LITERATUR Sie dichten empfindsamer
Frauenliteratur - was ist das eigentlich? Literatur über, für oder von? Das soll heißen: über Frauen, also über "Iphigenie auf Tauris", "Maria Stuart" oder das "Käthchen von Heilbronn", über "Madame Bovary", "Anna Karenina" oder "Effi Briest", über "Judith", "Nora" oder "Hedda Gabler"? Nein, das kann mit der Vokabel "Frauenliteratur" schon deshalb schwerlich gemeint sein, weil die Zahl literarischer Werke, in deren Mittelpunkt Frauen stehen, so enorm ist, daß sich - ob diese Werke den Frauen gefallen oder nicht - ein eigener Ordnungsbegriff erübrigt.
Geht es vielleicht um eine Literatur, die sich, welches Thema sie auch behandelt, in erster Linie für Leserinnen eignet? Solche Bücher mag es geben, aber sie gehören wohl eher in den Bereich der Trivialliteratur. Noch nie habe ich von einem Autor, sei es männlichen, sei es weiblichen Geschlechts, gehört, dem es daran gelegen wäre, ausschließlich von Frauen oder ausschließlich von Männern gelesen zu werden. So bleibt nur eine einzige und tatsächlich einleuchtende Möglichkeit: Nicht die Themen oder die Adressaten sind gemeint, sondern die Urheber. Kurz: Was wir "Frauenliteratur" nennen, ist Literatur, die von Frauen verfaßt wird.
Aber unterscheidet sie sich wirklich von jener, die aus der Feder von Männern stammt? Im Jahre 1996 hat die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger ein Buch mit einem erstaunlichen Titel veröffentlicht. Er lautet: "Frauen lesen anders". Doch verblüffend ist nicht etwa die als Titel dienende Behauptung oder These, verblüffend scheint mir vielmehr die Tatsache, daß hier die Autorin mit einiger Entschiedenheit etwas verkündet, was sich von selbst versteht - und was, mit Verlaub, so banal ist, wie es die Entdeckung wäre, daß man im Regen naß wird. Indes ist bisweilen gerade das Banale nicht überflüssig.
* Dargestellt von Leonardo DiCaprio und Claire Danes in der Verfilmung von Baz Luhrmann (1996).
Frauen empfinden, erleben und erleiden die Welt anders als Männer - und ich kann mir beim besten Willen den Mann oder die Frau nicht vorstellen, die diese banale Feststellung anzweifeln wollten. Romeo ist jung und liebt Julia, Julia ist ebenfalls jung und liebt Romeo. Nur darf man nicht vergessen, daß er eine andere Vergangenheit hat als sie und ein anderes Temperament: Er sieht sie anders als sie ihn. Sie reagieren auf das Leben unterschiedlich.
Da Frauen die Welt anders empfinden und anders erfassen, müssen sie auch anders als die Männer lesen. Wenn aber Frauen anders lesen, dann liegt es doch auf der Hand, daß sie auch anders schreiben, anders dichten. Wer jedoch die Frage nach der Eigenart und der Besonderheit der Literatur von Frauen stellt, der begibt sich auf ein leider nach wie vor riskantes, ein von Fallen umstelltes Gelände. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, mag er, die Banalitäten fortsetzend, lauthals erklären: Glücklicherweise dichten Frauen anders. Gleichwohl gerät er in den Verdacht, den schreibenden Frauen am Zeuge flicken zu wollen: Denn er rede nur vorgeblich von der Besonderheit dieser Literatur, insgeheim aber ziele er auf deren Grenzen und Schwächen ab, wenn nicht gar auf deren Minderwertigkeit.
Sind denn Literatur und Kunst ausschließlich männliche Domänen? Nein, natürlich nicht. Aber war es immer so? Wir sollten nicht übersehen, daß jene, die im Laufe der Jahrhunderte und der Jahrtausende die Frauen im Bereich der Literatur bestenfalls als Leserinnen dulden wollten, sich auf allerlei Fakten und Erfahrungen berufen konnten. Ob es uns gefällt oder nicht: Die Zahl der Frauen, die, im Altertum ebenso wie im Mittelalter, zur Poesie beigetragen haben oder, um es vorsichtiger zu formulieren, von denen nennenswerte dichterische Arbeiten erhalten geblieben sind - diese Zahl ist verschwindend klein. Nur beweist das noch keineswegs, daß Kreativität und Genie nicht Sache des weiblichen Geschlechts seien.
Es wurde schon oft gesagt und kann nicht oft genug wiederholt werden: Die den Frauen in der von Männern beherrschten Welt zugewiesene Rolle hat ihnen die Beschäftigung mit allem Geistigen und Künstlerischen in hohem Maße erschwert, ja unmöglich gemacht. Im ersten Brief des Paulus an die Korinther heißt es mit nicht zu überbietender Deutlichkeit, der Mann sei "Gottes Bild und Abglanz". Die Frau hingegen sei "des Mannes Abglanz", ja, sie sei geschaffen "um des Mannes willen". Eben deshalb habe die Frau - und das ist nur eine von vielen Folgen dieser Anschauung - in der Öffentlichkeit (Paulus spricht von der "Gemeindeversammlung") zu schweigen. Das galt Jahrtausende hindurch. Also: Literatur ist keine männliche Domäne, war es aber mindestens bis zum 18. Jahrhundert.
