Es gibt seit fast 25 Jahren einen kaum bekannten Time Tunnel, der die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit dem Flughafen Tempelhof verbindet. Für die erste und legendärste Inszenierung von Christoph Marthaler in dem Ost-Berliner Theater – „Murx den Europäer“ – hatte Anna Viebrock 1993 ein Bühnenbild entworfen, in dem der Spruch „Damit die Zeit nicht stehen bleibt“ an der Wand prangte. Nach und nach fielen die Buchstaben im Laufe des Abends herunter. Der Spruch und seine Typografie waren die Kopie einer Reklame für den West-Berliner Pharmakonzern Schering, die in der Halle von Tempelhof hing. Als „Murx“ Premiere hatte, verstand das jeder, weil der Flughafen noch geöffnet war und von dort regelmäßig Inlandsflüge starteten.
Die erste Theaterpressekonferenz mit Sicherheitspersonal
Jetzt wird sich die Volksbühne unter ihrem künftigen Intendanten Chris Dercon das Tempelhofer Gebäude ganz real einverleiben. Wenn die dort momentan noch untergebrachten Flüchtlinge ausgezogen sind, wird der Flughafen eine von mehreren Spielstätten. Das wusste man schon vorher. Aber auf einer Pressekonferenz im ehemaligen Flughafenrestaurant gab Dercon nun endlich konkret bekannt, was dort und in der Stammspielstätte stattfinden soll. Es war – wohl wegen befürchteter Attentate brutaler Castorf-Aktivisten – die erste Berliner Theaterspielplanpressekonferenz, zu der man sich akkreditieren musste und an deren Eingang Sicherheitspersonal dezent platziert war. Den Dramaturgen der alten Volksbühne, Carl Hegemann, ließ man trotzdem rein.
Und es gibt tatsächlich ein paar personelle Kontinuitäten. Christian Morin, der seit acht Jahren die Konzerte in der Volksbühne organisiert, wird das auch in der Ära Dercon tun. Und Boris Charmatz, der in Tempelhof unter anderem einen sechstündigen „Dance Day“ choreografiert, war schon mal am Luxemburgplatz aktiv.
Dercon dankte dem Geschäftsführer der Tempelhof GmbH, man habe sich hier von Anfang an „willkommen gefühlt“, eine zarte Anspielung darauf, dass man bei Frank Castorf nicht so willkommen war. Angeblich muss Dercon im Theater heute noch Zutritt anwaltlich erwirken. Die Schlüssel bekommt er erst im August. Es gab auch Gewaltdrohungen. Programmdirektorin Marietta Piekenbrock wurde deutlicher, dankte ironisch für die „Drohformeln“, diese hätten sie alle gezwungen, sich intensiv mit der Geschichte des Hauses zu befassen.
Tino Sehgal war beim Volksbühnen-Jugendtheater
Bei dieser Beschäftigung ist offensichtlich herausgekommen, dass die Volksbühne auch eine nicht so bekannte Liebesgeschichte mit Samuel Beckett hat: „Beckett Late Nights“ war 1993 eines der ersten legendären „Spektakel“ der Castorf-Ära, bei dem das ganze Haus mit verschiedenen Inszenierungen bespielt wurde. Ein bisschen knüpft daran jetzt die Eröffnungspremiere im Stammhaus an: Der Künstler Tino Sehgal inszeniert Beckett-Einakter im ganzen Haus. Sehgal ist ein weiteres menschliches Bindeglied zur alten Volksbühne. Er war hier Mitglied des P14-Jugendtheaters, hatte Unterricht bei der Kresnik-Tänzerin Liliana Saldana, der als Frida Kahlo damals tout Berlin zu Füßen lag.
Durch Menschen wie Sehgal wird tatsächlich so etwas wie Neugier auf das Neue geweckt. Und den schönsten Joker, mit dem man Ost-Nostalgiker dann doch ein kleines bisschen ködern dürfte, zieht das Dercon-Theater auch für Beckett: Morten Grunwald spielt in einer weiteren Einakter-Premiere in der Regie von Walter Asmus.
