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Literatur im Lichthof (10/2017) - Weitwinkel

 

Joachim Gatterer: Paul Floras Karikaturen. Zur Ausstellung im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 2016/2017

 

Blick in die Ausstellungsräumlichkeiten (© Wolfgang Lackner); Umschlag des Ausstellungskatalogs

 Blick in die Ausstellungsräumlichkeiten (© Wolfgang Lackner); Umschlag des Ausstellungskatalogs

Blick in die Ausstellungsräumlichkeiten (© Wolfgang Lackner); Umschlag des Ausstellungskatalogs.
 

„Es gibt solche und solche Weltreisende“, hat Paul Flora einmal festgestellt. „Viele müssen tatsächlich die Welt umrunden, alles sehen und wenig verstehen, einige aber haben das Glück, sich nicht aus ihren vier Wänden bewegen zu müssen, um in ihrem Kopfe mehr zu erleben als jene zwischen Feuerland und Sibirien.“[i] Dass Flora selbst den Zweitgenannten zuneigte, dafür spricht auch seine langjährige Tätigkeit für das bundesdeutsche Wochenblatt Die Zeit. Von 1957–1971 karikierte er in seinem Atelier am Fuß der Innsbrucker Nordkette allwöchentlich die große Weltpolitik und schickte die Ergebnisse mit der Bahnpost nach Hamburg. „Wir waren etwas besorgt“, gestand der Journalist Theo Sommer rückblickend über den Beginn der erfolgreichen Zusammenarbeit. „Was würde er uns wohl von der Alm schicken, auf der wir Hanseaten ihn in unserer Vorstellung ansiedelten?“ (S. 195).

Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum hat sich 45 Jahre nach Floras Rückzug aus der Zeit nun in einer großen Ausstellung und einem 559-seitigen Begleitband den Karikaturen des großen Tiroler Zeichners gewidmet – ursprünglich rund 3500 an der Zahl, von denen sich 800 Originale in der Klocker-Stiftung, einige im Hannoveranischen Wilhelm Busch-Museum erhalten haben. Ausstellung und Katalogteil des Bandes (340 Seiten) präsentieren nicht nur eine umfassende Auswahl aus diesem reichhaltigen Fundus;[ii] das Ausstellungsteam um Helena Pereña und die 13 AutorInnen des Bandes gehen vor allem einer Reihe von Fragen nach, die sich in Verbindung der Karikaturen mit Floras Leben und Gesamtwerk, aber auch vor dem Hintergrund zeithistorischer sowie literatur- und kunstgeschichtlicher Kontexte ergeben.

 
Wie arbeitet ein „Bildschriftsteller“?

Ausgiebig Platz gewähren die Verantwortlichen dem künstlerischen Entstehungsprozess von Floras Karikaturen, dem das Erdgeschoß der zweistöckigen Ausstellungsräumlichkeiten gewidmet ist. Neben Videosequenzen des zeichnenden Künstlers und originalen Schreibtischutensilien aus seinem Atelier sind auch diverse Inspirationsquellen zu sehen – so etwa Steine, in deren Form Flora mögliche Gesichtszüge nachzeichnete oder eine Auswahl jener verblüffenden Sammlung ausgeschnittener Zeitungsfotos, die er über die Jahre angelegt hat, um sie bei Bedarf als Vorlagen zu nutzen.

Im Begleitband werden weitere Geheimnisse des Meisters gelüftet. Rosanna Dematté stellt etwa dar, wie Flora – angeregt von den Arbeiten Alfred Kubins, Anders Zorns und Saul Steinbergs – seine eigene Zeichnerhandschrift entwickelte – jene schlichten Linien, „die in ihrer Präzision den Anschein der Spontaneität bewahren“ (S. 107) und Floras Werken solcherart „unglaubliche Intensität“ verleihen (S. 122).

Als spezielles Verfahren des Karikierens erläutert vor allem Markus Neuwirth die Methode des Verdrehens und Überinterpretierens von Begriffen. Flora nutzte z. B. „Wort-Bild-Simultanübersetzungen“, wenn er einen Zitronenfalter nicht als Schmetterling, sondern als Zitronen faltendes Männchen zeichnete (S. 159 u. 164). Seine im engeren Sinn politischen Karikaturen leben meist von der Idee der Verdinglichung. So zeichnete er bspw. den ehemaligen französischen Präsidenten Charles De Gaulle als Rettungshubschrauber, um eine situationsbedingte Rolle des Porträtierten überspitzt darzustellen (Pereña, S. 16). Erich Kästners treffende Etikettierung Floras als „Bildschriftsteller“ (S. 184) bestätigte Flora seinerseits durch die Verwendung von Buchstaben und Texten, die er gleichfalls verbildlichte – etwa wenn Worte in seinen Karikaturen optisch zu einem Regenschauer oder unendlich viele Buchstaben zu einer Baumkrone werden (S. 137 u. 397).
 

