Spielhallen, Wettbüros, Sexclubs. Bislang galt die Neuköllner Flughafenstraße nicht unbedingt als erste Adresse für die Avantgarde. Doch seit Staalplaat im vergangenen Jahr aus Mitte hierhergezogen ist, hat sich die Situation verändert. Der Laden ist das Hauptquartier eines holländischen Netzwerkes von Klangkünstlern und experimentellen Musikern und bietet vermutlich Berlins größte, in jedem Fall aber obskurste Auswahl an Plakaten, Schallplatten, CDs und Büchern aus dem Bereich. Er ist Archiv, Treffpunkt und Auftrittsort zugleich. „Neukölln ist mittlerweile zum internationalen Zentrum der Szene geworden“, sagt der Noisekünstler Rinus van Alebeek, „der Bezirk passt einfach gut zu unserer Musik, die amorph ist, sich ständig verändert und nur schwer definieren lässt. Genauso ist auch Neukölln.“ Der Holländer lebt seit zwei Jahren in der Nähe der Rütli-Schule und hat in seiner Nachbarschaft ungezählte Konzerte gegeben und organisiert. Experimental, Noise, Field Recordings, Free Jazz, Improvisation. „Ich nenne es lieber die nichtakademische zeitgenössische Musik“, sagt van Alebeek. Neben dem Sowieso, einem Raum in der Weisestraße, ist er vor allem im Staalplaat-Laden aktiv.
Van Alebeeks Tatendrang steht symptomatisch für eine Dynamik, die vor gut zwei Jahren so richtig begonnen hat und deren Motor die Avantgarde ist, die Performer, Klangtüftler, Konzept-, Video- und Krachkünstler. Mit ihnen kamen die Partys, Happenings, Konzerte und Ausstellungen in Wohnungen, Hinterhöfen, Kellern und Fabriketagen. Durch Blogs und Mundpropaganda erlangte Neukölln ein internationales Aufsehen, noch bevor es der Rest von Berlin überhaupt merkte. Heute ist das Nachtleben zwischen Schönleinstraße und Rathaus Neukölln kein Geheimtipp mehr, ennoch formuliert es sich unentwegt neu. Davon zeugen Konzertreihen wie „quiet cue“ und „le petit mignon“ und Orte wie das Loop-Hole, Gelegenheiten, Ohrenhoch oder das Alte Finanzamt. Es sind Enklaven des Unhörbaren, des Klangabenteuers und des infernalischen Krachs.
Was derzeit im Norden von Neukölln passiert, lässt sich durchaus mit der Entwicklung von New Yorks Lower East Side in den 1970er und 1980er Jahren vergleichen. Damals zogen Künstler und Musiker in den heruntergekommenen Stadtteil im Südosten Manhattans, weil das Greenwich Village, traditionell die bevorzugte Wohngegend der Boheme, zu teuer wurde und für neuartige musikalische und künstlerische Ideen keine Plattform bot. Der Rest von Manhattan, Uptown also, ohnehin nicht. In der multiethnischen Arbeitergegend erfanden die Pioniere der New Yorker Downtownszene eine Mischung aus apokalyptischem Großstadtgefühl, Do-it-yourself- Strategie und Bildersturm. Sie gaben uns No Wave und das Cinema of Transgression, 30 Jahre lang stand hier der sagenumwobene Punkclub CBGB’s, in dem die Ramones, Television und Blondie erstmals vors Publikum traten, und der Saxofonist und Labelbetreiber John Zorn revolutionierte aus der Lower East Side heraus den Jazz. Bis zum heutigen Tag betreibt Jonas Mekas dort das Anthology Film Archive, ein weltweit bekanntes Zentrum des Undergroundkinos.
