Wikipedia kennt sie nicht. Harald Martenstein gruselte sich 2009 öffentlich vor ihr. Ein paar Blog-Einträge listen sie auf, das Urban Dictionary führt zumindest den englischen Begriff, und mit den meisten Fingern zeigt Google auf ein grellgrünes Büchlein: „Twitteratur. Weltliteratur in 140 Zeichen“ brachte das Wort schon einmal ins gehobene Literaturgespräch, leider ziemlich irreführend.
Im Jahr 2009, drei Jahre nach dem Launch des Kurznachrichtendienstes, veröffentlichten die amerikanischen Studenten Alexander Aciman und Emmett Rensin Kurzversionen von Werken der Weltliteratur. Die deutsche Ausgabe erschien 2011.
Ein problematisches Unterfangen: Im Vorwort schrieben sie, die großen Werke der Literatur seien „in ihrer überlieferten Form veraltet“, und riskierten dann einen nicht nur hinkenden, sondern über den staubigen Boden der Reformationsgeschichte kreuchenden Selbstvergleich mit Martin Luther.
Kein Witz, sondern ein eigenes Genre?
Hinzu kam ein merkwürdiges Literaturverständnis: „Dabei muss man sich vor Augen halten, dass der Literaturkanon nicht etwa wegen seiner zigtausend öden, öden Wörter so hoch im Ansehen der Menschheit steht, sondern wegen der schieren Einsicht in das Wesen der Menschheit, die er bietet.“ Pathetisch zogen die Autoren dann in einem performativen Akt den Samtvorhang von der Bühne der Weltliteratur: „Hier kommt die … Twitteratur.“
In dem Büchlein gab es von @NarbenHarry Tweets wie „OMFG SCHON WIEDER VOLDEMORT“ oder von Werther als @FlotteLotte: „Sagte ich schon, wie erschüttert ich bin? Ich bin sehr erschüttert. #Schmerz #Angst #Leid #Sexdep“.
Man kann Twitteratur auf diese Weise als reinen Witz verstehen. Als lustiges Abstract von Literatur. Will man Twitteratur aber als eigenes Genre definieren, muss der Begriff diesem ersten Projekt unter diesem Titel wieder aberkannt werden. Denn es gibt Twitteratur. Nur das meiste, was so genannt wird, gehört nicht dazu.
Es ist nicht nur die Kürze, die Kommunikation auf Twitter ausmacht. Nicht alles, was mehr oder weniger klug, ästhetisch und sinnvoll in höchstens 140 Zeichen geschrieben wird, ist Twitteratur. Vielmehr zeichnet sich das Medium durch das Netz aus, das dahinter steht. Kategorien wie „Autoren“ und „Leser“, „Sender“ und „Empfänger“ verflüssigen sich im Digitalen; das Netz kennt nur User.
Das ABC für Twitterer – und alle, die es werden wollen
Was die Twitteratur ausmacht, sind die #Hashtags, @Adressen und RTRetweets – jene Zeichen, welche die Autoren mit den gedruckten Tweets in „Twitteratur“ bloß äußerlich imitieren. Doch ohne das Netz dahinter werden sie zu Verweisen ohne Referenz.
Neue Medien bringen neue Literaturen mit sich, da kann man die Twitter-Poetik der Hochkultur-Nerds problemlos an das Hauptwerk der studentisch-melancholischen Innerlichkeit anknüpfen, an Goethes „Werther“ als ersten Briefroman. „Was machst Du gerade?“ ist die Leitfrage, mit der Twitter 2006 an den Start ging, und die Bürde mancher Zehntklässler ist, dass Werther in seinen Briefen mehr als 140 Zeichen Platz für deren Beantwortung hatte. Kürze erfordert Schliff, das wussten schon Epigramme, Aphorismen oder Haikus.
Der epigrammatische Pointenhammer kommt auch bei Florian Meimberg oft zum Schluss. Seine Tweets skizzieren einen Konflikt, um den Rest müssen sich der Leser und seine Fantasie selbst bemühen: „Schweigend blickte Tibor auf das Polaroid in seiner Hand. Unendlich langsam materialisierte sich das Bild. Das wertvollste Foto der Welt.“
Im Sommer 2010 bekam Meimberg für seine „Tiny Tales“ einen Grimme Online Award, im Herbst 2011 machte der Fischer Verlag ein Buch daraus („Auf die Länge kommt es an.“) und Anfang 2012 setzte Meimberg den bislang letzten Tweet unter @tiny_tales ab.