Der zeichnende Paul Flora (© Horst Munzig) und Steine mit gezeichneten Gesichtern aus Floras Atelier (© TLM)Der zeichnende Paul Flora (© Horst Munzig) und Steine mit gezeichneten Gesichtern aus Floras Atelier (© TLM)

Der zeichnende Paul Flora (© Horst Munzig) und Steine mit gezeichneten Gesichtern aus Floras Atelier (© TLM) 


Muss eine Karikatur satirisch sein?

Floras Karikaturen werden vor allem im Begleitband in ein Ensemble aus verschiedenen Kontexten hineingestellt. Sybille Moser-Ernst verweist hierbei auf die kunstgeschichtlichen Ursprünge des Genres, die auf den englischen Maler und Grafiker William Hogarth (1697–1764) und dessen Weiterentwicklung der italienischen „caricatura“ zurückgehen. Philipp Gassert rekonstruiert das engere Medienumfeld nach 1945 (ergänzend zu den Erinnerungen der Zeit-Mitarbeiter Haug von Kuenheim und Theo Sommer), wobei Gassert vor allem den Wandel der ursprünglich konservativen Zeit zu einem Leitmedium im „internationalen liberalen Mainstream“ hervorhebt (S. 45). Sigurd Paul Scheichl betrachtet Floras Karikaturen schließlich vor dem Hintergrund des literarischen Genres der Satire, und kommt dabei zum Schluß, Flora fehle „das Moment des Aggressiven“ (S. 71) um als Satiriker zu gelten.

In Zeiten, in denen Humor scheinbar ausschließlich aus Hohn und Spott besteht, ist es vielleicht die größte Leistung der Ausstellungsmacher und AutorInnen, mit dem Werk Floras nachdrücklich die feinsinnige, erbauliche und verbindende Seite humoristischen Denkens zur Schau zu stellen. Karl-Markus Gauß erinnert in dieser Hinsicht an das nachsichtige Naturell Floras, dessen Charakterbilder „die Abgründe einer Person nicht aussparten, aber dennoch nicht den ganzen Menschen verurteilten“ (S. 182). Als Karikaturist sah Flora laut Scheichl „das Groteske im öffentlichen Leben – und er zeichnet es. Lachend, nicht vor Wut schäumend“ (S. 85). Für Marion Gräfin Dönhoff, die langjährige, von Flora bewunderte Herausgeberin der Zeit, stand ihr Karikaturist „immer augenzwinkernd und ein wenig amüsiert außerhalb – so ein bißchen wie der liebe Gott“ (S. 14).
 

Die Karikaturen „Frohe Fahrt!“ (DIE ZEIT, 1.1.1965) und „Bonner Tief“ (DIE ZEIT, 6.6.1969), beide © Klocker StiftungDie Karikaturen „Frohe Fahrt!“ (DIE ZEIT, 1.1.1965) und „Bonner Tief“ (DIE ZEIT, 6.6.1969), beide © Klocker Stiftung

Die Karikaturen „Frohe Fahrt!“ (DIE ZEIT, 1.1.1965) und „Bonner Tief“ (DIE ZEIT, 6.6.1969), beide © Klocker Stiftung

 
Institution Paul Flora

Der Begleitband zur Ausstellung greift – und darin liegt vielleicht seine größte Schwäche – in manchen Bereichen doch weit über Floras Karikaturen hinaus. Er liefert nicht nur optisch reichlich Bildmaterial, das den engeren Kreis der Karikaturen sprengt. Auch inhaltlich führt etwa der Exkurs Roland Silas in Floras Privatbibliothek recht weit von den Karikaturen weg. An wieder anderen Stellen taucht der Band tief in Floras Biographie ein – nicht nur in jene Facetten des Karikaturisten.

In diesem breit angelegten Rahmen können die Aufsätze und Essays durchaus mit einer Fülle an Sachkenntnissen aufwarten. So legen sie etwa offen, dass Flora früh in den Kreis herausragender Geistesgrößen und internationaler Leitmedien eintrat (einige Karikaturen erschienen u. a. im Time Magazine) und er sein Schicksal insgesamt als „Glück“ empfand, das „für elf Menschen gereicht [hätte]“ (Hotschnig, S. 187). Auch würdigen die Beiträger Paul Flora wiederholt und ganz zu Recht als mit bedeutendsten Arrangeur im Tiroler Kunstgeschehen, der sich hierzulande immer wieder als Förderer einbrachte und auch in der Zeit noch Jahre nach seinem Ausscheiden „auf eine kaum wahrnehmbare Art Einfluss [nahm]“ (S. 199). Derart breitgefächert verliert das Buch in seiner Gesamtheit aber genau das, was Floras Zeichnungen und Karikaturen ausmacht – die klare Linie.

