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Literatur Jana Hensel: „Keinland“

Die Liebe nach den Zeiten des Holocaust

| Lesedauer: 6 Minuten
Falsches Land, neues Land, heiliges Land: Gordon Beach in Tel Aviv Falsches Land, neues Land, heiliges Land: Gordon Beach in Tel Aviv
Falsches Land, neues Land, heiliges Land: Gordon Beach in Tel Aviv
Quelle: Getty Images/Moment RF/Alexander Spatari
Wenn die Vergangenheit nicht vergehen will: Jana Hensels Roman „Keinland“ erzählt von der Unmöglichkeit einer deutsch-israelischen Liebe zwischen dunkler Geschichtsschwere und hellen Sehnsüchten.

Das Ich ist ein Glashaus, von dem aus man dumpf und verzaubert in die Welt starrt“, schrieb der surrealistische Schriftsteller André Breton in seinem autobiografischen Kurzroman „Nadja“. Von der Welt trenne sie eine Scheibe aus feinem, kaum sichtbarem Glas, schreibt Jana Hensel über die Protagonistin Nadja in ihrem Roman „Keinland“.

Breton und Hensel beschreiben Entfremdungsgefühle, die Stimmung, wenn Normalität und Alltag außerhalb des Selbst liegen und sich alles so anfühlt, als sitze man krank und pleite auf einer Parkbank und um einen herum werden Sonne, Lachen und promenierende Menschen zum seltsam unpassenden Spektakel.

Bierschinkenhaftes Deutschland

Bei Breton ging es um unter der Oberfläche der Psyche versteckte Triebe, bei Hensel um eine Entfremdung vom bierschinkenhaften, bräsigen Deutschland, das irgendwie immer noch unter dem Eindruck des unbewältigbaren Holocaust steht und um Israelis, die der Horror packt, wenn sie die deutsche Sprache hören.

Breton trifft auf einem Spaziergang die jüngere Nadja: Er verliebt sich, zusammen streunen sie fast täglich durch Paris, Nadja erzählt, halluziniert manchmal, scheint Dinge zu sehen, die er nur aus Träumen kennt. Breton ist begeistert, Nadja wird zur Muse für die gesamte surrealistische Philosophie.

Manchmal verlieren sie sich aus den Augen, Nadja scheint an Breton mehr zu hängen als er an ihr; erst ist er fasziniert von der hemmungslosen Art, mit der sie Gedanken äußert, dann befremdet und etwas abgestoßen, schließlich interessiert er sich immer weniger für sie. Als Breton erfährt, dass Nadja in eine Nervenklinik eingewiesen wurde, erschüttert ihn das zwar, er schreibt ein paar larmoyante Seiten, letztendlich aber lässt er sie fallen.

Jana Hensel, Jahrgang 1976, stammt aus Borna bei Leipzig
Ihre "Zonenkinder" wurden in den Nullerjahren zum Bestseller: Jana Hensel, Jahrgang 1976, stammt aus Leipzig.
Quelle: picture-alliance/dpa/Horst Galuschka

Vergleichbar sind die Verhältnisse in „Keinland“: Nadja ist so etwas wie die zeitgenössische Version von Bretons Muse. Sie, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, verliebt sich in Martin, einen nach Israel ausgewanderten und in Frankfurt a. M. geborenen Deutschjuden, den sie in Berlin am Telefon und in Tel Aviv dann tatsächlich kennenlernt. Martin betet sie erst an, dann wird er kühler zu ihr, zurückgezogener, und die Dinge, die er sagt, gehen ihr übertrieben nah.

Es gibt nur wenige Treffen, in der Wohnung in Berlin, am Strand in Israel, wahrscheinlich, so suggeriert der Text, weil der Holocaust über beiden Protagonisten drückend hängt als eine Vergangenheit, die nur indirekt mit den eigenen Lebensläufen zu tun hat. „Martin, hattest du damals Angst vor meinen Leuten?“, fragt Nadja Martin und meint die Wendejahre. „Ich frage mich, ob du gegangen bist, weil wir gekommen sind?“ Martin reagiert barsch und ausweichend: „Das ist Unsinn, Nadja. Erzähl nicht immer solchen Unsinn. Ich habe dir schon oft gesagt, ich will das nicht mehr hören.“

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Schnell wird deutlich: Nadja liebt Martin mehr als er sie oder hat zumindest – das ist einer der vielen Momente des Ungefähren, Schwebenden in diesem Roman – leuchtendere, schönere Illusionen, was die Zukunft ihrer Beziehung angeht; Martin ruft kaum an.