Social Reading heißt das neue Zauberwort
„Twitteratur ist immer eine Form des Social Readings. Das solitäre Leseerlebnis, das das Lesen von ‚Totholzliteratur‘ noch auszeichnet, ist über Plattformen wie Twitter gar nicht mehr möglich“, schreiben Jan Drees und Sandra Annika Meyer in „Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen“, einem der ersten Versuche einer Theorie der Twitteratur (Frohmann, Kindle Edition. 70 S., 2,99 €).
Das Phänomen definieren sie als „plattformgebundene digitale Kürzestliteratur im Netz“. Diese Definition zeigt, warum das Büchlein von Aciman und Rensin eben keine Twitteratur ist: Es bringt Weltliteratur lediglich in eine neue Form, es ist eine Ansammlung von Rewritings bekannter Werke und setzt deren Bekanntheit für seine Wirkung voraus.
Ähnlich verhält es sich mit den meisten Mikromärchen, die im September für einen Wettbewerb des Wunderland-Festivals eingesandt wurden: Unter dem Hashtag #TF140 sollte „Tiny Fables“ eingesandt werden, Versionen grimmscher Märchen in höchstens 140 Zeichen. Die User lieferten klassische Rewritings im Twitter-Stil, grafische Umsetzungen oder Aktualisierungen.
Literatur kann jetzt jederzeit aktualisiert werden
Was so dem Material der Brüder Grimm passierte, ist für den Journalisten und Digital-Theoretiker Dirk von Gehlen das Wesen von Kultur im Digitalzeitalter: Kulturelle Produkte wie Filme, Songs oder Texte unterliegen einem Prozess der Verflüssigung, so von Gehlen, weil sie unabhängig vom Datenträger wird, stetig veränderbar, und ihr Entstehungsprozess nachvollziehbar ist – ganz wie ein Eintrag in der Wikipedia.
In „Eine neue Version ist verfügbar. Wie Digitalisierung Kunst und Kultur verändert“ (Metrolit, Berlin. 144 S., 12,99 €) beschreibt von Gehlen Text als „Software“ im ständigen Beta-Stadium – niemals fertig, immer Gemeinschaftsprodukt.
Für die Twitteratur bedeutet das, dass es sie nicht unabhängig von Twitter als Plattform gibt, man sie nicht ohne Twitter lesen kann. Abgesehen davon, weisen Tweet-Bücher ein symptomatisches Problem von Netz-Phänomenen auf, die auf Buchseiten festgesetzt werden: Es ist anstrengend, nervig und wird schnell langweilig, die Tweets auf Papier hintereinanderweg zu lesen.
Tweets brauchen kein Papier
So wie die Meimberg-Texte, die für das Buch ausgewählt und arrangiert wurden. „Die Plattform schafft Literatur in einer durch und durch entkontextualisierten Form“, schreiben Drees und Meyer irrigerweise. Sie meinen damit den fehlenden Rahmen eines Buchanfangs und -endes. Dabei ist der Kontext gerade auf Twitter Nährboden und Existenzvoraussetzung: Nur dass dieser Kontext nicht linear und eindeutig ist, sondern unendlich vernetzt. Die Plattform selbst ist der Kontext, in dem diese Art der Literatur entsteht und funktioniert – und nur in diesem.
Diese Schlussfolgerung umgehen Drees und Meyer, indem sie zwischen Online- und Offline-Twitteratur unterscheiden: Letztere entstehe, da die „Anschlussfähigkeit“ in der digitalen Form nicht auf Papier übertragen werden könne.
Hier jedoch widersprechen die Autoren ihrer eigenen Eingangsdefinition. Sinnvoller ist es, diese konsequent anzuwenden: Wenn Twitteratur „plattformgebundene, digitale Kürzestliteratur im Netz“ ist, ist also alles, was nicht auf der Plattform, nicht digital und nicht (mehr) im Netz ist, keine Twitteratur. Es gibt keine Offline-Twitteratur. Keine Twitteratur in Büchern. Nicht mal in E-Books.
Kann man Twitteratur lernen?
Verlegerin Christiane Frohmann weiß um die Begrenztheit der digitalen oder analogen Buchwerdung von Tweets. Die Berlinerin hat sich auf das Verlegen von „Neuen Literaturen“ und deren wissenschaftlicher Reflexion spezialisiert. Sie hebt Tweets aus dem Netz in E-Books und macht Twitterer zu Buchautoren. Ihre Motivation ist aufklärerisch-pädagogisch: „Ich kenne so viele Menschen, die sich für Literatur interessieren, aber nichts mit Twitter anfangen können.“
In ihrer Verlegertätigkeit habe sie regelrecht einen missionarischen Eifer entwickelt, sagt Frohmann: „Ich will diese Texte Menschen zugänglich machen und ihnen klarmachen, dass das große Literatur ist.“
Ein bisschen wie angeleitetes YouTube-Gucken im Altersheim klingt das und geht der Tendenz entgegen, die dem Digitalen sonst immer zugeschrieben wird: Inhalte den Massen zugänglich zu machen, weil Schranken wie Materialität und Verfügbarkeit, häufig auch Kosten wegfallen. Das Digitale sei immer überall und im besten Fall umsonst.
