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no. 24: wildwüchsige autobiographien -> canettis selbstverschriftlichung
 

Vorgeführte Verwandlung

Tradition und Wildwuchs in Elias Canettis Selbstverschriftlichung

von Karoline Hornik

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In seiner autobiographischen Trilogie vollzieht Elias Canetti eine geradezu klassische Dichterwerdung nach, er entfaltet eine kohärente Lebensgeschichte, in der auch die Sprünge, Brüche und Risse harmonisch integriert sind. Ganz anders präsentieren sich die 'Aufzeichnungen', die der Dichter jahrzehntelang niederschreibt. Hier findet sich ein überbordender Wildwuchs an Gedankensplittern, die oft wenig direkt-persönliches des Dichters enthalten, aber ihn doch in seinen auch abwegigsten Facetten repräsentieren. Gerade die Gegensätzlichkeit dieser beiden Formen der Ich-Darstellung wird für Canetti wertvoll. Die Autobiographie ermöglicht es ihm, ein beispielhaftes lebensgeschichtliches Zeugnis kohärent vorzulegen. Doch die hier bloß erläuterte Vielfalt eines Dichterlebens kann er mittels der Aufzeichnungen inhaltlich wie auch formal in unmittelbarer Art und Weise wiedergeben.

 
"Die schlechten Dichter verwischen die Spuren der Verwandlung;
die guten führen sie vor."
Elias Canetti

 

In drei Bänden ist Elias Canettis Lebensgeschichte in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen. Bei der Lektüre beeindrucken die Stringenz von Lebens- und Bildungsweg des Protagonisten, zielstrebig entwickelt sich der lesebegeisterte Junge gegen alle äußeren und inneren Widerstände zum bibliophilen Dichter. Aufgrund dieses anvisierten Telos, der äußerlichen Dreiteilung als auch der harmonischen Persönlichkeitsentfaltung des Protagonisten werden die Bände gelegentlich mit Goethes Dichtung und Wahrheit in Verbindung gebracht, sie können 'klassisch' genannt werden. Besonders der erste Band, Die gerettete Zunge, zählt zu den kanonischen Texten der Gattung, er findet sich auf Empfehlungs-Leselisten und bietet sich als Schullektüre an -- und nicht zuletzt für diese Schrift hat Canetti 1981 den Nobelpreis für Literatur bekommen.

Canetti setzt in der Geretteten Zunge mit seiner frühesten Kindheitserinnerung ein: Der Liebhaber seines Kindermädchens droht, ihm die Zunge abzuschneiden, wenn er etwas von dem Verhältnis der beiden preisgäbe -- die Episode ist titelgebend, der Eindruck nachhaltig, der damals zweijährige Canetti wird jahrelang verängstigt darüber schweigen. Auf die Einleitungsepisode folgen seine ersten Kindheitsjahre in Rustschuk, dem heutigen Russe, einer an der Donau gelegenen bulgarischen Stadt. Canetti verleiht diesem Lebensabschnitt großes Gewicht, denn er verkündet: "Alles was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen." Durch diesen wohlplazierten Satz provoziert Canetti eine Spurensuche im Text, es ist sowohl eine beliebte Frage in der Forschung als auch ein immer dankbarer Einstieg für eine Diskussion über Canettis Autobiographie: Was genau geschieht in Rustschuk, das später wiederkehrt? Tauchen die eingeführten Motive durchgehend weiter in seinem Leben auf? Fehlt vielleicht doch etwas, oder erwähnt er bereits hier tatsächlich alle richtungsweisenden Begegnungen?

Die Ergebnisreihen einer solchen Spurensuche ähneln einander naturgemäß, genannt werden 'Masse' (und 'einzelner'), 'Macht' (und 'Ohnmacht'), 'Tod', 'Erzählungen' und 'Judentum' (bzw. 'jüdisches Urtabu des Tötens', 'jüdisches Urbegehren nach Schrift'), 'Familie' oder 'Prägung durch die Mutter', 'Sprache', 'Verwandlung', 'Vertreibung' und 'Angst', 'Ablehnung von Geld und Geschäften' und anderes mehr. Und grundlegend stimmt es auch: Canetti entwickelt seine Autobiographie tatsächlich entlang einiger Leitmotive. Eine klar erkennbare Liste, die man nur noch abzuhaken bräuchte, liefern die Abschnitte über die Zeit in Rustschuk jedoch nicht -- das wäre gar zu banal, hierfür ist Canetti doch zu sehr Poet. Doch gibt er den Hinweis natürlich nicht ganz unabsichtlich, und wer auf seinen Wink hin die drei autobiographischen Bände ein bißchen aufmerksamer liest, auf Motivreihen und -entwicklungen achtet und den eingangs markant präsentierten Begriffen nachgeht, wird nicht enttäuscht werden.

