„Wir brauchen die Phantasie und das Mysterium, um diese Welt zu verwandeln, in die es uns verschlagen hat, ohne das wir wüssten, warum und auf welche Weise!“
Die Welt taumelt in Richtung Abgrund. Es sind nur noch wenige Jahre bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In Spanien wird für das kommende Gemetzel geprobt. Nicht Länder prallen aufeinander. Im Bürgerkrieg (1936 – 1939) stehen sich politische Systeme und Weltanschauungen gegenüber. Viele Bücher gibt es über jene Jahre. Mit dem Roman „Flüchtiger Glanz“ des Katalanen Joan Sales (1912 – 1983) ist nun ein Meisterwerk wiederentdeckt und erstmals ins Deutsche übersetzt worden.
Ein Meisterwerk kann entweder betören oder aufwühlen. Letzteres ist geschehen, als ich nun dieses Werk las. Zugleich ahne ich bereits jetzt, dass eine einmalige Lektüre nicht reicht, um den Inhalt in all seiner Vollständigkeit und Tiefe zu verinnerlichen. „Flüchtiger Glanz“ ist vor allem ein Buch der Gedanken – ohne das Licht auf die Szenerie des Krieges zu dimmen. Im Mittelpunkt des Romans stehen vier junge Menschen: Lluis, Solèras und Cruells erleben als Soldaten beziehungsweise Sanitäter das ganze Ausmaß der Gewalt des Krieges direkt an der Front. Trini, Lluis‘ Frau, bleibt mit dem gemeinsamen Sohn Ramonet zurück in Barcelona. Sie erlebt ebenfalls die Schattenseiten des militärischen Kampfes. Die Einwohner leiden unter den Bombenangriffen aus der Luft und von der See sowie der Not an Lebensmitteln. Hinzukommen die Morde an Priestern und die Zerstörung von Kirchen durch Anarchisten. Das Paar schreibt sich gegenseitig Briefe, auch Solèras hält den Kontakt zu Trini. Die drei kennen sich bereits aus der Jugendzeit. Cruells lernen sie an der Front in Aragonien kennen. Die Männer, die trotz verschiedener Professionen das Schicksal eint, von einer Tante aufgezogen worden zu sein, kämpfen zusammen in einer Kompanie der Republikaner gegen die Faschisten. Als für einige Wochen Ruhe an der Front einkehrt, werden schließlich auch die Frauen einiger Soldaten aus Barcelona geholt, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Auch Trini und der kleine Ramonet sind dabei. Denn Cruells hofft, dass sich das Paar wiederfindet, nachdem Trini durch Solèras erfahren hat, dass Lluis von einer charismatischen Burgherrin verzaubert scheint und sie sich von ihm trennen will.
In dieser Vierecks-Geschichte, in der alle drei Männer Gefühle für Trini empfinden, erhalten Briefe eine große Bedeutung. Allgemein ist der aus drei Teilen aufgebaute Roman in erster Linie ein Briefroman. Im ersten Part berichtet Lluis seinem Bruder Ramon, einem Mönch, in tagebuchartigen Briefen über seine Front-Erlebnisse und seine Gedanken, die sich nicht nur um die Sinnlosigkeit des Krieges und das Leid der jüngeren Generation, deren Hoffnungen und Lebensfreude zunichte gemacht werden, drehen. Auch seine Liebe zu Trini spiegelt sich in seinen Berichten wider. Im zweiten Teil wird Trini zur Erzählerin, die Solèras von den Nöten der Zivilbevölkerung in Barcelona und ihrer Enttäuschung über ihren Mann berichtet. Im letzten Abschnitt erinnert sich Cruells aus einem Abstand von 25 Jahren an die damaligen Geschehnisse und verwebt das Erlebte und Gesehene mit seinem religiösem Weltbild, das er zum Schluss kritisch gegenübersteht und er seine Zukunft als Geistlicher infrage stellt.