Dass die ebenso voluminöse wie angemessene Würdigung Floras darüber hinaus unter dem Etikett des Karikaturisten geschieht, dürfte den Künstler selbst nicht uneingeschränkt gefreut haben. Immerhin hatte er – wie Helena Pereña ausführlich darlegt – 1980 sogar die Verbrennung seiner Karikaturen inszeniert, um nicht als Karikaturist, sondern als Zeichner wahrgenommen zu werden, als der er sich in erster Linie verstanden wissen wollte (S. 5–8).

Indes bleibt die Leistung des Kuratorenteams und der AutorInnen beachtlich. Die Ausstellung gibt einen reichhaltigen Einblick in Floras Arbeitsprozess und zeigt den internationalen Rahmen, in dem seine Karikaturen wirkten. Die architektonische Gestaltung der Ausstellungsräumlichkeiten spricht gekonnt mehrere Sinne des Betrachters an und greift z. B. mit der Verwendung von schlichten schwarzen Stühlen stilsicher Elemente aus Floras Werk auf. Die Beiträge im Begleitband eröffnen einer intensiveren Nachbetrachtung zahlreiche Möglichkeiten, die in ein breites Feld zwischen Kunstgeschichte und Linguistik führen. Es bleibt zu hoffen, dass dem „Zeichner“ Paul Flora alsbald eine ähnliche Ausstellung gewidmet wird.
  

Paul Flora im Atelier (links) und 1966 inmitten der Karikaturisten Manfred Schmidt, Loriot, Reiner Zimnik, Ernst Hürlimann und E. M. Lang (beide © TLM)Paul Flora im Atelier (links) und 1966 inmitten der Karikaturisten Manfred Schmidt, Loriot, Reiner Zimnik, Ernst Hürlimann und E. M. Lang (beide © TLM)

Paul Flora im Atelier (links) und 1966 inmitten der Karikaturisten Manfred Schmidt, Loriot, Reiner Zimnik, Ernst Hürlimann und E. M. Lang (beide © TLM)

   

Ausstellung: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum vom 30. September 2016 – 26. März 2017, Dienstags bis Sonntags von 9 – 17 Uhr, Eintrittspreis 11 € (ermäßigt 8 €), Sonderführungen und mehrere Rahmenveranstaltungen.

Katalog: Wolfgang Meighörner (Hg.): Paul Flora. Karikaturen. Tiroler Landesmuseen/Haymon-Verlag, Innsbruck-Wien 2016. Mit Textbeiträgen von Rosanna Dematté, Philipp Gassert, Karl-Markus Gauß, Alois Hotschnig, Michael Klein, Haug von Kuenheim, Wolfgang Meighörner, Günther Moschig, Sybille Moser-Ernst, Markus Neuwirth, Helena Pereña, Sigurd Paul Scheichl, Roland Sila und Theo Sommer.
  
 

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[i] Paul Flora: Ein Abenteurer im Schlafrock. Der Maler Paul von Rittinger und sein Sindbadspiel, in: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift, Heft 53 1992, 26. Jg., S. 5127–5133, hier 5127.
[ii] Flora selbst veröffentlichte bereits in den frühen 1960er-Jahren zwei Bände ausgewählter Zeit-Karikaturen im Zürcher Diogenes-Verlag unter dem Titel „Ach du liebe Zeit!“. Vgl. Marion Aichberger (Hg.): Werkverzeichnis. Bücher – Kataloge – Mappen – Briefmarken von Paul Flora, Edition Hörtenberg, Telfs 2012, S. 14 u. 18.