Canetti führt in seiner Autobiographie die stete Entfaltung einer dichterischen Persönlichkeit entlang einiger Schlüsselmotive vor. Die Sehnsucht des Protagonisten nach Schrift und Literatur beispielsweise spricht er tatsächlich bereits in den ersten Erinnerungen aus Rustschuk an, auf den exzessiv lesenden Schuljungen folgen die dichterischen Versuche des Jugendlichen. Die Fackel im Ohr, der zweite Teil der Autobiographie, endet mit der Fertigstellung der Blendung, dem großen kanonischen Roman des Dichters, der inzwischen Mitte 20 ist. Der dritte Teil, Das Augenspiel, berichtet von der Weiterführung der schriftstellerischen Laufbahn, Canettis Leben findet nun inmitten der kulturellen Größen Wiens statt. Der Bogen wird in der Autobiographie vom Literaturschüler über die Etablierung als Schriftsteller bis hin zur Mentorrolle gegenüber einer jungen, aufstrebenden Schriftstellerin, Friedl Benedikt, gespannt -- die Entwicklung zum Dichter ist vollendet, der beschriebene Autor mit dem Ausklang des dritten Bandes 32 Jahre alt.

Es ist dies nicht die einzige Entwicklungslinie, nicht die einzige 'Verwandlung', die Canettis Autobiographie beschreibt -- vielmehr lassen sich ebenso die Etablierung und Entfaltung seines Verhältnisses zu 'Masse' und 'Mythos', zum 'Menschen', seine 'Todesfeindschaft' und auch seine Beziehung zu dem für ihn zentralen Begriff der 'Verwandlung' selbst genau nachzeichnen. Entlang dieser Motive hat Canetti den eigenen Lebensweg als eine erfolgreiche Bildungsgeschichte dargestellt. Zum Nachweis seiner repräsentativen Dichterwerdung kann er nicht nur die einzelnen Texte vorlegen, die in der Autobiographie beschrieben oder angelegt sind, wie Die Blendung, Die Hochzeit, Masse und Macht, sondern auch die drei autobiographischen Bände selbst. Und sogar den genaueren Hintergrund der hier dargestellten Entwicklung hat Canetti in Textform präsentiert: In Der Beruf des Dichters, seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Ludwig-Maximilians-Universität München im Januar 1976, erörtert er ausführlich, was einen 'guten' Schriftsteller ausmache -- und beschreibt dabei im eigentlichen sich selbst.

Denn das Wichtigste in bezug auf einen 'Dichter', so Canetti in seiner Rede, sei seine Rolle als ein 'Hüter der Verwandlungen'. Die Verwandlungsfähigkeit ist für Canetti das Menschliche schlechthin, und ein Leben ohne eine immerwährend stattfindende Verwandlung ist ihm ein verarmtes, ein degeneriertes Leben, das nur auf Leistung und Spezialisierung ausgerichtet ist. Für Canetti liegt es in der Verantwortung des Schriftstellers, sich gegen eine solche Verkümmerung zu stellen. So müsse ein Autor als erstes die eigene Verwandlungsfähigkeit schulen -- anhand des literarischen Erbes der Menschheit, der Literatur und der Mythen, die voller Verwandlungszeugnisse seien. Und als zweites müsse er sie selbst anwenden, indem er sich in die Menschen seines Umfelds, in jeden einzelnen, besonders den kleinsten, verwandle, heißt: sich in ihn einfühle und so vollkommen erfasse. Dies ist für Canetti der einzig wahre Zugang zum anderen Menschen und stellt gleichzeitig den Schlüssel zu einem erfüllten Leben dar. Neben einem ganz persönlichen Lebenskonzept formuliert Canetti hier gleichzeitig eine umfassende Zivilisationskritik, ein Plädoyer gegen Arbeitsteilung und Spezialisierung innerhalb einer Gesellschaft. Gegen die dadurch drohende Verkümmerung solle der einzelne Mensch sich an seine vielfältigen Möglichkeiten und Talente erinnern und diese ausschöpfen -- sich also des öfteren 'verwandeln' --, was sein Leben grundlegend verbessern werde.

