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no. 5: perspektive afrika -> ausgegraben
 

ausgegraben

Heitor Villa-Lobos

von Andreas Daams

Zur neuen Rubrik "Ausgegraben": Die Hochkultur unserer Tage ist das Werk weniger Menschen, die in Forschung und Wissenschaft, in Politik, in Kunst, Literatur und Musik Außergewöhnliches geleistet haben und immer noch leisten. Ihre Arbeiten sind der Brennstoff der menschlichen Weiterentwicklung, die Feuilletons, Magazine, Fernsehprogramme und das dumme Gerede der Allgemeinheit sind nur das Schmieröl.
Nun liegt jedoch ein merkwürdiger Konsens der Gegenwart über der Historie, der bestimmte kulturelle Leistungen hoch bewertet und andere vernachlässigt. Bei näherer Betrachtung ergibt sich, daß oft nicht einmal mehr die Leistungen an sich den Rang ihrer Vollbringer begründen, sondern beispielsweise eine fernsehfilmtaugliche Biographie. Sexsucht, Armut und Syphilis sind gute Voraussetzungen für Nachruhm, geben aber auch keine Garantie. Wie in keinem anderen Bereich des menschlichen Lebens (außer dem professionellen Sport) sind im Kulturbereich auch nationale Eigenheiten zu berücksichtigen. Nationale Leitkomponisten wie der Finne Sibelius gelten in unseren Breitengraden als zweite Wahl.
Die Pyramide der Geistesgrößen ist festgemauert. Soll sie doch stehenbleiben und allmählich verstauben. Wir wenden uns den anderen Meistern zu.

Der große brasilianische Komponist ist nun seit beinahe 40 Jahren tot. 1887 wurde er geboren; im deutschsprachigen Raum ist er allerdings nie sehr lebendig gewesen. Noch heute kennen die meisten Cellostudenten an deutschen Musikhochschulen seine beiden Cellokonzerte nicht und die Klassikradios nur das Gitarrenkonzert. In Südamerika hingegen wird seine Bedeutung kaum unterschätzt.

Die beiden Weltkriege erlebte er aus der Ferne. In der wirren Zwischenkriegszeit befand er sich in Paris, der damals wohl bedeutendsten Kulturmetropole. Alle musikalischen Ideen des Restjahrhunderts entstanden übrigens in jenen fiebrigen Jahren, manche in Wien, andere in Berlin, einige in Paris. Villa-Lobos, einer der vielen Exoten, die die Straßen von Paris bewanderten, gab in jenen Tagen Zeitungsreportern zu Protokoll, daß er einem Volk von Menschenfressern entstamme und sich nur mühsam europäisch zivilisiert gebe. Er war ein Mensch, der alles um sich herum aufsaugte und alles gebrauchen konnte. Auf der anderen Seite war er ein Original-Genie, das sich für die Herren Salonmusiker seiner Herkunft wegen näher am Ursprung der Zivilisation befand als sie selbst -- großstädtische Blütenträume von Dschungel, Lianen und edlen Indios.

Später, nach Brasilien zurückgekehrt, gehörte er einer nationalistischen Militärregierung an. (Damals bestand Südamerika ja vorwiegend aus Generälen und Putschisten.) in seiner Funktion als Kulturminister schrieb er beispielsweise Musik für Schulen und für Laienchöre. Diese Art des Wirkens verursacht uns heute Kopfschmerzen: wir pflegen gemeinhin das Bild eines reinen, nur nach höheren Idealen strebenden Komponisten, wie es uns aus der Romantik vertraut erscheint, und dazu paßt nun einmal kein Minister in einer Militärregierung, der sich zwar einst mit Debussy und Ravel duzte, der aber nun neben seinem 'ernsten' Oeuvre auch noch Gebrauchsmusik komponierte.

Im Laufe seines Lebens hat Villa-Lobos mehr als 2.000 Werke geschaffen. Man kann in ihm, dem Vielschreiber, eine Art Antipode seines Zeitgenossen Anton von Webern sehen, der ausgesprochen wenig schrieb, sehr gelehrt war und zuletzt von einem Soldaten versehentlich erschossen wurde. Tatsächlich mag man sich kaum gegensätzlichere Leben und Werke vorstellen.