Noch in der Goethe-Zeit wurde die Aufgabe der Frau in der Familie und ihre Stellung in der Gesellschaft mit aller Entschiedenheit eingeschränkt. In Schillers "Lied von der Glocke" lesen wir:
Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise ...
Die Voraussetzungen für die literarische (und sei es die bescheidenste) Betätigung von Frauen waren viel ungünstiger als die für ihre männlichen Zeitgenossen, jedenfalls so ungünstig, daß im Mittelalter und in der frühen Neuzeit deutsche Dichterinnen, deren Talent unzweifelhaft ist, überaus seltene Ausnahmen blieben - wie im 17. Jahrhundert Sibylla Schwarz und Catharina Regina von Greiffenberg.
Im deutschen Sprachraum erfolgt erst erheblich später, nach der Aufklärung und nach der Französischen Revolution, mit der Emanzipation der Frau endlich auch deren (zunächst zögernde und sehr begrenzte) Teilnahme an der Literatur. Ich denke an Caroline von Schelling und Bettina von Arnim, an Rahel Varnhagen von Ense, geborene Levin, und an Dorothea Schlegel, die Tochter Moses Mendelssohns. Diese viel diskutierenden und noch mehr korrespondierenden Frauen der deutschen Romantik - sie sind unvergeßlich. Unter ihren zahllosen Briefen finden sich auch Glanzstücke deutscher Prosa.
Aber, wage ich zu fragen, würden wir uns noch an diese Frauen erinnern, wenn es nicht die bedeutenden Männer gegeben hätte, mit denen sie befreundet und bisweilen auch verheiratet waren? Nein, ich unterschätze diese Romantikerinnen keineswegs, nur glaube ich, daß sie hervorragende Figuren weniger der Literatur als vor allem des literarischen Lebens waren.
Anders verhält es sich mit Annette von Droste-Hülshoff, dieser stillen und schwermütigen, dieser düsteren und dämonischen, dieser wunderlichen und letztlich wunderbaren Dichterin. Doch ist sie im 19. Jahrhundert eine einsame Poetin, eine in der Geschichte der deutschen Literatur isolierte Erscheinung. Auch hier haben wir es also mit einer großen Ausnahme zu tun.
Kannte das 19. Jahrhundert auch nur eine einzige deutschsprachige Erzählerin, die man den Engländerinnen Jane Austen und George Eliot an die Seite stellen könnte? Erst gegen Ende des Jahrhunderts machen talentvolle Autorinnen wie Marie von Ebner-Eschenbach, Ricarda Huch oder - etwas später - Else Lasker-Schüler auf sich aufmerksam und werden, wenn auch meist mit einiger Verwunderung, anerkannt und sogar geachtet.
Aber die fatale Situation der Frauen in der Gesellschaft dieser Epoche macht schon der Umstand deutlich, daß in Deutschland für Mädchen das Abitur bis zu den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unerreichbar blieb - und sie somit auch zum Universitätsstudium nicht zugelassen waren. Ricarda Huch begann das Studium der Geschichte und der Philologie im Jahre 1888 - freilich in Zürich, wo sie zunächst einmal mit Hilfe von Privatstunden das Abitur nachholen mußte.
Es hat in Deutschland - anders als in England, Frankreich oder Polen - ziemlich lange gedauert, bis die literarische Öffentlichkeit die wenigen dichtenden Frauen ohne Vorbehalt akzeptiert hat. Die 1920 erschienene große Anthologie der expressionistischen Lyrik, die "Menschheitsdämmerung", vereint Gedichte von 23 Autoren. Unter ihnen ist nur eine einzige Frau: Else Lasker-Schüler.
Kein Zweifel, wir verdanken ihr herrliche Verse. Aber ist diese so originelle wie unabhängige, diese so exaltierte wie extravagante Poetin, die einst eher angestaunt als ganz ernst genommen wurde, beispielhaft für die Frauen in der Geschichte der deutschen Literatur der letzten hundert Jahre? Nein, das wäre gewiß übertrieben. Doch schon Else Lasker-Schüler, die sich standhaft weigerte, die Welt zur Kenntnis zu nehmen, und stets in einem orientalischen Märchenreich lebte, war, wie viele ihrer Nachfolgerinnen, eine Sachwalterin des Seelischen und des Traumhaften, des Schwärmerischen und nicht selten auch des Phantastischen.
In den Werken natürlich nicht aller, doch mit Sicherheit zahlreicher deutscher Autorinnen unseres Jahrhunderts dominiert ebenfalls das Unbewußte, das Irrationale. Goethe meinte im Gespräch mit Eckermann: "Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser." Gerade Frauen haben diese fatale Äußerung gern und oft beherzigt. Nicht das Intellektuelle steht also im Vordergrund ihrer Bücher, sondern das Emotionale, das Gemüt. Und das Fundament ist meist die metaphysische Weltsicht.
