Sängerin, noch im März hat sie mit einem Orchester gearbeitet. Angestellt wurde sie immer nur für den Tag des Auftritts. Das Geld reichte ihr immerhin zum Leben, einen Teil ihres Gehalts von knapp 900 Euro im Monat bekam sie schwarz ausgezahlt. Die Kündigung erreichte sie per WhatsApp. Mitte Mai holte sich Jessica zum ersten Mal Lebensmittel bei der Tafel ab. Ihren Nachnamen möchte sie lieber nicht verraten. "Es macht mich traurig, hier anzustehen", sagt sie. 2271 Personen versorgt die Wohltätigkeitsorganisation im Zentrum von Zaragoza derzeit mit kostenlosem Essen, das sind 504 mehr als vor dem Lockdown.
Szenen wie diese lassen sich mittlerweile in ganz Spanien beobachten. In den Metropolen Madrid und Barcelona sowie einigen Regionen mussten die Mitarbeiter der Hilfsorganisation der katholischen Kirche 60 Prozent mehr Zuwendungen leisten als in den Vorjahren, sagt Raúl Flores von der Stiftung Foessa, die für Caritas die soziale Situation untersucht. Die Schlangen des Hungers werden immer länger. Sie sind das sichtbarste Zeichen für das, was das Land in den kommenden Monaten erwartet: die wohl größte Wirtschaftskrise seit dem Ende des Bürgerkriegs 1939. Denn die Wirtschaft könnte nach Schätzungen der Bank von Spanien im schlimmsten Szenario um bis zu 14 Prozent einbrechen, die Arbeitslosigkeit auf 21 Prozent steigen, dann würden die Staatsschulden wohl auf 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anschwellen.
Geburt eines neuen Sozialrechts
Die Coronakrise hat in Spanien die Debatte über die Einführung eines Grundeinkommens beschleunigt. Denn staatliche Sozialhilfe gibt es bisher nicht. Erst nach dem Tod des Diktators Franco 1975 hat sich hier ein Sozialstaat entwickelt, wenn auch nur schwach. Familien mit Kindern erfahren kaum Unterstützung. Für ein Grundeinkommen zu sorgen, war deshalb das Haupt-Wahlversprechen der Linken von "Podemos". Schon vergangenen Herbst hatten sie das Programm in ihren Koalitionsvertrag mit den Sozialisten geschrieben. Jetzt setzt die Regierung Sánchez das Projekt eilig in Gang, um den Absturz von Hunderttausenden ins Nichts zu verhindern. "Es ist ein historischer Moment für unsere Demokratie", feierte Podemos-Chef und stellvertretender Ministerpräsident Pablo Iglesias "die Geburt eines neuen Sozialrechts".
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 80 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Denn noch immer hatte sich Spanien nicht wieder vollständig von den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 erholt. Schon bevor das Virus ausbrach, lag die Armutsquote bei um die 20 Prozent. Der Arbeitsmarkt ist gespalten, zu wenige haben unbefristete Verträge mit Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung, zu viele müssen sich mit Zeitverträgen durchschlagen, die oft nur für ein paar Tage gelten. Nach der Statistik der spanischen Beschäftigungsagentur Sepe suchen inzwischen 8,4 Millionen Menschen nach einem Job.
Es ist ein historischer Moment für unsere Demokratie
Pablo Iglesias, stellvertretender Ministerpräsident
Bislang zahlten nur die Regionalregierungen spärliche Hilfsgelder, die kaum ein Drittel der Armen, an die 75.000 Personen, erreichten, so Sozialforscher Flores. Das Grundeinkommen soll nun schätzungsweise 850.000 Haushalten, den am meisten Gefährdeten, eine finanzielle Absicherung verschaffen.
Allerdings ist ein "ingreso mínimo vital", wörtlich "Mindesteinkommen zum Leben" alles andere als bedingungslos. Es handelt sich um Zuwendungen ähnlich Hartz IV in Deutschland: Berechtigt sind Personen im Alter zwischen 23 und 65 Jahren. Sie müssen mindestens ein Jahr ununterbrochen in Spanien gemeldet sein. Das Sozialamt prüft Vermögen und vorhandene Einkünfte. Die werden künftig vom Staat ergänzt auf 462 Euro monatlich für Alleinstehende und bis zu 1015 Euro für eine fünfköpfige Familie. Für 2,3 Millionen Spanier dürfte das Grundeinkommen der einzige Weg sein, um die Coronakrise zu überstehen.
Die Wirtschaft könnte um bis zu 14 Prozent schrumpfen, die Arbeitslosenquote auf 21 ansteigen.
Foto: SUSANA VERA/ REUTERS
Nirgendwo wird das so deutlich wie in Madrid, wo die Pandemie am schlimmsten gewütet hat. In der Hauptstadt, einer der reichsten Regionen des Landes, stehen Hilfesuchende beispielsweise von einer der verwinkelten Seitenstraßen hinter der Puerta del Sol bis auf die Plaza de Jacinto Benavente. Die Tafel "Ave María" der Stadtverwaltung versorgt vor allem Obdachlose. Seit März kommen auch Altenpfleger, Kellnerinnen und Verkäufer. Sie alle haben ihre Arbeit verloren. Die Krise trifft jene zuerst, die schwarz oder mit Kurzzeitverträgen gearbeitet haben. Oft sind das Ausländer, die in den Jahren des Wirtschaftswachstums einen prekären Job gefunden hatten und nun als Erste entlassen werden.
Einer von ihnen ist Mario Ignat. Der 30-Jährige kam vor acht Jahren aus Rumänien nach Spanien, seitdem hat er auf dem Bau gearbeitet. Damit ist es nun vorbei. Allein in Madrid haben 138.000 Menschen ihren Job verloren, eine halbe Million sind freigestellt. Jede Woche gingen im Lockdown an die tausend Firmen pleite.
Ignat lebt noch keine zehn Jahre in Spanien, deshalb hat er noch nicht die spanische Staatsbürgerschaft. Sein Geld reicht gerade mal für die Miete. Ausgehen, ein Bier in der Bar nebenan, selbst kochen, das alles kann er sich kaum erlauben. Das neue Grundeinkommen könnte sein Leben entscheidend verbessern.
Für Mario Ignat und Jessica hängt viel davon ab, wann das Geld tatsächlich ausgezahlt wird. Ab dem 15. Juni können sie das Grundeinkommen beantragen. Noch vor Ende des Monats sollen die ersten 100.000 Berechtigten rückwirkend zum 1. Juni die Hilfe erhalten. Das hat die Regierung versprochen, Jessica hofft, dass sie bis dahin noch nicht auf der Straße sitzt.
Mitarbeit: Oliver Imhof
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