Dabei war die Musik von Heitor Villa-Lobos den Kritikern anfangs sogar zu modernistisch. Zum Dança frenética schrieb einer von ihnen, das Stück solle besser "Veitstanz" heißen, von epileptischen Musikern gespielt und von paranoiden Menschen gehört werden. Am Ende war seine Musik ihnen dann zu reaktionär.

Weil die alten Formbezeichnungen ihm zu eng wurden, erfand er neue: "Choros" und "Bachiana brasileira", letzteres als Referenz an den alten Leipziger Thomaskantor -- vergriff er sich da etwa respektlos an deutschen Heiligtümern? Den Erneuerungsfanatikern zum Trotze schrieb er aber auch noch 12 Sinfonien. Nicht einmal sinfonische Dichtungen mit außermusikalischem Programm ließ er aus: Amazonas etwa oder Tanz der Moskitos. Die 6. Sinfonie trägt den Titel: The mountains of Brasil; sie entstand 1944. Alpensinfonie auf brasilianisch? Hätte er zu dieser Zeit nicht an das deutsche Morden denken müssen?

Gitarrenmusik, jenes unkünstlerische Pling-Pling, komponierte er, und nicht zu knapp. Gar Geistliche Musik! Liederzyklen! Und in Zeiten, in denen Ravel gerade mal eines schrieb und Richard Strauss keines, verfaßte er gleich 17 Streichquartette. Bereitwillig schrieb er Filmmusiken ebenso wie Ballette und Opern.

Er hat also zu vieles falsch gemacht, um von deutschsprachigen Kulturfunktionären ernst genommen zu werden. Wir können heute froh sein, daß er keinen Gedanken an diese Kaste verschwenden mußte. Einige Kammermusikwerke als folkloristisches Beiwerk zur Musikgeschichte wären ja noch willkommen gewesen. Aber Opern aus Südamerika? Und er hätte natürlich niemals nach Brasilien zurückkehren dürfen. Einer schmallippigen Komponistensekte hätte er sich anschließen müssen oder eine eigene Schule begründen. Bücher hätte er schreiben sollen über seine Musik, statt diese zu komponieren, dann wäre womöglich eine Professor in Paris für ihn herausgesprungen. So verläuft ein musikwissenschaftlich akzeptabler Werdegang.

Es gibt noch ein anderes Problem: das Temperament dieses Mannes. Man muß wach sein, um seinen Sprüngen zu folgen. Man muß staunen, wenn sich seine langen Triolen über pulsierende Grundrhythmen legen, wenn sich die von so vielen Komponisten vernachlässigte metrische Kraft entfaltet, wenn es sogar in einem winzig kleinen Stück für Flöte und Fagott glitzert und flackert, wenn ausschweifende Melodien geboren werden, mit denen der Westeuropäer schon gar nicht mehr rechnet.

Was sollen wir also mit so einem Komponisten anfangen? Er entzieht sich unseren gewohnten Kategorien. Wie kann ein Rundfunkredakteur sein 2. Klaviertrio einordnen? Neue Musik? Oder nicht? Oder halb? Also besser gar nicht erst darüber nachdenken. Was soll man zu den ausufernden Klavierkonzerten sagen? Sie kommen nicht auf den Punkt. Sie entbehren einer gewissen Prägnanz, und -- ein wahrhaft guillotinistisches Urteil: sie sind epigonal.

Epigonal! Jene Phrase klingt wie Rachmaninov, diese wie Strawinsky. Da ist sie wieder, die Pyramide der anerkannten Geistesgrößen. "Dieb!" ruft sie empört, und Myriaden von Musikwissenschaftlern schreien unisono mit. Schließlich haben sie ja eifrig an ihr mitgebaut. Gehört haben sie Musik von Villa-Lobos aber natürlich noch nicht. Wozu hören, wenn man doch darüber schreiben kann?