Die verantwortungsvolle Rolle, die ein Schriftsteller in dieser Vorstellung einnehmen soll, zeigt Canetti in seiner Autobiographie plastisch auf. Die ersten Erfahrungen mit der Verwandlung, ihr Einüben und Anwenden stellen Schlüsselmomente des beschriebenen Lebensweges dar: Durch die ausufernde und begeisterte Lektüre verinnerlicht der Protagonist bereits früh unzählige literarische Figuren. In Veza, seiner späteren Frau, findet er eine verwandte Seele, was die Intensität dieser Aneignung betrifft. Und in dem begnadeten Rezitator Ludwig Hardt dann einen Menschen, der sich beim Vortragen tatsächlich in die jeweiligen literarischen Figuren verwandeln kann. Canetti beschreibt, wie sich sein Interesse, solcherart angeregt, von den literarischen Figuren auch auf die Menschen seines Umfelds ausweitet. Daß er es gelernt hat, sich in diese einzufühlen und zu verwandeln, belegt wiederum die Autobiographie, die eine Fülle an detaillierten Personenporträts aufweist. Mit dem literarischen Denkmal, das er den Personen seines Umfelds durch seine Autobiographie geschaffen hat, vollzieht er außerdem buchstäblich seinen Kampf gegen den Tod -- er verhilft den beschriebenen Menschen durch die neue 'Lebenswelt Text' zu einer Art Unsterblichkeit.

Canettis Rede Der Beruf des Dichters und seine autobiographische Trilogie lassen sich also mit Blick auf die Rolle des Dichters genau aufeinander abbilden -- legt er in dem kurzen Essay seine Vorstellungen von den Aufgaben und der Position eines Dichters detailliert dar, so zeigt er in der Autobiographie die eigene Entwicklung zu einer ebensolchen Schriftstellerpersönlichkeit auf.

Mit dieser Ausgestaltung der eigenen Lebensgeschichte verfolgt Canetti einen ganz bestimmten Zweck. Er hat ein Anliegen, er hat eine erschreckende Gegenwartsdiagnose gestellt (Verkümmerung der Menschen), hat ein Allheilmittel bei der Hand (Verwandlung) und auch jemanden bestimmt, dem es anheimfällt dieses an die Gesellschaft heranzutragen (den Dichter). Nun legt er mit seiner Autobiographie eine Beispielsgeschichte vor, er weist nicht nur nach, daß es einen solchen Dichter geben kann, er zeigt zugleich, wie dessen Genese vonstatten geht. Und obendrein zeugt die verschriftlichte Lebensgeschichte doppelt vom Gelingen dieses Dichterseins: inhaltlich wird es prototypisch vorgeführt und durch die Materialität des vorliegenden Buches zugleich nachgewiesen. So ist leicht einzusehen, wieso es Canetti so ausgesprochen wichtig ist, daß der beispielhaft vorgeführten und gelungenen Dichterwerdung, dem Erzählten, vom Leser Glauben geschenkt wird.

Canetti gelingt es in der Konzeption seiner Autobiographie allerdings nicht ganz, seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Denn einerseits fordert er den Menschen auf, von seiner Verwandlungsfähigkeit ausgiebig Gebrauch zu machen, und kritisiert in diesem Kontext vehement eine lebenslange Beschränkung auf nur einen einzigen Beruf. Auf der anderen Seite kommt für ihn selbst jedoch von jeher nur das Schriftstellerdasein in Frage. Canetti löst diesen Widerspruch mit der Bemerkung, daß sein Beruf sich per se mit der Verwandlung auseinandersetze und deswegen als einziger keine Verkümmerung nach sich ziehe. Doch gerade die -- seiner eigenen Vorstellung gemäß -- vorbildliche Ausübung seines Berufes führt Canetti in ein Dilemma, führt zum inneren Widerspruch seiner eigenen Autobiographie. Denn diese gibt zwar inhaltlich durch das große und eindrücklich beschriebene Figurenarsenal lebhaft Zeugnis von Anteilnahme, Einfühlung und Verwandlungsfähigkeit des Dichters. Doch der Text als Ganzes kann dies nicht unterstreichen. Zu korrekt, zu komponiert und bruchlos wirkt die Lebensgeschichte Canettis. Das beispielhaft geglückte Leben, die Darstellung der Persönlichkeit, der zielstrebig verfolgte Bildungsweg, das alles verleiht Canettis Wort Gewicht, einerseits. Doch auf der anderen Seite wird genau das nicht eingelöst, was für den Dichter am höchsten stehen soll. Denn wo bleiben die freie Spontaneität, die Vielfalt, wo die Verwandlungen, kurz: der Wildwuchs in einer so konsistenten Autobiographie?