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Irene Prugger erhält den Otto-Grünmandl-Literaturpreis 2016

Laudatio von Erika Wimmer


Irene Prugger (l.) nimmt die Glückwünsche von Frau Landesrätin Beate Palfrader entgegen.Die Literaturszene ist nirgendwo frei von Neid und Konkurrenzdenken, auch in Tirol – wie sollte es anders sein? – ist man manchmal mit einem unfeinen Gegeneinander, mit Unfreundlichkeit oder gar Ausgrenzung, jedenfalls aber mit Haltungen wie „auf keinen Fall tu ich was für andere“ oder „hoffentlich steche ich die Konkurrenz möglichst rasch aus“ konfrontiert. Da ist es überaus wohltuend einer Kollegin zu begegnen, für die das Wörtchen Solidarität kein Fremdwort ist. Irene Prugger lässt anderen auch mal den Vortritt, wenn es um die Teilnahme an einer Veranstaltung geht; und sie gibt gute Informationen wie Lese- und Publikationsmöglichkeiten an KollegInnen weiter, statt sie geizig für sich selbst zu behalten. Als Kollegin ist sie unprätentiös und als Mensch überaus liebenswürdig, Eigenschaften, die man nicht hoch genug schätzen kann und für mich gute Gründe sind, diese Laudatio mit Freuden zu halten. Der weitere Grund ist die Wertschätzung für die langjährige und besonders vielfältige Arbeit der Autorin Prugger – sie ist als Prosa-Schriftstellerin, als Dramatikerin bzw. Hörspielautorin hervorgetreten, sie schreibt Sachbücher und ist Journalistin. Punktuell war sie auch Literaturvermittlerin – nämlich in ihrer Funktion als (Mit-)Herausgeberin der Literaturzeitschrift INN, die von 1984 bis 1996 in Innsbruck erschienen ist. Die Zeitschrift hat vielen Autorinnen und Autoren ein Forum für neue Texte geboten, und das ist etwas, was uns in diesem Land, spätestens seit auch das fenster nicht mehr erscheint, schmerzlich fehlt.

Unter den Grünmandl-Preisträgern und Preisträgerinnen ist Irene Prugger (Jahrgang 1959) die bisher jüngste. Doch so jugendlich sie auch sein mag, sie ist eine erfahrene Autorin, die schon sehr lange als „Freie“ im Literaturbetrieb tätig ist, seit etwa Mitte der 1980er Jahre ganz regelmäßig. Die Beharrlichkeit, mit der sie ihre literarischen, dokumentarischen und journalistischen Projekte vorantreibt und die nötigen Partner dafür an Land zieht, sodass sie von ihrer Arbeit auch leben kann, ist bewundernswert, denn ein Leichtes ist es sicher nicht, ohne Anstellungsverhältnis durchzukommen. Irene Prugger schreibt regelmäßig Reportagen, sie interviewt prominente Persönlichkeiten (von Luis Durnwalder bis hin zu Giorgio Moroder) und verfasst Kolumnen und Rezensionen für die Kulturbeilage der Wiener Zeitung. Von 1994 bis1996 hat sie Glossen für den ORF, Landesstudio Tirol, geliefert. Auch hat sie immer wieder für die Zeitschrift Saison der Tirol Werbung gearbeitet.

In das Schreiben auf den verschiedensten Ebenen investiert die Autorin eine Menge Energie, sie lässt sich neben ihrer im engeren Sinn literarischen Arbeit auf unterschiedlichste Themen ein und gibt sich dabei oft auch sehr bodenständig. Man denke an ihre 3 Bände Almgeschichten (betreffend Nord- und Südtirol sowie Vorarlberg) und an die Reportage über die Bergrettung im Einsatz mit dem Titel Nerven wie Seile. Alles in allem erntet Irene ganz zu Recht immer wieder auch die Früchte für ihre Bemühungen – der Otto Grünmandl-Preis, den sie heute erhält, ist keineswegs ihre erste Auszeichnung. Sie hat eine Reihe von Stipendien erhalten und sie ist bei literarischen Festivals in Wien (Rund um die Burg), in der Schweiz (Schreiben im Alpenraum) und beim hiesigen Literaturfestival Sprachsalz in Erscheinung getreten.

Was einen freut ist, dass sie wie Otto Grünmandl Hallerin ist (jedenfalls ist sie in Hall geboren, sie wohnt aber nebenan, nämlich in Mils). Das wäre jetzt nicht mehr als eine Äußerlichkeit, aber es gibt auch eine innere Verbindung zum Namensgeber des Preises, und das ist der Humor. Irene Pruggers Texte enthalten fast immer jenes Augenzwinkern, das der Literatur so gut tut, auch ein Schuss Ironie und ein Hauch Satire eignen ihren Texten nicht selten. Der Humor ist generell ein Wesenszug der Autorin Prugger, mit der man auch privat, das sage ich aus Erfahrung, sehr heitere Stunden verbringen kann.