Grunwald spielte einst den Benny in der dänischen Fernsehserie „Die Olsen-Bande“, die in der DDR-Kultstatus hatte. Vielleicht, weil ihr Chef Egon Olsen, genau wie Erich Honecker, zwar immer einen Plan hatte, dieser dann aber doch nie funktionierte. Der 83 Jahre alte Grunwald sieht übrigens aus wie Chris Dercon.
Viel rhetorische Luft
Auch auf die Theaterinszenierungen von Filmemachern wie Albert Serra, Yael Bartana und Apichatpong Weerasethakul ist man durchaus neugierig, obwohl der Thailänder eine „Schlafperformance“ inszenieren wird und man in Berlin schon so viele Schlafperformances gesehen hat, dass man sie zum Einschlafen zählen könnte wie Schäfchen.
Man möchte so gerne Chris Dercon lieb haben, den Mann mit dem überaus charmanten Akzent, der in sein Belgierdeutsch immer reizende Französismen wie „Londres“ einflicht. Er hat doch bisher so viel an Berlin gelitten. Verglichen mit seinen letzten depressiven öffentlichen Auftritten, wirkte er diesmal geradezu fröhlich. Nur selten sprach er noch über die „schwierigen Bedingungen“ seiner Vorbereitungszeit und gelassen witzelte er, er habe aus der Hauptstadtpresse viel über sich gelernt, das er noch gar nicht wusste.
Aber je länger dieser Pressekonferenznachmittag sich hinzog, desto schwieriger wurde es einem mit dem Liebhaben gemacht. Da wurden mit viel rhetorischer Luft Projekte – vor allem Projekte –, die man so ähnlich schon mal gesehen hatte (nur wahrscheinlich ein bisschen billiger), als Innovationen verkauft. Es klang fast immer, als hätte man in den Kuratorensprech-Maschinenmotor noch einen Dramaturgensprech-Turbo eingebaut: Dercon bezeichnete einmal ein Projekt als „Sterbeübung“. „Tanz hat sehr viel mit dem Schlaf zu tun“, schreibt Boris Charmatz im Programmheft. „Tanz kann etwa etwas zwischen den Körpern machen“, sagte er auf der Pressekonferenz. Niemand widersprach. Ständig war die Rede von „Wagnissen“ und dass man gedenke, sich Räume zu „erobern“. Den kalauersüchtigen Journalisten liefert man damit willkommene Steilvorlagen für „Volksbühne ohne Raum“-Witze.
„Das Subjekt – ist es heute überhaupt noch ein Thema?“, fragte schließlich Programmdirektorin Piekenbrock während ihres längeren konzeptionellen Einführungsvortrags, und verneinte dann stellvertretend für die Hausregisseurin Susanne Kennedy, die mit zwei Inszenierungen in der ersten Spielzeit vertreten sein wird. Kurz darauf versagte ihr in der schlechten Luft des gerammelt mit Journalisten und Fernsehteams vollgepackten Raums die Stimme. Zumindest der Hals des Subjekts und seine trockenen Stimmbänder waren da wieder ein Thema.
Selbstverständlich auch was mit Flüchtlingen
Es wird selbstverständlich künftig Volksbühnen-Theater auch im Internet und nur fürs Internet geben. Mercedes Bunz – auch so ein Name, bei dem sich ein Neunziger-Retrovisionseffekt einstellt –, die die für „Volksbühne Fullscreen“ zuständäge Kuratorin Elodie Evers berät, kündigte eine eigens dafür geschaffene Inszenierung mit Joachim Krol und Matthias Brandt „in aufwendigen Bühnenbildern“ an und eine Web-App namens „Beckett Diary“. Alexander Kluge wird mit „Im Auge der Libelle“ ein digitales Fenster auf der Internetseite kriegen. Mit Flüchtlingen wird pflichtbewusst auch etwas gemacht.
Die guten Freundlichkeitsvorsätze bröckeln, je länger diese ganzen Konzeptgeburten da oben auf dem Podium lächelnd angekündet werden. Beim Blättern durch das Spielzeitheft hat man nicht nur wegen typografischer Ähnlichkeiten das Gefühl, sich in die Publikationen von Hebel am Ufer und Berliner Festspielen verirrt zu haben. So viel ist klar: Theater, bei dem sich Schauspieler unter der Anleitung eines Regisseurs mit literarischen Texten beschäftigen, wird es künftig an der Volksbühne nur noch in Ausnahmefällen geben.