Für die dezidierten Nicht-User, denen es an Gerätschaft oder Bereitschaft zur Teilnahme an der neuen Digitalkultur mangelt, wählt Christiane Frohmann aus. „Für die E-Books suche ich nur die Tweets heraus, die isoliert funktionieren.“ Tweet-Bücher kann man das nennen, der Funktionen des Mediums Twitter beraubt.
Die drei Typen von Twitter-Literaten
Wer aber twittert ästhetisch und literarisch genug, um überhaupt unter Twitteratur-Verdacht zu geraten?
„Es gibt drei Arten von Twitteraten“, sagt Christiane Frohmann. „Es gibt die klassischen Autoren, die Twitter als Medium für sich entdeckt haben. Zweitens die Werbetexter-Typen, die auf Twitter ihre poetische Ader ausleben.“ Der dritte Twitteraten-Typus laut Frohmann: „Früher wären das junge Mädchen gewesen, die Gedichte schreiben, und sie in die Schublade legen: verhinderte Autoren, die erst durch die positive Rückmeldung in der Twitter-Community merken, dass sie etwas können.“
Vielleicht ist Anousch Müller für Christiane Frohmann so ein Fall. Im vergangenen Jahr erschienen die Tweets von @anousch als E-Book mit dem Titel „Bescheiden, aber auch ein bisschen göttlich. Beflügelte Worte.“ Das weckte das Interesse etablierter Verlage: Im Sommer erschien „Brandstatt“, der erste Roman der Autorin, bei C.H. Beck und wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet.
„Ich war nie in dem Alter, aus dem ich jetzt raus bin“, ist einer der ausgewählten Buch-Tweets. Die Themen von @anousch sind ihr Alltag als junge Mutter, die Beziehung zu einem Nerd, philosophisch-lyrische Randnotizen.
Sind die Professoren jetzt überfordert?
Ähnlich twittert @Wondergirl, eine der jüngeren Entdeckungen bei Frohmann: „Erst wenn der letzte Twitterer ein Buch veröffentlicht hat, werdet ihr feststellen, dass alles doch nur deutsche Gegenwartsliteratur ist.“ Die Selbstreflexion des Mediums gehört zur Twitteratur wie zu moderner Kunst.
Für Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste Berlin, ist eine ältere Dame die Königin dieser Selbstreflexion: Renate Bergmann. Porombka hält den herkömmlichen Literaturbegriff selbst für das Problem – weil er blind mache für die neuen Entwicklungen.
Für ihn ist Literatur im Netz Performancekunst – und das Twitter-Profil @RenateBergmann eines der besten Beispiele für neue Literatur im Netz. Die Tweets aus dem Alltagsleben einer Rentnerin sind für Porombka „immersive storytelling“, eine Art der Erzählung, die unmittelbar wirkt, indem sie Realität vorgaukelt. „Renate Bergmann erzählt mir keine Story – ich lebe mit ihr.“
Der Reiz des ganz Banalen
@RenateBergmann kommentiert Zeitgeschehen und Alltägliches, postet Bilder, antwortet auf Anfragen und pflegt eine besondere Twitter-Freundschaft mit @KuttnerSarah. „Ich habe Frau Bach beim Fleischer getroffen. Noch nicht mal neun und sie hat eine Melissengeistfahne. So was riech ich sofort“, schreibt @RenateBergmann, und mehr als 14.000 Twitter-User folgen ihr.
„Was mir dort erzählt wird, sind Banalitäten und Absurditäten“, sagt Stephan Porombka. „Aber in seiner Banalität ist das die höchste Form, das Medium Twitter zu reflektieren.“ Auf Facebook wird Renate Bergmann als „fiktiver Charakter“ eingeordnet, aber in der Welt der Twitteraten ist das keine Kategorie. „Es ist egal, wer es schreibt“, sagt Christiane Frohmann. „Es geht um die Ästhetisierungsleistung. Plausibilität ist die Wahrheitsform im Netz. Es geht um Wahrhaftigkeit statt Wahrheit.“
Wahrheit war auch in der Welt gedruckter Bücher keine Maxime für gute Literatur. Und so wie der Text als Software unabhängig vom Trägermedium existiert, so wird die Literatur auch Twitter überleben. Text vergeht, ob analog oder digital. Was zählt, ist nur Bedeutung, die es einmal gab.