Betritt man heute das NK, bekommt man eine Vorstellung, wie die experimentellen Loftkonzerte der New Yorker damals ausgesehen haben mochten. Im Herbst 2008 gründeten sieben internationale Klangkünstler den Projektraum in einer weitläufigen Fabriketage im zweiten Geschoss einer Hinterhofmanufaktur in der Elsenstraße, direkt über Pflugraths Kistenfabrik und Metalbau Mehlau. Raue weiße Wände, kühles Licht, grauer Betonboden, das Ambiente repräsentiert Konzentration und Minimalismus. „Wir wollen fünf Jahre bleiben“, sagt die im Iran geborene und in den USA aufgewachsene Farahnaz Hatam, eine der Gründerinnen des NK. Die Abkürzung steht wahlweise für Neue Kölln, Non Korrosiv oder Nyquist Kurve. Renommierte Avantgarde-Musiker wie Hannes Hoelzl, Zbigniew Karkowski und Alberto de Campo sind hier schon aufgetreten, haben an eigenen Projekten gearbeitet oder Workshops gegeben, erst kürzlich auch der Spanier Francisco Lуpez. Er arrangierte düstere Klanggebilde zu einem bedrohlichen Hörspiel, die Zuschauer haben sich mit schwarzen Stoffbändern die Augen verbunden, damit das Hörerlebnis nicht getrübt wird, die Stimmung glich einer Seance. Doch Konzerte sind im NK seltener geworden, es gibt Ärger mit den Nachbarn – ein Problem, mit dem sich fast alle Veranstalter in Neukölln konfrontiert sehen. Es ist keine komfortable Situation, sie zwingt die Musiker und Veranstalter aber, ständig nach neuen Lösungen und Auftrittsmöglichkeiten zu suchen – Orte entstehen und verschwinden, alles bleibt in Bewegung.
Der 25-jährige Musikproduzent Ingmar Beyer zog erst im November 2009 nach Neukölln und eröffnete in der Harzer Straße einen Kunstraum, das Territorium. Vorher war Beyer in Mitte und Friedrichshain aktiv, ist jetzt aber überzeugter Neuneuköllner. „So ein Projekt könnte ich heute doch nirgendwo sonst in der Stadt verwirklichen“, sagt er, „es wäre einfach zu teuer.“ Alle zwei Wochen wechseln die Ausstellungen, derzeit zeigt er Bilder und Zeichnungen von Grazyna Zarebska, im Hinterraum hat er eine kleine Bar aufgebaut, man kann etwas trinken oder an einer alten Nintendo-Konsole Videospiele spielen. Demnächst soll noch ein Aufnahmestudio hinzukommen. Zu den Vernissagen und Konzerten kommen auch Gäste aus Mitte und Kreuzberg. „Man ist hier doch im Zentrum der Stadt, das darf man nicht vergessen“, sagt Beyer.
Selbst der Raum18 ist mit der U-Bahn nicht mehr als 25 Minuten vom Alexanderplatz entfernt, vom Kottbusser Tor sind es 15. Am Teltowkanal in der Ziegrastraße ist dieser Stützpunkt der Avantgarde gut versteckt, in einem trostlosen Industriegebiet, zwischen Kfz-Meisterei und Schrottbergen. Dritte Etage, miteinander verbundene flache Räume mit großen Fenstern, die einen Blick auf Lagerhallen und Werkstätten offenbaren. Die Gegend ist nach 20 Uhr mehr als tot. Und doch fanden hier in letzten Monaten die lautesten und kompromisslosesten Krachkünstler der Welt zusammen.
Ignaz Schick hat im Raum18 seine Plattenspieler malträtiert, die aggressiven Free-Jazz-Punks Borbetomagus zelebrierten hier die hohe Schule der atonalen
Kracherzeugung.
Diese Orte sind Labore, in denen sich Bilder und Klänge frei und unabhängig von den Regeln des Marktes entfalten können. Angetrieben allein vom Enthusiasmus und schöpferischen Geist der Protagonisten. In den Clubs, Kellern und Lofts entsteht ein neues Vokabular, eine neue künstlerische Ausdrucksweise. Hier ist der Arbeitsplatz der Avantgarde, die nur von wenigen beachtet in der Nische agiert, deren ästhetische Experimente mit der Zeit aber in den etablierten Kulturbetrieb einfließen. Dies zumindest lehrt uns die Vergangenheit.
Denn ohne die Künstler der Lower East Side würde heute die amerikanische Kultur anders aussehen. Mit einer Haltung, in der sich die Lust am Experiment, Aggressivität, Nonkonformismus und ein Interesse am Banalen widerspiegelte, stellte sich eine ganze Generation den von Filmstudios, Kunstmarkt und Musikindustrie aufgestellten Regeln entgegen. Die Ursprünge von Filmemachern wie Jim Jarmusch, Fotografen wie Richard Kern und Schauspielern wie Steve Buscemi sind in der Lower East Side zu finden. Musiker wie Arto Lindsay, John Lurie und Sonic Youth verdienten sich in der Downtown-Szene ihre Sporen, in der bildenden Kunst sorgte die interdisziplinäre Colab-Gruppe, zu der unter anderem Jenny Holzer gehörte, für Aufruhr.