parapluie elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen -> übersicht | archiv | suche
no. 23: bewußtseinserweiterungen -> ausgegraben
 

ausgegraben

Die Welt auf der Bananenschale -- B.S. Johnson

von Barbara Damm

"Ein schwimmender Eisberg" -- welch treffende Kritikerbezeichnung für den 1933 in Hammersmith geborenen Schriftsteller Bryan Stanley Johnson, die auf dessen potentiell korpulente Erscheinung verweisen könnte, wenn sie nicht auf den respektvollen Abstand abzielte, mit der dieser 'Eisberg' Johnson umschifft wurde. Als Innovator des Romans war er im englischen Literaturozean der 1960er Jahre zur falschen Zeit am falschen Ort.

Man schien in jener Epoche die revolutionären Wege, die seine Vorbilder Laurence Sterne, James Joyce, T.S. Eliot und Virginia Woolf einst beschritten, zu ignorieren und schrieb, bzw. verschlang stattdessen mit Vorliebe neo-Dickens'sche Romane. "Laßt die Toten mit den Toten leben", bespöttelte B.S. Johnson die akademische Vorliebe seiner Zeitgenossen für "tote Literatur". Einige Jahre zählte er zu den bedeutendsten Nachwuchsautoren, Samuel Beckett kam gern auf einen Drink zu Besuch und plauderte, für den Roman Travelling People erhielt er 1962 den Gregory-Award, für Schleppnetz 1967 den Somerset Maugham-Award sowie diverse Stipendien. Und dennoch taten ihn viele Rezensenten als Merkwürdigkeit, als oddity ab, warfen ihm Spielerei oder gar die Zerstörung des heißgeliebten realistischen Romans vor.

Kurz vor seinem Selbstmord im Jahre 1973 erhielt Johnson von Anthony Burgess den literarischen Ritterschlag: "Er ist der einzige britische Autor, der den Mut hat, die Romanform neu zu überdenken, ihre Möglichkeiten zu erweitern, und der trotzdem in einer erkennbaren Romantradition schreibt." Genützt hat Johnson dies Lob nicht viel - bis heute ist nur die Spitze seines Werks entdeckt. In England, so versichern Kenner, sind seine Bücher nicht mehr zu haben. In Deutschland stehen die sieben Bände der hübsch gebundenen Werkausgabe in staubigen Universitätsregalen, und schon beim ersten Durchblättern denkt man: Zu Unrecht vergessen! Auf jeden Fall zu Unrecht vergessen!

"Das Leben erzählt keine Geschichten. Das Leben ist chaotisch, im Fluß, willkürlich; es läßt Myriaden von Fäden einfach unverknüpft liegen, unordentlich. Schriftsteller können dem Leben eine Geschichte nur durch strenge, scharfe Selektion abgewinnen, und das bedeutet zwangsläufig Verfälschung. Geschichten erzählen heißt eigentlich Lügen erzählen",

notierte Johnson und entschied sich dafür, seine Wahrheit neben Gedichten, Kurzprosa und Drehbüchern in der Form von Romanen zu schreiben: Texte, die fluchend auf die eigene Gemachtheit und auf die Biographie des Autors verweisen oder bisweilen mit optischen Reizen verwirren: Unterschiedliche Typographie, geschwärzte, ja halb ausgeschnittene Seiten als 'Guckloch' in die Zukunft des Romanhelden. Gegenwart, so meinte Johnson, ließe sich nicht mehr mit der Tinte des 19. Jahrhunderts erfassen. Er ahmte Charles Dickens, Emile Zola oder Victor Hugo nach, um sie zu entlarven, denn er hatte längst die Freiheit der Literatur entdeckt.

