Künftiger Präsident im Check Jetzt muss Gauck liefern
Hamburg/Berlin - Kann ja nicht schaden, ein bisschen die übergroßen Hoffnungen zu dämpfen, mag er sich gedacht haben. Also sagte Joachim Gauck kurz nach seiner Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten, man möge von ihm bitte nicht erwarten, "dass ich ein Supermann und ein fehlerloser Mensch bin".
Ach Gott, wie eitel, mögen Arglistige bei diesen Worten des 72-Jährigen gedacht haben - als ob da jemand ernsthaft erklären müsse, kein überirdischer Alleskönner zu sein! Aber vielleicht ist das im Fall von Gauck ein bisschen anders. Man muss dazu nur schauen, in welche Sphären der frühere Chef der Stasi-Unterlagenbehörde gerückt wurde, als er 2010 als Kandidat von SPD und Grünen für das höchste Staatsamt antrat und erst im dritten Wahlgang gegen Christian Wulff unterlag: Als "Lichtgestalt" wurde er gefeiert, als "Präsident der Herzen" und "Bürgerrechtler der Nation".

Seine Anhänger und Bewunderer haben ihm diesen Thron gezimmert, bis heute haben sie ihn davon nicht heruntersteigen lassen. Und jetzt erwartet Deutschland am 18. März eine Art Frühlingsmärchen: Der Mann, für den die "Bild am Sonntag" einst mit der Zeile "Yes, we Gauck" warb, der Mann, den die Mehrheit der Bürger im Fall einer Direktwahl schon 2010 ins Schloss Bellevue geschickt hätte, soll zum nächsten Bundespräsidenten gewählt werden - getragen von einer breiten Stimmenmehrheit aus Union, FDP, SPD und Grünen. Da wundert es nicht, wenn Gauck in seinem ersten Statement einräumt, "überwältigt und auch ein wenig verwirrt" zu sein.
Seine Stärken
Wer ist Joachim Gauck, was zeichnet ihn aus, womit könnte er sich selbst schaden? Eine Annäherung an den designierten Bundespräsidenten. Die Vita
Schon als Neunjähriger habe er gewusst, "dass der Sozialismus ein Unrechtssystem war", hat der 1940 als Sohn eines Kapitäns in Rostock geborene Gauck einmal gesagt. Als Kind nämlich hat er die Willkür des Systems bitter erfahren: 1951 wird sein Vater von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, erst 1955 erfolgt die Begnadigung.
Der junge Gauck entzieht sich dem sozialistischen System so weit wie möglich: Bei den Jungen Pionieren und der Freien Deutschen Jugend macht er nicht mit, studiert später Theologie. Die Kirche erlebt er als einen Raum, in dem "Anpassung als dominante Verhaltensform" nicht toleriert wird. Gauck arbeitet als Pastor, gerät wegen seiner Kritik am SED-Regime ins Visier der Stasi. Im Herbst 1989 gehört er zu den Mitbegründern des Neuen Forums. 1990 wird er zunächst in die Volkskammer, später zum Beauftragten für die Stasi-Unterlagen gewählt. Mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bleibt sein Name eng verknüpft. Demokratie und Freiheit, das sind die Lebensthemen Gaucks.
Seine Überparteilichkeit
Gauck gehört keiner Partei an. Das macht ihn für viele zu einem glaubwürdigen Kandidaten, der für die Interessen des Volkes steht - und eben nicht für bloße Parteiarithmetik. Er ist offenbar auch niemand, der von einer Gier nach öffentlichen Ämtern getrieben ist: Anfang 1990 war er als Anwärter für den Posten des Rostocker Oberbürgermeisters im Gespräch - Gauck lehnte ab. Er sagte auch Nein, als er 1999 in der CSU für die Bundespräsidentenwahl als Gegenkandidat von Johannes Rau gehandelt wurde.
Die Kraft der Rede
Gauck ist ein ausgesprochen guter Redner. Allein sein kurzes Statement am Sonntagabend zeigte, dass er mit wenigen Worten Menschen berühren kann. Die Kraft der Rede ist die wohl wichtigste Wirkungsmöglichkeit eines Bundespräsidenten. Richard von Weizsäcker, Johannes Rau und Roman Herzog haben dies in der Vergangenheit eindrücklich bewiesen - Horst Köhler und Christian Wulff blieben eher blass.