Villa-Lobos selbst sah sich als einsamen Wanderer, der während des Komponierens die verschiedensten Landschaften durchquert. Tatsächlich eignet sich seine Musik, gerade die für Orchester, für hermeneutische Betrachtungsweisen ganz besonders. Auch ist sie reich an dekorativen Elementen, was zu einer formalen Geschlossenheit kaum beiträgt. Sicher, die musikalischen Stile seiner Zeit und der Vergangenheit Brasiliens ebenso wie Mitteleuropas sind auf diesem Weg mitunter mehr oder weniger deutlich sichtbar und hörbar. Aber was heißt schon: dieses und jenes klingt wie Strawinsky? Die meisten Stücke von Strawinsky klingen doch nicht einmal wie Strawinsky.

Die Pyramide ist vielleicht auch ein Schutz vor zuviel Geist. Sie gibt Sicherheit, intellektuelle und geschmackliche. Man befindet sich im richtigen Lager. Sie gaukelt einen klar definierten Fortschritt in der Musikgeschichte vor. Nur keine Experimente! Man kann den Rest der Welt vergessen, wenn man die Pyramide als gegeben hinnimmt.

Heitor Villa-Lobos ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Selbstbehauptung dieses 'Rests der Welt': er durchquerte die Kontinente und vereinnahmte sie. Für ihn war Westeuropa nur eine Materialsammelstelle, nichts weiter. Das verzeiht Westeuropa ihm nicht. Wir sind es doch, die Musikextrakte aus Java und Jamaika ungestraft in unser Weltbild packen dürfen. "Es ist alles unser Material!" rufen wir aus; ein Brasilianer möge doch bitteschön Samba tanzen, Karneval feiern oder einer Militärdiktatur zum Opfer fallen. Das unschöne Wort vom 'Kulturimperialismus', hier steht es am richtigen Platz. Als ernsthaften Komponisten kann man Villa-Lobos hierzulande nicht gebrauchen. Ihm fehlt die passende Leidensgeschichte.

Vielleicht liegt die Geringschätzung für die Werke von Villa-Lobos zu einem großen Teil aber auch in der Enttäuschung darüber, daß sie so wenig brasilianisch sind. Die Aufmerksamkeit, die Astor Piazolla gegenwärtig unter den Trendsettern der klassischen Musik erfährt, beruht eben darauf, daß Tango etwas ganz spezifisch Argentinisches zu sein scheint. So hat Südamerika zu klingen: ein Tango jagt den nächsten Tango. Aber was soll das eigentlich sein, das Südamerikanische? Was ist eigentlich brasilianisch? Was ist deutsch?

Nicht einmal in die Schablone des Exotismus paßt Villa-Lobos. Was ist das auch für eine unsinnige Hörweise, die am liebsten jede musikalische Phrase auf Volksmusik zurückführen möchte, und das in Zeiten, in denen amerikanische Popmusik so etwas wie nationalitätenunabhängige Volksmusik ist!?

Villa-Lobos jedenfalls war der Mittelpunkt seines eigenen großen und farbigen Universums. Und dieses Universum klingt verdammt gut. Darauf, und nur darauf sollte es letztlich ankommen.

Um einen Überblick über Villa-Lobos' Leben und Werk zu bekommen, empfehlen sich folgende englischsprachigen Websites (zum Teil auch mit Klangbeispielen):

Der CD-Markt gibt mittlerweile einen doch ganz guten Querschnitt durch Villa-Lobos' Schaffen, auch wenn natürlich noch riesige Lücken klaffen. Einen vortrefflichen Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Villa-Lobos bilden die 5 Klavierkonzerte (Cristina Ortiz und das Royal Philharmonic Orchestra unter Miguel Gómez-Martinez, DECCA 430 628-2) und die populäreren Bachianas brasileiras (mehrere Einspielungen). Ferner hat das Label MARCO POLO diverse Kammermusiken im Programm. In Konzerten hierzulande wird man Villa-Lobos hingegen kaum jemals antreffen, es sei denn, es handelt sich um Gitarrenmusik.

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