Humor ist nicht zuletzt die Fähigkeit, die Dinge aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Wer Humor hat, belächelt die Dinge nicht, er durchschaut sie, und weil er sie durchschaut, weil er die Vielschichtigkeit und auch die Doppelbödigkeit der Dinge sieht, rückt er – oder sagen wir besser: rückt sie, die Autorin, der Wahrheit näher als so manch anderer. Humor hat nicht zuletzt eine subversive Qualität. „Der Schalk sitzt ihren Geschichten im Nacken – und fährt einem des öfteren doch als Schrecken in die Glieder“, hat Bernhard Sandbichler in einer Rezension über Irene Pruggers Erzählband von 2013 Nackte Helden und andere Geschichten von Frauen geschrieben. Dem kann ich nur zustimmen: Es ist bekanntlich eben gerade der Humor, der die Abgründe zutage fördert, die sich hinter den Phrasen und  Attitüden verbergen. Irene Pruggers Geschichten verfolgen nicht nur, aber auch: das Ziel, hinter die Fassaden der Menschen zu schauen. Und übrigens: Die enthüllende Kraft des Humors stellt wohl kein anderes Werk eindrücklicher unter Beweis als jenes von Otto Grünmandl.

 

Martin Sailer vom ORF-Studio Tirol hat im Lauf der Jahre 6 Hörspiele von Irene Prugger für den Rundfunk produziert, der Haymon-Verlag verlegt ihre Prosa (früher war es der dem Haymon-Verlag ‚benachbarte‘ Skarabäus-Verlag). Ich denke, beide Institutionen schätzen ihr solides Arbeiten, ihr handwerkliches Geschick, das nicht zuletzt darin liegt, einen Text retardierend zu komponieren. Irene Pruggers Geschichten nähern sich auf leisen Sohlen, sie zeigen zunächst nur eine von mehreren Seiten, decken das Weitere, oft lang verborgen Gebliebene und nach oben Drängende ganz plötzlich und überraschend auf. Ob in Letzte Ausfahrt vor der Grenze, ob in Schuhe für Ruth oder Frauen im Schlafrock – es sind fast immer Alltagsgeschichten, die die Autorin erzählt, meist Geschichten aus dem allzu normalen Leben von Frauen, in denen sich aber – Achtung – das Gewöhnliche oder Banale unversehens in ein Unerhörtes verkehren kann. Im Alltäglichen ist das ganz Besondere zumindest potentiell immer enthalten, man sollte sich demnach nie allzu bequem zurücklehnen, nie allzu sehr darauf verlassen, dass alles so bleibt wie es ist – das scheint die Autorin ihren LeserInnen, die es ja angeht, zuflüstern zu wollen. Mit psychologischem Gespür für menschliche Schwächen zeigt Irene Prugger in ihren Geschichten, seien es nun Hörspiele oder Romane oder Kurzprosatexte, dass jeder an einer bestimmten Schwelle seines Lebens – vorbereitet oder unvorbereitet – in eine existentielle Tiefenschicht tauchen kann, vielleicht muss. Doch was in meinen Wort womöglich etwas schwer klingt, kommt bei Irene Prugger ganz leichtfüßig daher, mit viel Witz und Aberwitz, mit der feinen psychologischen Klinge und nie mit dem erhobenen Zeigefinger.

Dass Irene Pruggers psychologisches Gespür auch ihre Interviews mit bekannten Persönlichkeiten geleitet hat und leitet, liegt auf der Hand.
2011 interviewte sie den Superstar der deutschen Reiseliteratur, Andreas Altmann. Altmann gibt sich im Leben wie in seinen Texten so gar nicht bürgerlich, er hat seine katastrophale Kindheit literarisch offengelegt, liebt es zu provozieren und hält, wie er in jenem Interview sagte, „sexuelle Treue für einen Witz“. Eigenen Angaben zufolge feiert dieser Autor, wo er nur kann und ohne Rücksichten zu nehmen, das „beschissen schöne Leben“.
Und dann Irenes letzte Frage: Haben Sie trotzdem manchmal Sehnsucht nach einem gemütlichen, vielleicht sogar bürgerlichen Nest der Geborgenheit?
Es war dies eine fürs erste vielleicht überraschende, im Weiteren aber eine für Irene Prugger sehr typische Frage.
Altmann wies zwar weit von sich, derartige Sehnsüchte auch nur zu kennen. Als Leser und Leserin aber hatte man (ganz subtil) einen anderen Eindruck, zumindest ist es mir so ergangen: Man hatte mit einem Mal das Gefühl, einen kurzen Moment hinter die Attitüde des Machos, des weltläufigen und scheinbar völlig unabhängigen Haudegens zu blicken.
  

Für solche und andere berührende Momente deines Schreibens, liebe Irene, möchte ich dir danken. Und ich gratuliere dir herzlich zum Otto Grünmandl-Preis 2016! 

  Lexikon Literatur in Tirol 

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