Seine Beliebtheit
"54 Prozent wollen Gauck", so schrieb es die "Bild am Sonntag" zuletzt, als noch nicht klar war, dass Gauck wenige Stunden später zum überparteilichen Kandidaten von Schwarz-Gelb und Rot-Grün gekürt wird. In der Emnid-Umfrage rangierten Thomas de Maizière (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit jeweils 34 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz, alle anderen potentiellen Kandidaten folgten mit noch größerem Abstand - Gauck ist damit vor allem auch dies: ein Kandidat, den sich die Bürger wünschen.
Seine Schwächen
Die Eitelkeit
Es gibt ein Foto von Joachim Gauck, es gehört zur Werbekampagne der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Da sitzt Gauck auf einem Stuhl, versunken in die Zeitungslektüre. Neben ihm auf der Wiese liegen Menschen in der Sonne, plaudern miteinander, jemand hat einen Grill angezündet. Es ist nicht irgendein beliebiger Ort, der auf dem Bild gezeigt wird - im Hintergrund ist das Schloss Bellevue zu erkennen, der Amtssitz des Bundespräsidenten. Die Werbung erschien erstmals wenige Wochen nach Gaucks gescheiterter Kandidatur. "Joachim Gauck, Bürger", stand unten am Anzeigenrand.
Da geht ja jemand entspannt mit seiner Niederlage um, könnte man zu der Anzeige sagen. Man kann sie aber auch für den Ausdruck von Eitelkeit halten, die Gauck immer wieder zugeschrieben wurde. Seht her, könnte dieses Bild auch sagen, ich sitze hier als Bürger Gauck vor dem Schloss Bellevue. Drüben im Schloss sitzt jetzt zwar ein anderer, aber, lieber Zeitungsleser, Du weißt doch sicher auch noch, dass Du und all die anderen eigentlich mich im Amt haben wolltet.
Es kann irritieren, wie eingenommen Joachim Gauck von sich selbst ist, viele Interviewpassagen sind nicht gerade demütig, sondern ausgesprochen selbstbewusst. Da spricht jemand, der davon ausgeht, dass er für viele andere ein Sprachrohr ist.
Ob er eitel sei, wurde Gauck einmal gefragt. Seine Antwort: "Ich bin es in dem Maße, in dem das öffentliche Personen gemeinhin sind. Ich denke aber, dass ich es heute weniger bin, als ich es einmal war." Die "taz" hat vor zwei Jahren einmal mitgezählt, wie häufig in einer seiner Reden die Wörter "ich", "mir", "mich", "wir" und "uns" auftauchten: 151 Mal.
Außenpolitische Haltung
Das Amt des Bundespräsidenten ist in seinem Kern nach Innen gerichtet: Das Staatsoberhaupt ist im Idealfall ein Medium der Selbstvergewisserung und Identifikation für die Bürger des Landes. Aber zu seinen Aufgaben gehört zweifelsohne auch das sichere Auftreten im Ausland - zumal an neuralgischen Orten, die in enger und schwieriger Beziehung zur deutschen Geschichte stehen wie zum Beispiel Warschau, Tel Aviv oder Paris. Es ist beruhigend, wenn ein Präsident dorthin reist, von dem man weiß, dass er an diesen Orten auf Freunde trifft - so wie es beispielsweise für Johannes Rau war, wenn er nach Israel reiste. Es macht nervös, wenn man sich nicht sicher sein kann, wie fein das Gespür eines Präsidenten für das angemessene Verhalten ist. Heinrich Lübke ist ein Beispiel dafür.
Gauck hat sich in Fragen der internationalen Politik zeit seines öffentlichen Lebens nahezu vollständig zurückgehalten. Wenn er andere Staaten überhaupt erwähnt, dann oft im Zuge ihrer historischen Bedeutung: die Rolle der USA und Großbritanniens bei der Emanzipierung des mündigen Bürgers zum Beispiel. Da spricht der Bildungsbürger Gauck, der die Wurzeln des westlichen Denkens nachvollzieht. Aber Kommentare zur Außenpolitik sind die absolute Ausnahme. Und wenn, fielen sie meistens vage aus - hier schimmert die Sorge vor Kriegstreiberei mit Blick auf Iran durch, dort erkennt man im Vorbeigehen einen östlich geprägten Blick auf Polen. Aber verorten lässt sich Gauck in den internationalen Beziehungen nicht. Natürlich ist er gereist, in die europäischen Nachbarländer oder in die USA. Aber diese Erfahrungen und diese Art des Austausches drängt in seinem Denken und seinen Einlassungen nicht an die Oberfläche. Es scheint, bis auf weiteres, als treibe ihn das Innerdeutsche schlichtweg deutlich mehr an und um.
