Rezension 2009
Martha Lanz, Frühere Wasser. Ein Aufwachsen in Absätzen
Edition Raetia 2008
In Frühe Wasser beschwört Martha Lanz in knapper, lyrisch dichter Prosa frühe Kindheitsbilder. Erinnert wird, klar und unsentimental, die Kindheit auf einem Bergbauernhof in den frühen 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Ort der Handlung ist das karge Grenzland des eine Generation zuvor in Nord, Süd und Ost geteilten Tirol. Dass uns der Text Besonderes zu sagen hat, liegt wesentlich an der Gabe der Autorin einen kindlichen Blick zu wahren, ohne jedoch die Erzählerfigur konkret werden zu lassen. So wird es möglich den Hintergrund an Härte und Brutalität dieses Daseins in wenigen Zeilen als Prospekt zu entwerfen, ohne das Eigentümliche der Botschaft eines kleinen Menschen zu zerstören.
„Und die Erde war nicht einfach da und war Erde. Die Erde war zu führen wie das Leben. Sie war nicht und blieb nicht, wo sie sein sollte. An der Seilwinde sitzen und schalten. In den Ohren winselt es ein und aus. Von unten nach oben war sie zu karren, die Erde. Einer rennt auf und ab mit der Grutte, so führt man die Erde. Und der Aprilwind reißt die paar Haare in Strähnen, daß sie es nie mehr vergessen. Sie bleibt aber nicht oben, die Erde. Unten ist sie wieder im nächsten April.“
Gegenstände initiieren den Prozess der Erinnerung, die Holzkiste in der Küche, gut gefüllt, leer erst, wenn ein Toter hinausgetragen wird, der Blechkranz für Begräbnisse, wieder verwendbar im Fall, selten genug genossene Aranciata in gerippten Flaschen, als „Lullaflaschen“ aufgehoben, der „Tundarodla-Roller“, ein Himmelsglück. Erzählt wird von Menschen, die kommen und gehen, vom Abnehmen und Zunehmen der Sonne wie der harten Arbeit, die im Sommer zu „kälbern“ beginnt, von der Präsenz des Todes. Und wichtig ist das Land an sich, das Vaterland (der Hof Eggemanner bei Toblach) mit seinen Wegverläufen, Fluchten, Verstecken, aber auch das Mutterland (in Osttirol) und das „Muineland“ Welschellen (ein ladinisches Bergdorf im Gadertal) als projektierte Ferne. Als Brüche ziehen sich diese Grenzen durch das Erinnerte, und ein Bruch liegt nicht nur zwischen dem Hier und Anderswo und denen „von hier“ und „von irgendwoher“, sondern auch im Gefälle zwischen Berg und Dorf, den „Bergern“ und den „Dorfern“, die es immer ein bisschen leichter haben. Und so geht es auch um die Frage von Bleiben oder Gehen, und erzählt wird vom Ziehen von der einen Kammer in die andere derer, die nicht der Bauer wurden, aber auch nicht weggingen. Nachvollziehbar wird, dass das Beste unter allem Spielzeug all jenes war, was fuhr, mobil machte. Und weil hier nicht nur von kleinbäuerlicher Welt, sondern auch vom Kindsein und Großwerden erzählt wird, liegt der tiefste Bruch wohl im Auseinandertriften der Welt im Moment des Erwach(s)ens, in dem Moment, wo die eigene Welt als brüchig erlebt wird, weil etwa plötzlich zwischen dem, was in der Schul-Fibel steht, und der erfahrenen Wirklichkeit eine Diskrepanz entsteht. Genau an diesem Punkt aber setzt das Schreiben an. Dort wo die Dinge nicht mehr als ganz erfahren werden, auseinanderzuklaffen beginnen, werden sie benannt, wird flüchtig Gewordenes festgemacht und verwoben zu einer Erinnerungstextur, die trägt.
Martha Lanz’ Text hat, wie Siegfried de Rachewiltz in seinem Nachwort schon anklingen lässt, wirklich etwas von einer Textur. Zyklisch, wie die Welt, von der sie erzählt, kreisen die Bilder im Text, Assoziationen werden aneinander geknüpft, ein liegen gelassener Faden wird wieder aufgenommen und weiter gewoben, nichts geht verloren, alles kehrt wieder. Dies lässt einen ganz eigenen Rhythmus entstehen, der an Liturgie und Litaneien ebenso denken lässt wie an den jährlich sich wiederholenden Rhythmus der Arbeit, aber auch an das Spiel eines Kindes, das von einem kommt ins andere. Wie überhaupt der Text sehr von der Sprache lebt, dem gezielten Rückgriff auf verschwindende Wörter, eine verschwindende Melodie, durch die sich Dinge benennen lassen, die sich anders nicht mehr sagen ließen. Es liegt Zärtlichkeit im Gebrauch der verlustig gegangenen Wörter und wohl kaum etwas mag die erinnerte Kindheit so stark heraufbeschwören, wie die Erinnerung an den Klang, die Melodie, in der man angesprochen, mit der die Dinge bezeichnet wurden.
Ergänzt wird der Text der Autorin durch Photographien von Martin Pardatscher. Allesamt zeigen sie bäuerliche Artefakte, die im landwirtschaftlichen Museum Brunnenburg gesammelt werden. Die ästhetischen Schwarz-Weiß-Photographien zeigen die Objekte meist nur fragmentarisch, getaucht in Schatten und Licht, in ihrem ursprünglichen Zustand belassen. Doch was dem Text mit knappen Worten gelingt, vermag die Photographie nicht. Die abgebildeten Gegenstände bleiben seltsam stumm, abweisend gegen den Betrachter hin, trotz aller Gebrauchsspuren teilen sie sich nicht mit.
Iris Kathan