„Papa lauschte mir immer noch kopfschüttelnd und mit größter Aufmerksamkeit. Wir Menschen, sagte er, sollten uns nicht aufgrund unserer Ideen zusammenschließen, sondern aufgrund unserer Gefühle; wenn ich daran denke, dass sie im Namen der Abschaffung der Todesstrafe halb Katalonien ermorden … Dass ich erst über sechzig werden musste, um zu verstehen, dass die Ideen keinen Pfifferling wert sind.“
Joan Sales wurde selbst Zeuge der Zerstörung und der Gewalt während des Bürgerkrieges in seinem Heimatland. Nach dem Besuch einer Militärschule kämpfte der studierte Jurist auf der Seite der Republikaner. Der Sieg des Franco-Regimes bestimmte auch nach dem Krieg das Leben des späteren Autors. Sales ging ins Exil, erst nach Frankreich, später in die Dominikanische Republik und nach Mexiko. 1948 kehrte er zurück nach Spanien und nahm die Arbeit an seinem Roman „Flüchtiger Glanz“ auf, der erst von der Zensur verboten wurde, um später mit Korrekturen und Ergänzungen veröffentlicht zu werden. Erst 1971 erschien die endgültige Fassung. In einem „Geständnis“, das dem Roman vorangestellt ist, erklärt der Autor den Titel seines Buchs mit Verweis auf zwei Zitate von William Shakespeare und Charles Baudelaire. Sales schreibt: „Wir suchen, bewusst oder unbewusst, nach einem Glanz, einem Ruhm, den wir nicht definieren könnten. Wir suchen ihn in vielen Dingen, vor allem in der Liebe – und im Krieg, wenn dieser unseren Weg kreuzt, wie das bei meiner Generation der Fall war.“
Dabei wird nicht nur das Grauen des Krieges, dessen Maschinerie aus Panzern und Kanonen mit großer Reichweite sowie jene nervliche Anspannung angesichts der Möglichkeit, im nächsten Moment das Leben zu verlieren, geschildert. Sales setzt dem als Kontrast Beschreibungen der idyllischen bergreichen Landschaft und des Dorflebens, das jedoch zugleich von der Armut der Bewohner, allgemein der Rückständigkeit der ländlichen Regionen geprägt ist. Vor allem Llius ist es, der in den Ruhezeiten die Gegend und Orte erkundet, die vom Krieg noch verschont geblieben sind. Was alle drei Teile zudem vereint, ist der gemeinsame Fokus auf die Gestalt des Solèras. Es ist seine schräge Gedankenwelt, die ihn auszeichnet. Als belesener und kluger Kopf blickt er hinter die Dinge. Mit seiner ungewöhnlichen Meinung provoziert er seine Freunde.
„Flüchtiger Glanz“ zu lesen, ist sowohl Herausforderung als auch Lektion. Die Briefe und darin wiedergegebenen Monologe und Dialoge sind voller Gedanken zu den verschiedensten Themen in all ihren Kontrasten: das Leben und die Liebe, Glaube und Politik, Zeit und Vergänglichkeit. Sie sind Kommentare zum Weltenlauf und dem Weltenbrand, die mit ihrer Tiefe und Weisheit ungemein beeindrucken und den Leser bereichern. Man kommt nicht darum, Zitate anzustreichen, sie mit einem bunten Fähnchen zu markieren. Es ist eine so ungeheure Vielzahl an Sätzen, die auf diese Weise herausragen und eben daran erinnern, dass dieses Buch ein Meisterwerk ist. Man kann glücklich sein, dass es nun seine Übersetzung ins Deutsche erfahren hat und hofft, dass viele Leser aus den unterschiedlichsten Generationen es zu schätzen wissen und ihre Begeisterung weitertragen. Denn dieser Roman über eine verlorene Generation gehört nicht zu den vergessenen Schätzen, sondern in den Kanon der Weltliteratur.
Eine weitere Besprechung des Romans gibt es auf dem Blog „Glasperlenspiel13“ von Vera Lejsek.
Der Roman „Flüchtiger Glanz“ von Joan Sales erschien im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und mit einem Nachwort von Eberhard Geisler; 576 Seiten, 26,80 Euro
Ein Gedanke zu “Verloren – Joan Sales „Flüchtiger Glanz“”