Seine Monothematik
Freiheit - dieses Thema zieht sich als Leitmotiv durch Gaucks Auftritte, auch in seinem Statement am Sonntag tauchte sie auf. Soziale Gerechtigkeit? Die multikulturelle Gesellschaft? Hierzu etwa hat man von Gauck noch nicht wirklich viel gehört.
Seine Unberechenbarkeit
Manches bleibt vage in den Äußerungen Gaucks - und mitunter auch widersprüchlich. Jenseits seiner Freiheitslehre, die er widerspruchsfrei beherrscht, bleibt Raum für Interpretation, wenn man wissen will, wofür Gauck steht.
So kritisierte er im Herbst 2011 die Occupy-Bewegung: "Einen Slogan wie 'Besetzt die EZB' finde ich schon sehr albern", sagte er der "Welt". Wenige Wochen später sagte er der "Zeit": "Aber wer protestiert, ist mir hochwillkommen, weil er nicht einfach im Sessel sitzt und sagt: Ach Gott, da kann man nun nichts machen!" Gauck wollte wohl deutlich machen, wie an anderer Stelle ähnlich, dass ihm grelle und ideologisch durchfärbte Forderungen suspekt sind, nicht aber Engagement als solches - aber angekommen ist das so wahrscheinlich nicht.
Dann der Fall Thilo Sarrazin: Dem attestierte er im November 2011 "Mut": Die politische Klasse könne aus dem Erfolg von Sarrazins Buch lernen, dass "ihre Sprache der politischen Korrektheit bei den Menschen das Gefühl weckt, dass die wirklichen Probleme verschleiert werden sollen".
Der Eindruck blieb, dass Gauck wohl kaum den (einzigen) berühmten Satz seines Vorgängers im Amt, Christian Wulff, über die Lippen gebracht hätte, dass der Islam auch zu Deutschland gehöre. Das ist umso merkwürdiger, als Gauck laut "Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung" 2004 seine Ablehnung an der Union daran festmachte, dass ihm deren Haltung zur Einwanderung suspekt sei: "Was sollte ich bei dieser Art von Union?" Was also denkt Gauck über die Vielfalt in Deutschland? Man wird nicht abschließend schlau aus ihm.
Memet Kilic, migrationspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, kündigte bereits an, wegen der Äußerungen über Sarrazin in der Bundesversammlung nicht für Gauck zu stimmen: "Ich habe auf jeden Fall Bauchschmerzen bei der Kandidatur Joachim Gaucks - vor allem wegen seines Lobes für Sarrazin und seiner Aussagen zur Occupy-Bewegung. Beide Punkte finde ich nicht gut. Es ist deshalb nicht möglich für mich, ihn zu wählen. Er ist aus meiner Sicht nicht wählbar", sagte Kilic SPIEGEL ONLINE. Damals, vor der ersten Kandidatur, habe Gauck vor der Grünen-Fraktion eine "bewegende" Rede gehalten, in der er auch die "richtigen Worte" in Bezug auf die Rolle von Migranten gefunden habe. Aber kurz nach seiner Wahlniederlage "attestierte er Sarrazin Mut. Da habe ich gedacht: Mit Sprache kann er offenbar blendend umgehen. Er selbst hat ja gefordert, dass man Politiker beim Wort nehmen soll - ich komme dem einfach nach und komme zu dem Ergebnis, dass ich ihn nicht wählen kann."
Seine größte Bürde
Er ist noch gar nicht gewählt, aber die Erwartungen an Gauck sind schon jetzt gigantisch. Sie erhoffe sich eine "Erneuerung der Demokratie", sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles am Montag, als sie gefragt wurde, was sie von der Wahl Gaucks zum Bundespräsidenten erwarte. Auch aus der Union kamen erwartungsvolle Töne: "Ich glaube, dass er der Bundespräsident der Herzen werden kann", sagte Thüringens Regierungschefin Christine Lieberknecht (CDU).
Überfrachtete Erwartungen können schwer auf den Schultern einer einzigen Person lasten. Auch der Münchner Kösel Verlag, der die Veröffentlichung des neuen Gauck-Buches "Freiheit. Ein Plädoyer" vorgezogen hat, hält sich nicht gerade zurück mit vollmundigen Versprechungen: "Wer wissen will, was unserer Gesellschaft zusammenhält, wird in dieser Schrift die Antwort finden."