In dem 1973 entstandenen Roman Christie Malrys doppelte Buchführung finden sich zum Beispiel die für den Roman des 18. und 19. Jahrhunderts so typischen Kapitelüberschriften, die beinahe das gesamte Kapitel zusammenfassen. "Christie fängt an, ernst zu machen; und (allen Modelleisenbahnliebhabern zur Freude) eine Schilderung des Kleinen Vermifugums" heißt ein solches Kapitel; ein anderes: "Worin Christie und ich dazu übergehen, alles auszudiskutieren; und das Sie vielleicht lieber übergehen möchten". Die Persiflage treibt er jedoch mit Kapitel XX auf die Spitze, das da heißt "Nicht das längste Kapitel in diesem Roman". Das Kapitel selbst besteht dann aus lediglich vier kurzen Sätzen und ist optisch nicht viel länger als die Überschrift. Christie Malry ist ein selbstbezügliches, schalkisches Meisterwerk der Literatur als Literatur. Der junge Christie Malry wendet das System der doppelten Buchführung auf sein privates Leben an: Er legt die Gesellschaft herein, wo sie ihn hereinlegt, um die Konten auszugleichen. Für jedes Unrecht, das er erfährt, rächt er sich mit harmlosen Kratzern an Fassaden bis hin zu blutigen Attentaten. Der Autor beginnt nicht nur einen Dialog mit seinem Leser, sondern besucht seine Figur. Man einigt sich darauf, daß der Roman Aktion, später eine Wendung brauche, da die Handlung sich sonst endlos hinziehe. Christie Malrys Mutter befindet, daß sie lange genug gelebt habe, und nachdem sie sich versichert hat, daß noch genug Konservenreserven für den Sohn im Haus sind, verläßt sie das Buch in der Hoffnung, daß ihr Tod Christie nicht den Appetit verdirbt.

Albert Angelo (1964) könnte beinahe als Bildungsroman durchgehen, wenn Johnson nicht Techniken eingesetzt hätte, um den Leser immer wieder aus der Illusion der Erzählwelt zu werfen. Hier wird eine Visitenkarte, die der Protagonist findet, abgebildet, dort Schüleraufsätze und Briefe mit all ihren Schreibfehlern und widersprüchlichen Urteilen über ihren Lehrer wiedergegeben. Die Veranschaulichung der Simultanität von Gesprochenem und Gedachtem während einer Schulstunde erinnert an ein Drehbuch: Die Gedanken des Lehrers stehen in Kursivschrift auf der rechten und seine verbalen Äußerungen sowie die seiner Schüler in gerader Schrift auf der linken Seitenhälfte. Willkürlich vermengt sich in Die Unglücksraben (1969) Vergangenheit und Gegenwart. Ein Höhepunkt Johnson'scher Dekonstruktion: Er vermeidet es, dem Material eine feste Ordnung aufzuzwingen. So sind die Seiten nur zu einzelnen Signaturen zusammengefasst und lose in eine Schachtel gepackt. Der Leser bestimmt durch Mischen seine eigenen Reihenfolge -- eine greifbare Metapher für die assoziativen Erfahrungen des Protagonisten, eines Sportreporters; und auch für die Willkür und das Wesen von Krebs, das diesem den Tod bringen soll.

Lebensabend (1971) zeigt die Welt aus vielen Perspektiven, treibt dieselbe Stunde durch neun Bewußtseinsfilter und spielt in einer Hölle -- im Altersheim. Die Stimmen der 74- bis 94jährigen erklingen jeweils exakt 21 Druckseiten, um ein und denselben Abend, den unterschiedlichen Stadien körperlicher oder geistiger Hinfälligkeit gemäß, zu 'reflektieren'. In allen Darstellungen gibt jede Zeile auf jeder Seite denselben Augenblick wieder. Da jongliert zum Beispiel der 78jährige Charlie Edwards (mit klinischem Befund Bronchitis, Kontrakturen und Schrumpfmagen im Anfangsstadium vergleichsweise gut dran) mit dem Wort Kreppapier und stellt an anderer Stelle beruhigt fest "Ich habe Lammkotelett immer gemocht. Sogar in den letzten Tagen hab ich einmal pro Woche eins gegessen." Seiner Mitinsassin, der 94jährigen Rosetta Stanton (mit Demenz und Hemiplegie mit negativem Babinski-Reflex) bleiben nicht einmal mehr zusammenhängende Gedankenfetzen: "Teilwng, eginol, nesaf, Disglair, addurno", sinniert sie. Jedes Bewußtsein eine andere Typographie, große Wortabstände machen Dämmerszustände sichtbar, leere Seiten seniles weißes Rauschen. Ein an Foucault erinnernder, ausgrenzender Diskurs um Normalität und Anomalität, der in Desillusionierung endet: Alle Stimmen, erklärt der Autor, erklängen nur in seinem Kopf.