Von Agnes Miegel, die Hitler huldigte, über Nelly Sachs, die von Hitler vertrieben, bis zu Gertrud Kolmar, die von Hitler ermordet wurde - es sind immer gläubige Schriftstellerinnen. Sie glauben, ob protestantisch oder katholisch, an Gott wie Gertrud von Le Fort und Regina Ullmann, wie Ina Seidel, Elisabeth Langgässer und Christine Lavant. Oder sie glauben an die Revolution - wie Anna Seghers, die Kommunistin.
Und wie Anna Seghers, die Hochgebildete, in ihren Romanen und Erzählungen am liebsten einfache Leute zeigte, die wenig denken und wenig verstehen und um so mehr fühlen und die, ohne viel zu fragen und ohne je zu zweifeln, immer für ihre Partei zu Opfern bereit sind, so erzählte die um ein Vierteljahrhundert jüngere und aus einer völlig anderen Welt kommende Ingeborg Bachmann, die lyrische Sprecherin einer ganzen Generation, von Menschen, die an Angstzuständen und Ohnmachtsanfällen leiden, die mit dem Kopf gegen Glastüren prallen und den Boden unter ihren Füßen verlieren.
Aber sind für die deutschsprachige Dichtung unserer Zeit Autorinnen wie Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger typisch, diese scheuen und schüchternen Österreicherinnen, die verwirrt und hilfsbedürftig durchs Leben gehen und stets Ausschau halten nach männlichem Schutz? Oder sind es eher Ricarda Huch und Marie Luise Kaschnitz, die mit beiden Beinen auf dieser Erde standen, oder Hilde Domin, deren Poesie, vom Exil geprägt, Widerspruch und Widerstand ist? Oder Sarah Kirsch, die große Panerotikerin, deren Verse stets auf Selbstbekenntnis und Selbstdarstellung hinauslaufen?
Man hat gelegentlich behauptet, bei den Frauenfiguren in der Weltliteratur handle es sich nur um männliche Wunschvorstellungen, die auf weibliche Personen übertragen wurden. Gewiß doch: Was die Dichter, ob Männer oder Frauen, schreiben, ist immer mehr oder weniger ichbezogen.
Und wie ist es um die angeblich so verwerflichen männlichen Wunschvorstellungen beschaffen? Jawohl: Gretchen und Klärchen und Käthchen, Ophelia und Cordelia, Tristans Isolde und Werthers Lotte, die unglückliche Marquise von O., die furchtbare Penthesilea und jene Alkmene, deren "Ach!" uns ein Leben lang begleitet, Tony Buddenbrook, Madame Clawdia Chauchat und das unvergeßliche Mädchen Lolita - sie alle wurden von Männern geschaffen, sie alle sind Ausdruck männlicher Wünsche und Hoffnungen, männlicher Ängste und Schrecken.
Diese Tatsache halten strenge Repräsentantinnen des weiblichen Geschlechts für betrüblich und bedauerlich, wenn nicht gar für skandalös. Das mag ja sein, aber niemand wird die männlichen Autoren davon abbringen, die Frauen so zu zeigen, wie sie die Frauen sehen. Daß sie aber in der Literatur immer wieder bloß aus männlicher Sicht gezeigt werden - dabei muß es nicht bleiben. Doch können diesen Sachverhalt nur die Autorinnen ändern, indem sie die von Männern stammende Literatur durch eine aus weiblicher Sicht ergänzen.
Gibt es denn in der deutschen Literatur aus der Feder von Frauen einprägsame weibliche Figuren überhaupt nicht? Wir finden sie im Werk weder der Ricarda Huch noch der Marie Luise Kaschnitz, die doch beide Erzählerinnen waren, ja nicht einmal in der Epik der Anna Seghers, der wir den wohl bedeutendsten Roman verdanken, den eine Frau in deutscher Sprache geschrieben hat, "Das siebte Kreuz".
Wie auch immer: Frauen dichten anders, zumal deutsche Frauen. Gewiß, man sollte es vermeiden, ihre schriftstellerische Produktion auf bestimmte Typen und Tendenzen einzuschränken. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß die Andersartigkeit der weiblichen Wahrnehmung der Welt zwar in allen Gattungen der deutschen Literatur sichtbar wird, allerdings kaum im Drama, deutlicher schon in der erzählenden Literatur und am stärksten in jener Gattung, die die persönlichste, die intimste ist - in der Lyrik. Nehmt alles nur in allem: Es gibt herrliche Poesie von Frauen, die auf die Welt empfindsamer reagieren. Diese Poesie ist also herrlich, nicht obwohl, sondern weil Frauen anders dichten.
Im Frankfurter Insel Verlag erscheint in diesen Tagen das von Marcel Reich-Ranicki herausgegebene Buch "Frauen dichten anders". 864 Seiten; 49,80 Mark.