Das letzte Treffen ist demütigend: Martin ist nach einem Jahr dienstlich in Berlin, Nadja macht israelisches Abendessen, trägt ein schönes Kleid, die richtigen Schuhe. Martin kommt nicht wie angekündigt mit Champagner, sondern mit Bier, auf das sie männlich und mit einem unangenehm lauten Klong anstoßen, er isst kaum, redet nur von sich, sie beschließt, ihm nichts von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, er geht.

Von Wünschen und Wirklichkeit

„Ich schenke dir meine Augen, meine Haare gehören dir, wenn du willst. Ich schenke dir alles, ich weiß ohnehin nicht viel damit anzufangen“, schreibt Nadja lachend an Martin, der nicht antwortet, und man denkt an eine Frau, die mit einem Blumenstrauß am Bahnsteig auf einen besonderen Mann wartet.

Sie hat sich fein gemacht, riecht gut, der Zug kommt erst verspätet, dann doch. Als der Mann aussteigt, beginnt sie zu lächeln und hält ihm beklommen fröhlich den großen Strauß Blumen hin. Doch der Mann schaut sie nur beiläufig an, geht desinteressiert weiter, die Frau bleibt alleine auf dem Bahnsteig mit bereits etwas schlaff gewordenen Blumen zurück.

„Keinland“ ist stark assoziativ, in sich melodisch, mit schönen, klaren Bildern. Ereignisse fließen ineinander, Nadja berichtet sprunghaft, manchmal wie in Trance und nur teilweise chronologisch – „ich weiß, es klingt, als würde ich es mir ausdenken, als bräuchte ich eine mathematische Gleichung, um die Dinge logisch und plausibel erscheinen zu lassen“. Manchmal ist nicht ganz klar, ob es um Traum, Wunscherfüllung oder die Wirklichkeit geht.

Zwischen Schuldgefühlen und Aversion

Hensel schreibt gut, vor allem deutlich und unbeschämt von der Unsicherheit und Erniedrigung des Abgewiesenwerdens, in intensiven, assoziativen Bildern: Nadja tut, was man eben in trauriger Einsamkeit tut – blättert mechanisch leer in Zeitschriften, starrt ins Nichts, irgendwann wird die Traurigkeit zur Müdigkeit, als sei ein natürlicher Zyklus vorüber. So entsteht die naheliegende, auch ans Klischee grenzende Metaphorik, mit der Hensel spielt: Verliebte sind füreinander Neuland und unbekannte, zunächst unerschlossene Erde.

Erdnamen haben auch die einzelnen Romankapitel – „Höhlen“, „Felder“, „Wälder“, „Wüsten“, „Wiesen“ –, nur entsteht der Eindruck, dass die gegenseitige Landnahme bei allem guten Willen nicht klappt: Nadja und Martin sind entfremdet, nicht zuletzt auch, so deutet es der Roman an, weil sich Nadjas generationelle Schuldgefühle als Deutsche und Martins Deutschlandaversion in den Weg ihrer Liebe stellen.

„Sie (die getöteten Juden) sind irgendwo als Aschehaufen in den Wolken aufgegangen“, ist nur einer der obsessiv wiederholten Sätze im Buch, die sich an den Umgang mit der Schoah richten; Hensels Betrauerung der getöteten Juden kippt aus Lesersicht etwas häufig ins Beflissene, als könne nur wiederholt laute Klage echte Klage sein.

„Wer bin ich?“, fragt Breton in „Nadja“ und antwortet: „Ich bin die Person, von der ich besessen bin.“ In einer Art surrealistischem Spiel wird auch in „Keinland“ Martin zur Projektionsfläche von Nadja, oder vielleicht allegorischer, Israel wird zu der von Deutschland. Martin, sagt Nadja, redet über Israel, als würde er ein geliebtes Gesicht in die Hand nehmen, die Narben darauf betrachten, sachte darüberstreichen.

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Nadja schafft dies umgekehrt nicht, sie bleibt erstarrt. Aber vielleicht muss sie das auch nicht. Vielleicht gibt es immernoch keinen eindeutigen Weg, mit der Last der deutschen Vergangenheit zu leben; manchmal gilt eben, und das ist die traurige Schönheit von Hensels Roman, dass man manchmal einander enger verbunden ist, wenn man ein wenig Abstand wahrt

Jana Hensel: Keinland. Wallstein. 196 S., 20 €

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