 

"Erklärte Leben sind keine gewesen."
Elias Canetti

 

Die dreiteilige Autobiographie (ein vierter Band, Party im Blitz. Die englischen Jahre, erscheint posthum 2003, dieser ist allerdings gerade im Aufbau ausgesprochen fragmentarisch geblieben) ist nicht das einzige autobiographische Zeugnis, das Canetti seiner Leserschaft hinterlassen hat. Der Dichter, der seinen gelungenen Lebensweg eindringlich und erfolgreich literarisiert hat, pflegt ein weiteres autobiographisches Medium in geradezu ausufernder Art und Weise. Canetti schreibt 70 Jahre lang Aufzeichnungen, von 1925 bis zu seinem Tod, ab 1942 fast täglich. Es entstehen kurze Sätze und längere Abschnitte, Gedanken, Überlegungen, Notizen, Kommentare, Ideen, er entwirft Bruchstücke, Kürzestgeschichten, er beschreibt, vergleicht, diskutiert, erörtert, berichtet, sinniert und: er publiziert. Immer wieder kommt ein Aufzeichnungsband von ihm auf den literarischen Markt, bis zu seinem Tode stellen die Bände den größten Teil seines gesamten Werks dar und sind doch nur ein veröffentlichtes Zehntel der tatsächlich produzierten Textmenge -- im Nachlaß finden sich wahre Berge von weiteren Aufzeichnungsseiten, Zeugen des täglichen Lebens- und Arbeitsprozesses Canettis.

Die Aufzeichnungen können keiner spezifischen Gattung zugeordnet werden. Am häufigsten noch wurde Canetti in diesem Zusammenhang als Aphoristiker bezeichnet. Er äußert auch wiederholt seine Bewunderung für den wohl bekanntesten und frühesten Vertreter der Gattung im deutschsprachigen Raum, Georg Christoph Lichtenberg: Dessen Neugier lasse sich von nichts binden, er verführe einen zu Sprüngen, überallhin von überallher und mache auch das Dunkelste hell, schlicht dadurch, daß er es denke. Literaturwissenschaftlich wird der Aphorismus als ein Gedanke in Prosaform beschrieben, der auf eine Pointe hinzielt und zum Nachdenken anregt. Oft begleitet von rhetorischen und/oder literarischen Stilmitteln wie dem Paradoxon, der Anspielung, Antithese oder Metapher birgt der Aphorismus eine (überraschende) Erkenntnis. Aphorismen sind bewußt kurz gehalten, sie erschöpfen sich meist in nur einem nichtfiktionalen Satz, der sich durch Unabhängigkeit von der Sprechsituation und kotextuelle Isolation auszeichnet -- Aphorismen stehen zwar in Kette, beziehen sich aber nicht aufeinander, letztlich ist die Reihenfolge der Aphorismen beliebig vertauschbar.

Obgleich sich einige der Aufzeichnungen Canettis dieser Gattung zuordnen lassen, trifft dies auf das Gros seiner Kurztexte nicht zu. Denn er läßt sich hier von keiner formalen Begrenzung beeinflussen, seine Aufzeichnungen bilden vielmehr eine bunte Sammlung verschiedenster Kurzprosa. Es finden sich Aphorismen, daneben fabuliert er über einen utopischen Raum oder eine ferne Zeit, formuliert Anklagen, Fragen, Aufforderungen, entwirft kleine Skizzen zu Erzählungen, Geschichten, Stücken und immer wieder streut er schlicht Unverständliches, Absurdes oder Fragmentarisches dazwischen:

"Das Meer ist nie einsam."
"Manchmal läßt man das Beste von sich auf der Straße liegen, wie eine alte Zeitung, und ein anderer kommt vorbei, merkt, daß es eine Zeitung in einer anderen Sprache ist, die er nicht lesen kann, und tritt zornig darauf, um sie schmutziger zu machen."
"Für die Bläue des Pfauenhalses gab er den Mond. Er landete auf der Bläue des Pfauenhalses."
"Arno Schmidt gestorben. Aus Eigensinn?"
"Jetzt wäre die Zeit, Dante, für ein genaues Weltgericht."
"Seine Seinseligkeiten."
"Dort gehen die Leute nie allein, nur in Gruppen von vier bis acht, ihre Haare unentwirrbar ineinander verflochten."
"Der Anfang war nicht schlecht. Aber dann wurde er 100."
"Ein Chinese stiehlt in Cambridge einen Ödipus-Komplex und führt ihn dann verstohlen in China ein."

Zuweilen steht ein Dialog neben einem unvollständigen Satz oder einem Zitat, ein einzelnes Wort folgt auf einen längeren Gedankengang. Bunt gewürfelt ist die Perspektivierung der verschiedenen Abschnitte: Ich -- Du -- Er -- Sie -- Es -- Man -- Einer. Oder auch: Die Dichter -- Ein Vater -- Ein Mädchen -- Sisyphus -- Der Mensch -- B. Auch die für Canetti typischen Charakterminiaturen, von denen er 50 etwa zweiseitige Texte gebündelt im Ohrenzeugen veröffentlicht hat, durchziehen die Aufzeichnungen, ebenso wie Kurzcharakteristika.

"Der Schweigschwätzer war da. Er hat sich einen neuen Gott geholt und bringt ihn mit. Es ist aber eine Göttin. Er leiht sie rundum aus."
"Ein Denker. Es beginnt damit, daß er alles beiseite schiebt. Was immer ihm gesagt wird, stimmt nicht.
Jemand stellt sich vor und nennt seinen Namen. 'Wie sagen Sie?' -- 'Soundso.' -- 'Was wollen Sie damit sagen?' -- 'Ich heiße so.' -- 'Aber was heißt das?'
Jemand sagt woher er kommt. 'Das bedeutet nichts.' -- 'Ich bin dort geboren.' -- 'Woher wissen Sie das?' -- 'Ich hab's immer gewußt.' -- 'Waren Sie dabei?' -- 'Ich muß wohl dabei gewesen sein!' -- 'Erinnern Sie sich daran?' -- 'Nein.' -- 'Woher wissen Sie dann, daß es wahr ist?'
Jemand nennt seinen Vater. 'Wo lebt er?' -- 'Er ist tot.' -- 'Dann gibt's ihn nicht.' -- 'Aber er war doch mein Vater.' -- 'Die Toten gibt's nicht, also gibt's Ihren Vater nicht, also ist er nicht Ihr Vater.'
Jemand erzählt, wo er gestern war. 'Wieso wissen Sie das?' -- 'Ich war dort.' -- 'Wann?' -- 'Gestern.' -- 'Gestern ist nicht mehr. Es gibt nicht gestern. Also waren Sie nirgends.'"

Canetti schreibt zum Teil mehrseitige Abhandlungen über bestimmte Werke der Literatur oder kulturelle Persönlichkeiten, Zitate, tagebuchartige persönliche Vermerke und Kommentare. Allgemein sind die Aufzeichnungen charakterisiert durch eine große thematische Bandbreite -- von Reflexionen über das Zeitgeschehen bis hin zu philosophischen und religiösen Fragen.

"Die Gespräche des Konfuzius sind das früheste, komplette geistige Porträt eines Menschen; es ist erstaunlich, wie viel man in 500 Aufzeichnungen geben kann; wie voll und rund einer damit wird; wie faßbar, und wie unfaßbar ganz, so als wären die Lücken nur noch wohlbewußte Falten von Gewändern."
"'Ich, keine Religion? Ich habe deren siebzehn, mindestens!'
Gérard de Nerval, eines Tages bei Victor Hugo, als man ihn beschuldigte, keine Religion zu haben."
"Heute sah ich G. auf dem Perron des Bahnhofs von Grenoble. Ich war im fahrenden Zug, er stand und winkte, er wurde immer kleiner. Er war es, ich erkannte ihn, ist es ein Wunder, daß er, der Filme so sehr liebte, sich in einen eingeschlichen hat? und gerade in Grenoble, wohin ich kam, ihn zu besuchen?"
"Zu den lästigen Beschwichtigungsworten des englischen Lebens gehört 'Relax!' ich stelle mir dabei jemand vor, der zu Shakespeare 'Relax' sagt."
"Auszug der Dohlen von sämtlichen Kirchtürmen. -- Die Cholera in München, Juli 1854."