Laß die alte Dame anständig (1975 posthum veröffentlicht) fordert den Leser mit montierten Passagen auf, seine eigene Leseweise, die Struktur und Erzählstränge erst zu finden. Geplant hatte B.S. Johnson eine ehrgeizige Trilogie, in der er den Krebstod seiner Mutter und den Niedergang Großbritanniens der vergangenen 40 Jahre als unausweichliche Zerfallsprozesse aufarbeiten wollte. Die beiden folgenden Romane sollten beerdigen, obwohl und du ein naher Angehöriger bist heißen. Zusammen hätten die drei Buchrücken den vollständigen Titel ergeben: "Laß die alte Dame anständig beerdigen, obwohl du ein naher Angehöriger bist." B.S. Johnson notierte kurz vor seinem Tod einen Kommentar zu dieser Trilogie, der heute zutreffender und bitterer denn je erscheint: "Es ist (...) unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Sprache ein anständiges Begräbnis kriegt."

 

Ich schreibe nicht für Idioten

Johnsons Romane haben keine Helden. Albert Angelo, ein dicklicher Aushilfslehrer, kämpft mit kleinen Widrigkeiten und Peinlichkeiten seines Alltags und ist zu allem Übel zu träge, um zu versuchen, in seinem eigentlichen (Traum-)Beruf als Architekt Fuß zu fassen. Stattdessen zieht er mit seinem Kumpel durch Kneipen rund um den Londoner Percy Circus oder tagträumt, vorzugsweise während des Unterrichts, von seiner verflossenen Liebe Jenny, die ihn für einen körperlich behinderten Liebhaber sitzenließ. Alberts Ersatzreligion Architektur erleichtert nichts und die Klassen, in denen er mal frustriert, mal ambitioniert unterrichtet, bleiben trotz seiner Bemühungen von geist- und trostlosen Wesen bevölkert, die ihm seinen Füller und andere liebgewonnene Gegenstände klauen. Wie ein kleines Malheur vollzieht sich ebenfalls Albert Angelos Tod -- erschlagen von einem seiner Schüler -- leise, ohne viel zu spritzen.

Auch in B.S. Johnsons Leben schien sich Mißgeschick an Mißgeschick zu reihen. Was wie erfunden klingt, hat sich tatsächlich begeben: Als ein Exemplar des besagten durchlöcherten Romans Albert Angelo australischen Zollbeamten in die Hände kam, beschlagnahmten diese kurzerhand das Objekt des Anstoßes und beharrten auf der Herausgabe der vermeintlich pornographischen Textausschnitte. Obwohl der Sprachrhythmus von Schleppnetz dem Rhythmus der See angepaßt und lyrisch verdichtet ist, wurde der Roman pragmatisch mißverstanden und landete in der Angelsportabteilung.

"Diese Leute, die mich nur kennen, weil im Albert Löcher sind, können nur die Rezensionen und nicht das Buch gelesen haben. Zum Teufel mit ihnen: sie können nichtmals das Buch durchgeblättert haben, sonst müßte doch die Sprache irgendeinen Eindruck auf sie gemacht haben."

Ganz unbegreiflich schien Johnson die Tatsache, daß er sich als bester Jungautor bewiesen hatte und dennoch weder von renommierten noch von nicht-renommierten Zeitungen und Magazinen jemals Aufträge erhielt. Obwohl er als Filmemacher für You're Human like the Rest of Them den Grand Prix in Tours und Melbourne gewonnen hatte, erwartete ihn nach Abschluß eines jeden Buches die Armut oder die aufreibende Arbeit als Aushilfslehrer. 1971 war die Situation so desolat, daß er Samuel Beckett um Erlaubnis bat, dessen Briefe an ihn bei Sotheby's zu versteigern. Beckett willigte ein und sandte zudem einen Scheck über 100 Pfund. "Die Dichtung ist das einzige, was mich weiteres Leid ertragen läßt. Für die Dichtung ist jedes Leid erträglich." Johnson schrieb, um den Schmerz zu bannen, dem er im Jahre 1973 nicht mehr standhielt.

Man hüte sich davor, das Werk dieses Autors in die Schublade postmoderner Metafiktion einzuordnen. Der Textarchitekt Johnson entlockte dem unpräzisen Instrument Sprache höchste Präzision und hat sich nie einem Formalismus untergeordnet -- die Form war nicht das Ziel, sondern das Ergebnis. Er wollte Wahrheit gestalten, das Unterbewußte erforschen, Chaos abbilden -- ein Spieler mit ernster Absicht. Er suchte in seinem Werk nach Regeln, nach Sinn und Würde. Johnson stellt seine Figuren nicht in den Dienst der affirmativen Literatur. Er bricht narrative Formen auf, stört die konventionellen Lesegewohnheiten und verweigert die Bestätigung der bequemen Ansicht, daß alles in der Welt gut und richtig sei. In seinem Ringen um neue Formen und Wahrheiten geht Johnson tiefer als die sozialkritischen aber konventionellen Werke manch eines Kollegen.

