EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Friss das, Genosse
Wolfgang Joswig steht auf dem Marktplatz in Jena, über ihm baumelt ein 365 Kilogramm schwerer Kartoffelkloß an einem Kran. Es ist die Aktion eines Kloßherstellers, vordergründig. Für Wolfgang Joswig ist der Kloß ein Beweis. Er hat es geschafft. Er hat es den Kommunisten gezeigt, endlich, diesen roten Ratten, wie er sie nennt. Mit dem Kloß ist Wolfgang Joswig in der Freiheit angekommen.
Die Freiheit begegnete ihm erstmals 1970 in Form eines westdeutschen Traktors, der durch den Acker jenseits des Todesstreifens pflügte. Joswig diente als Wehrpflichtiger in der Volksarmee. Bei der Musterung hatte er gesagt, dass er nicht schießen würde. Er kam zu den Grenztruppen. Und nun stand er vor dem Stacheldraht, der Thüringen von Bayern trennte, und sollte dieses Land beschützen. Er hasste es.
Joswig versuchte sich vorzustellen, wie sich das anfühlen musste, wenn man überall hinfahren kann wie dieser Bauer auf der anderen Seite. Und er schwor sich, dass er es der DDR irgendwann heimzahlen würde.
Schon Joswigs Eltern mochten den Kommunismus nicht. Als die Mauer gebaut wurde, saß die Familie vor dem Radio und weinte. Der kleine Wolfgang saß da, zehn Jahre alt, und weil alle traurig waren, weinte auch er.
Joswig verachtete seine Genossen bei den Grenztruppen, weil sie auf Flüchtlinge schossen. Die Genossen verachteten Joswig, weil er nicht auf Flüchtlinge schoss. Sie stritten. Joswig kam vor Gericht und bekam zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung, wegen Staatsverleumdung.
Vor seinem Wehrdienst hatte er bei Zeiss gearbeitet in Jena. Sein Vorgesetzter wollte ihn nun nicht mehr einstellen, wegen der Vorstrafe. Joswig fand Arbeit als Betriebshandwerker in der Universität. Eigentlich hatte er dort gar nichts zu tun, sagt Joswig.
Aber er hatte Ideen: Er wollte eine Firma gründen und blinkende Werbetafeln verkaufen. Der Antrag wurde abgelehnt. Er wollte ein Pferdefuhrwerk anschaffen und ein Transportunternehmen starten. Antrag abgelehnt. Er wollte Land kaufen für eine Kaninchenfarm. Abgelehnt.
Joswigs Akte bei der Staatssicherheit umfasst 90 Seiten, darin entdeckte er diesen Satz: "J. schloss sich gegenüber dem Kollektiv ab, er fand auch nicht mehr das richtige Verhältnis zur Arbeitsdisziplin." Das machte ihn wütend. Es las sich so, als hätte er sich gedrückt vor Arbeit. Dabei wollte er ja, er durfte bloß nicht.
1989 ging Joswig zu einer Versammlung von Bürgerrechtlern ins Lutherhaus in Jena. Er sagte: "Ich war nie ein DDR-Bürger, ich will auch heute keiner sein, ich bin Deutscher." Die Zuhörer applaudierten. Kurz darauf fiel die Mauer. Joswig saß vor dem Fernseher, weinte und war glücklich.
Er wurde Marktleiter der Stadt Jena, kümmerte sich um den Weihnachtsmarkt, Töpfermarkt, Holzmarkt. Er machte Urlaub in Bayern, wanderte über den Acker, den er 1970 als Grenzsoldat gesehen hatte. Und er wusste, es ist Zeit: Doch ein Pferdefuhrwerk schien veraltet, blinkende Reklame auch, und niemand aß mehr Kaninchen, das war nun ein DDR-Essen.
Dann hatte Joswig die Idee mit der Wurst. Lang sollte sie sein, eine Thüringer Bratwurst, die längste der Welt.
Schlachter wursteten einen ganzen Tag und legten die rohe Thüringer in Schleifen in einen Lastwagen. Sie grillten auf einem zwölf Meter langen Rost, schoben Stück für Stück über die Kohle. Es war die längste Wurst, die jemals gegrillt wurde: drei Kilometer lang, Rekord, Guinness-Buch. Joswig aß ein großes Stück Wurst an diesem Tag. "Der alte Staatsfeind Joswig hatte allen gezeigt, dass er auch was Großes hinkriegt. Von wegen keine Arbeitsdisziplin", sagt er. Die Wurst war für ihn Vergangenheitsbewältigung. Der Rekord war seine Rache an der DDR.
Nach der Wurst briet Joswig den größten Kartoffelpuffer der Welt, er hatte einen Durchmesser von einem Meter. Als er den Puffer im Fett schwimmen sah, dachte Joswig an den nächsten Rekord. "Wir machen den größten Riesenkloß", sagte er schließlich.
300 Kilogramm schwer sollte er werden, aus Kartoffeln. Joswig ließ einen Kochtopf bauen aus Glas. Er ließ den Glastopf an einem Kran aufhängen, und im Sommer 2001 kochte er den Kloß auf dem Kirchplatz. Der Kloß garte und schmeckte, aber die Waage war nicht geeicht, und der Rekord zählte nicht.
Die Kloßfirma, die an dem Projekt beteiligt war, wollte ihren Eintrag im Guinness-Buch und kochte dieses Jahr noch einen Kloß, 365 Kilogramm schwer. Wolfgang Joswig schaute sich an, wie Helfer mit grünen Gummihandschuhen die Kloßmasse auf Teller verteilten. Der Kloß war nicht mehr sein Kloß, er war zum Werbekloß geworden, aber das störte Joswig nicht. Es war immer noch seine Idee.
"Ich würd mal sagen, ich hab in meinen 20 Jahren Bundesrepublik mehr erreicht als manch anderer Bundesbürger in 60 Jahren", sagt Joswig.
Er nahm ein paar Bissen von der Kloßmasse und gabelte ein wenig im Gulasch. Eigentlich isst er lieber Kaninchenbraten, sagt er.