Neben phantastischen Entwürfen stehen Tier-Betrachtungen, und durchgehend lassen sich außerdem immer wieder die erwähnten Motive finden, die für Canettis Weltauffassung bestimmend sind: Masse, Macht, Mythos, Dichter, Literatur, Menschheit und einzelner, Tod, Verwandlung.

"Es genügt nicht zu sagen, daß alles Tod ist.
Natürlich ist alles Tod.
Aber man muß auch sagen, daß man, aussichtslos, wie es scheint, sich mit Härte und Erbitterung dagegen stellt, daß alles Tod ist. Der Tod soll -- ohne billigen Betrug -- sein Ansehen verlieren. Der Tod ist falsch. Es ist unser Sinn, ihn falsch zu finden.
Wer aus Ehrlichkeit nur davon handelt, daß es nichts als Tod gibt, stärkt ihn."
"Du hast in den Mythen der Völker gelebt, das ist der wahre Glanz, an welchen, der höher wäre, hättest du rühren können?"
"Jede vereinzelte Erkenntnis ist kostbar, solange sie sich abgesondert hält. Sie löst sich zu nichts auf, wenn sie in den Darm des Systems gerät."
"Ich las von den Sprüngen des Gazellenkindes in jener Oase, ein Menschenkind, das vier Meter weit sprang, wie die Gazellen, zu denen es gehörte, und fragte mich, während ich las und frage mich seither: ist es das, was ich mit Verwandlung gemeint habe?"

Ein so allgemein gefaßter Begriff wie der der 'Aufzeichnung' erweist sich als von Canetti treffend gewählt. Canettis Kurztexte sind derart verschieden, daß sie -- so paradox das klingen mag -- gerade durch ihre wildwüchsige Vielfalt verbunden sind.

Zugleich mit der Wildwüchsigkeit existiert ein weiteres verbindendes Element dieser Kurztexte: Sie sind Ego-Dokumente des Dichters. Jede der Aufzeichnungen steht in direkter Relation zu Canetti, stellt seinen Lebensumstand, die jeweilige Verfasstheit oder eine Gedankeneinheit dar. Auch die weniger persönlich wirkenden Aufzeichnungen verweisen -- metonymisch -- auf ihren Autor zurück: 'Canetti lesen' gewinnt hier eine doppelt 'wahre' Bedeutung: Nicht nur der Autor steht stellvertretend für das Werk, es funktioniert auch andersherum, die Aufzeichnungen spiegeln unzählige Facetten des Dichters wider. Die Gesamtheit der Aufzeichnungen kann mit den Fotomontagen verglichen werden, bei denen das Porträt einer Person aus unzähligen einzelnen Momentaufnahmen gebildet wird: das Ergebnis wirkt auf den ersten Blick etwas verschwommen, enthält aber ein Mehr an Information, das eine Einzelaufnahme nicht leisten könnte. Das so entstandene Bild ist von anderer Art als die klassische Autobiographie, die eine geschlossene Erzählung bildet, die durch Anfang, Mitte und Ende genau umrissen ist; die Kurznotate gleichen eher Gedankenfetzen, die sich der Dichter 'von der Seele schreibt'. Canetti selbst berichtet, wie ihm die Aufzeichnungen während seiner Arbeit an Masse und Macht zum rettenden Ventil werden, ohne das er ersticken würde, zu einer unentbehrlichen täglichen Übung. Sie bewahren ihn, den Dichter der Verwandlung, vor der fatalen Erstarrung. Die Aufzeichnungen bestechen Canetti durch ihre Freiheit, Spontaneität, durch ihre Zweckfreiheit, und auch, weil er ihnen gegenüber verantwortungslos sein kann, sie nie wieder liest, nichts an ihnen ändert, weil sie für sich stehen können.