"Verglichen mit den Autoren von Abenteuer- und Liebesromanen, von Thrillern und den irren, aber sogenannten normalen Romanen gibt es nicht viele, die so schreiben, als käme es darauf an, als wollten sie es wirklich, als wollten sie wirklich, daß es darauf ankommt",

notierte er beinahe dogmatisch.

B.S. Johnsons Werk zeigt vor allem einen großen Satiriker -- unwiderstehlich komisch, böse. Immer wieder unterbricht er seine 'Geschichten' mit Sätzen wie: "Ich frage mich: Liest das hier überhaupt noch einer?" Er spekuliert in Dies gilt als Fiktion seitenlang über verwandtschaftliche Beziehungen und darüber, daß

"ein Mann nicht seine Mutter heiraten darf; seine Tochter; die Mutter des Vaters; die Mutter der Mutter; die Mutter der Frau; die Tochter der Frau; die Frau des Vaters; die Frau des Vaters der Mutter; die Mutter des Vaters der Frau; die Mutter der Mutter der Frau; die Tochter des Sohnes der Frau; die Tochter der Tochter der Frau; die Frau des Sohns des Sohns; die Frau des Sohnes, die ..."

-- und so weiter und so weiter. "Warum soll ich Ihnen das Leben denn in Ordnung bringen, erklären? Wollen Sie von mir eine Erklärung? Verlangen Sie von Ihrem Buchmacher eine Erklärung? Madame, ich bin ein Profi!"

Von Umfassend aushäusige Gedanken (1960) über Mit Ihren Memoiren sind Sie reichlich früh dran (1967) bis hin zu Hinweise für die Benutzung von Frauen oder: Hier -- da hat man Sie reingelegt (1970) und Jeder Mensch kennt einen Toten (1972): B.S. Johnson macht Lust auf mehr. Man möchte einfach wissen, "worin eine Ziege Beistand erfährt", ist neugierig auf ein als "mißlungen" überschriebenes Kapitel und stolpert erfreut über unvermittelte Zitate von Brecht oder aus dem Handbuch des Bogenschießens im 20. Jahrhundert. Für Johnson war jeder Roman ein Neuanfang, eine neue Wahrheit. Kein Werk gleicht dem anderen. Oftmals ist der Leser aufgefordert, Handlung oder Sinn mitzukonstruieren und wird hier und da aufs Glatteis geführt. Immer aber hallt in Johnsons illusionsbrechender Technik sein Eigensinn, sein Humor und sein Wortwitz nach.

Abschließend hat noch einmal Anthony Burgess das Wort: "Ich schätze B.S. Johnson ungemein, ich habe alles von ihm gelesen. [...] Die Zukunft des Romans hängt von Leuten wie B.S. Johnson ab." Die Zukunft des B.S. Johnson sollte längst angebrochen sein; das Werk aber ist im kulturellen Bewußtsein verschütt gegangen. -- Ein Rätsel!

 

Schön gebunden, leider vergriffen, aber in mancher Universitätsbibliothek sicher noch erhältlich: B.S. Johnson. Werkausgabe in sieben Bänden. Herausgegeben von Michael Walter und Hans Christian Rohr. München: Franz Schneekluth 1989.

Im Buchhandel bis vor kurzem noch zu haben: Albert Angelo. Frankfurt am Main: Fischer 2003. und Christie Malrys doppelte Buchführung. Berlin: Argon 2002.

 

autoreninfo 
Barbara Damm studierte Anglistik, Komparatistik und Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Magisterarbeit mit filmwissenschaftlichem Schwerpunkt. Seit 1994 Theaterarbeit an verschiedenen öffentlichen Bühnen und in der freien Szene. Seit August 2005 Festengagement in der Schauspieldramaturgie des Theater Bonn.

[ druckbares: HTML-Datei (16 kBytes) | PDF-Datei (53 kBytes) ]

copyright © 1997-2011 parapluie & die autorinnen und autoren. alle rechte vorbehalten.
issn 1439-1163, impressum. url: http://parapluie.de/archiv/bewusstsein/ausgegraben/