35 Gramm Unglück
Es gibt für einen Schüler verschiedene Möglichkeiten, von der Schule geschmissen zu werden. Er kann mit LSD auf dem Schulhof dealen, er kann die Toilette mit Wurstgulasch zum Überlaufen bringen oder seine Gedanken zum Leben mit goldenem Lack auf die Fassade sprühen. In der englischen Kleinstadt Colnbrook hat der sechsjährige Riley Pearson dieser Liste eine weitere Möglichkeit hinzugefügt: Der Junge führte eine Tüte Käsecracker mit sich.
Die Käsecracker der Marke "Mini Cheddars" sind eine Institution in England, ähnlich den deutschen Erdnussflips. Es gibt sie in den Geschmacksrichtungen "Original Flavour", "Cheese & Onion", "BBQ" oder "Mature Cheddar". Laut Hersteller sind die Mini Cheddars ideal, wenn der Magen knurrt und nach etwas "echt Käsigem" verlangt, das einen um die Mittagszeit wieder flottmacht. Wenn man Herstellerangaben bedingungslos vertraut, was manche Menschen sicherlich tun, könnte man glauben, die Mini Cheddars seien Teil einer ausgewogenen Ernährung.
Tom Pearson, der Vater des Jungen, erzählt am Telefon, er habe das Kleingedruckte auf der Rückseite der Mini Cheddars sehr genau gelesen. So hätten er und seine Frau sich nichts dabei gedacht, als sie vor ein paar Wochen morgens vor der Schule die Pausenbox ihres Sohnes füllten. Sie legten ein Sandwich hinein, einen Joghurt, ein Stück Käse, eine Flasche Wasser und eine Packung Mini Cheddars. Sie ahnten nicht, dass der Inhalt dieser Pausenbox die Schullaufbahn ihres Jungen an der Colnbrook Church of England Primary School vorzeitig beenden würde.
Eine 35-Gramm-Packung Mini Cheddars enthält 183 Kilokalorien, ungefähr so viel wie ein Apfel, aber Rileys Eltern hatten bisher wenig Gründe dafür gehabt, sich um Kalorien zu sorgen, als sie die Pausenbox ihres Sohnes füllten. "Wenn überhaupt, hat Riley Untergewicht", sagt Tom Pearson.
Aber eigentlich hätte er wissen müssen, dass ein Mann die Grundschule leitet, der Mini Cheddars gewissermaßen den Krieg erklärt hat und sich auf einer Mission befindet, in der 183 Kilokalorien den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage markieren können.
Jeremy Meek ist seit etwas mehr als einem Jahr Schulleiter. Die Schulbehörde hatte seinen Vorgänger entlassen, weil sich die Schule in einem desolaten Zustand befand. Die Ortschaft Colnbrook liegt im Westen Londons, in der Nähe des Flughafens Heathrow. Hier leben viele Kinder, deren Eltern aus Jamaika und Polen kommen. Meek hat damit zu kämpfen, dass viele Kinder schlecht Englisch sprechen und dass die Familien schnell wieder wegziehen, wenn sie sich etwas Schöneres leisten können. Und er hat noch einen dritten Punkt identifiziert, der ihn an seiner Schule stört: Die Kinder sind zu fett.
30 Prozent der englischen Kinder im Alter von 2 bis 15 Jahren leiden unter Übergewicht. Und weil die einzige Waffe des Schulleiters die ist, Regeln zu schaffen, schickte er zu Jahresbeginn den Eltern einen Brief nach Hause. Darin stand: "Schokolade, Süßigkeiten, Chips und süße Limonade sind nicht erlaubt."
Als Riley seine Pausenbox öffnete, so erzählt es sein Vater, stand Rektor Meek hinter ihm. Meek antwortet auf Fragen von Journalisten vor allem mit Schriftsätzen, in denen er über die Pflicht schreibt, Kinder die Vorteile des gesunden Lebens zu lehren.
Man würde trotzdem gern wissen, was Meek dachte, als er den Regelverstoß ahndete, ob er sich gut fühlte oder ein bisschen schäbig oder ob er einfach nur seine Pflicht tat. Es ist leider nur bekannt, dass die Schule, nach einem Treffen mit dem Vater, Riley für vier Tage vom Unterricht ausschloss.
War das richtig? Wenn eine Schule Regeln setzt, muss sie Verstöße bestrafen? Darf ein Kind für die Taten seiner Eltern bestraft werden? Wenn ja, wie hart? Sollte eine Schule Einfluss nehmen auf den Bauchumfang der Schüler? Geht es den Lehrer etwas an, was ein Kind isst?
Nach dem Verweis des Schulleiters suchten die Eltern das Gespräch mit einem Reporter der Lokalzeitung. Kurze Zeit später berichteten der "Guardian" und die Boulevardzeitung "Sun" über Riley und die Mini Cheddars.
Riley ist nie in die Colnbrook Church of England Primary School zurückgegangen. Vier Tage nach dem Gespräch bekamen seine Eltern einen Anruf aus der Schule. Der Schulleiter Jeremy Meek sagte ihnen, dass Riley dauerhaft der Schule verwiesen werde, auch sein vierjähriger Bruder aus dem Schulkindergarten, weil das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Schule irreparablen Schaden genommen habe. Riley sitzt immer noch zu Hause und wartet darauf, wie es jetzt weitergeht.
Man bleibt zurück mit einer 35 Gramm schweren Tüte Käsecracker und der Frage, warum sich Menschen so häufig selbst unglücklich machen. Rileys Eltern sagen, sie seien im Recht. Schulleiter Meek sagt, er sei im Recht. Dazwischen steht ein sechs Jahre alter Junge.