"Ein Mensch", so Canetti, "und das ist sein größtes Glück, ist vielfältig, tausendfältig, und er kann nur eine gewisse Zeit so leben, als wäre er's nicht." Mit den Aufzeichnungen hat Canetti einen Weg gefunden, diese Vielfalt zu bewahren und auszuleben: Hier kann er all seinen verschiedenen Anlagen nachgehen, muß sich nicht von einem bestimmten poetischen Anspruch leiten lassen. Er kann wahllos verzeichnen, was ihm durch den Kopf geht, kurz, rasch, blitzartig, ungeprüft, ungemeistert, uneitel und absichtslos. Der Dichter wird zum willigen Spielball seiner Einfälle, er verzeichnet Widersprüchliches, das er nie in sich vermutet hätte, das gegen seine Geschichte, seine Überzeugungen, seine Gewohnheiten steht, neben Vertrautem, Persönlichem und Allgemeinem.

Die Aufzeichnungen bilden den für Canetti notwendigen Kontrapunkt zur offiziellen Autobiographie. Er findet in ihnen ein alternatives autobiographisches Konzept, das sich als ausgesprochen überlebensfähig und dauerhaft erweist. Wo die klassische und kanonische Autobiographie bewußt inszeniert ist und die Dichterwerdung Canettis beispielhaft vorführt, einem klaren Zweck dient und der Kohärenz verpflichtet ist, um ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern, da zeigen sich die Aufzeichnungen ganz anders, nämlich: wildwüchsig. So kann Canetti abdecken, was ihm die offizielle Autobiographie per se verweigern muß, da sich das Konzept der Verwandlung und ihre geschlossene Form wie auch die teleologische Ausrichtung widersprechen. Die guten Dichter führen die Spuren der Verwandlung vor, meint Canetti, und mittels der Aufzeichnungen folgt er seinem eigenen Anspruch vorbildlich.

Für den Leser bietet sich die Möglichkeit, sich der Person Canetti über zwei ganz unterschiedliche Textformen zu nähern: In der autobiographischen Trilogie Canettis wird er den Dichter inmitten der Menschen seines Umfelds wiederfinden können, er wird seine Lebensstationen kennenlernen und von den korrespondierenden Zeitgeschehnissen erfahren -- es ist ein anschaulicher und ausführlicher Bericht einer einzigartigen Lebensgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Aufzeichnungen jedoch liefern ein völlig anderes Bild. Die Gedankennotizen Canettis wirken weitaus weniger autobiographisch -- sie sind teils unverständlich, können aufgrund mangelnden Wissens und fehlendem Kontext auch nur selten auf eine aktuelle Lebenssituation Canettis bezogen werden oder sind gar von rein sachlichem Charakter. Und doch wird dem Leser ein nahezu unverhüllter und unmittelbarer Einblick in die verschiedensten Facetten von Canettis Leben, Denken und Werk gewährt -- hier wird der Dichter tatsächlich persönlich greifbar, auch wenn er sich gleichzeitig dem rationalen Verständnis entzieht. Daß er selbst diese autobiographische Darstellungsweise als ausgesprochen authentisch und 'wirksam' einschätzt, darauf deutet Canetti bereits im Vorwort zu seinen Aufzeichnungen hin:

"Viele haben versucht, ihr Leben in seinem geistigen Zusammenhang zu fassen, und die, denen es gelungen ist, werden schwerlich veralten. Ich würde mir wünschen, daß manche es auch in seinen Sprüngen verzeichnen. Es scheint, daß die Sprünge eher allen zugehören, jeder kann sich ohne Umstände holen, was ihn trifft. Der Verlust einer vordergründigen Einheitlichkeit, bei einem solchen Unternehmen unvermeidbar, ist kaum zu bedauern, denn die eigentliche Einheit eines Lebens ist eine geheime, und sie ist dort am wirksamsten, wo sie sich unabsichtlich verbirgt."

 

autoreninfo 
Karoline Hornik, geboren 1978, Studium der Neueren deutschen Literatur, Religionswissenschaft und Informatik in München. Seit 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sprach- und Literaturwissenschaft der LMU. Promotionsprojekt Gustav Schwab. Stipendiatin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Veröffentlichungen: Mythoman und Menschenfresser. Zum Mythos in Elias Canettis Dichterbild (Chironeia 1) Bielefeld: Aisthesis 2006. -- "Vielleicht war er gar nicht dort..." Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch als das 'Andere' seiner Autobiographie. In: Sven Hanuschek (Hrsg.): Der Zukunftsfette. Neue Beiträge zum Werk Elias Canettis. (Beihefte zum Orbis Linguarum 54) Wroclaw - Dresden: Oficyna Wydawnicza ATUT. Neisse 2007, S. 113-136.

 

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