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no. 23: bewußtseinserweiterungen
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Neue religiöse SucheEmanzipation der Psyche und das Wagnis der Bewußtseinserweiterung |
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von Eckart R. Straube |
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Die etablierten christlichen Kirchen haben schon seit längerem mit den Austrittswellen ihrer Mitglieder zu kämpfen. Daneben siedelt sich eine Vielfalt religiöser und religionsnaher Gruppierungen an, welche mit dem kirchlich vermittelten Glaubensbekenntnis nur noch wenig gemein haben, aber keinesfalls atheistisch sind. Wie läßt sich diese Entwicklung des Christentums seit seiner Einführung als monotheistische Religion bewerten? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen Psyche und religiöser Erfahrung im Verlauf dieser Geschichte? |
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Wir erleben gegenwärtig eine Zeit dramatischer religiöser Umbrüche. Noch in den 1960er Jahren war Kirchenferne auf eine Minderheit beschränkt. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. Nur noch 13 % der Bevölkerung sind gläubige Christen, wie die Forschungsgruppe Weltanschauungen kürzlich feststellte. Dabei sind die innerlich aus der Kirche emigrierten keineswegs in das Lager der überzeugten Atheisten abgewandert -- diese machen laut Meinungsumfragen weniger als 10% der Bevölkerung aus. Zwischen den Polen 'überzeugte Christen' und 'überzeugte Atheisten' siedelt sich eine Vielfalt religiöser und religionsnaher Gruppierungen an, welche mit dem kirchlich vermittelten Glaubensbekenntnis nur noch wenig gemein haben. Ein schillerndes Amalgam, das sich aus einem weltweiten weltanschaulich-religiösen Angebot speist, vom Schamanismus bis zum Hinduismus und neuen spirituellen Lehren des New Age. |
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Wie läßt sich diese Entwicklung bewerten? Lange Zeit schien es so, als habe sich der Mensch nach dem Vorbild der emanzipatorischen Ideen der Aufklärung mit ihrem Primat der eigenverantwortlichen Vernunft auf den Weg in die Moderne gemacht. Dort ist er jedoch als säkularisiertes Wesen bislang nicht vollständig angekommen. Ist der Mensch folglich auf irgendeine andere Art und Weise immer noch 'unausrottbar' religiös, wie eine alte Grundannahme der Religionswissenschaften (homo naturaliter religiosus) besagt? Diese These wurde von Tertullian im 4. Jahrhundert n. Chr. in die Welt gesetzt. Allerdings nahm er dabei keine neutrale Position ein, sondern stand als Christ unter dem Eindruck der damaligen überwältigenden Missionserfolge seiner eigenen Kirche. Entsprechend meinte er, daß der Mensch aufgrund seiner Grundnatur zum Christentum neige. |
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Der immerwährende Kampf der Kirche gegen die 'Ausgeburten' der Psyche | ||||
Die Frage, die sich hinsichtlich der Erkundung der Psyche des Menschen hier stellt: Ist Religion -- wenn man heute auch nicht mehr mit Fug und Recht behaupten kann, daß es das Christentum sei - tatsächlich doch in irgendeiner Form in der Psyche des Menschen angelegt? Wenden wir uns zunächst der Geschichte des Christentums zu. Auffällig ist, daß die Einführung des Christentums, trotz seiner Erfolge, ganz offensichtlich für die Psyche des Menschen eine Herausforderung darstellte. Ein radikaler Bruch mit dem überall in der damaligen Welt verbreiteten Polytheismus fand statt. Dies veranlaßte John Stuart Mill später zu der treffenden Bemerkung, daß der Polytheismus dem Menschen näher sei als die monotheistischen Vorschriften des judaisch-christlichen Glaubens. Die Schwierigkeit lag dabei nicht nur in der Idee eines einzigen Gottes als vielmehr in dessen Ferne, d.h. in dem durch den Ritus nur schwer erreichbaren einzigen Ansprechpartner. Die Aussendung seines Sohnes -- die christliche Wende -- bedeutete zwar auch aus religionspsychologischer Sicht ein 'Entgegenkommen', brachte letztlich jedoch auch nicht die gewünschte Verfügbarkeit des Numinosen. Eine neue Form von Polytheismus mußte deshalb her, und so entstanden schon bald nach der Einführung des Christentums spontane, sich um lokale Heilige gruppierende Verehrerzirkel. Über einen Heilsbringer, welcher in der Nähe der allmächtigen Transzendenz angesiedelt war, wurde die Distanz somit überwindbar. Alle Versuche, das teilweise äußerst lebendige Heiligenwesen einzudämmen, waren nur von beschränktem Erfolg gekrönt. Einzig die protestantische Kirche schaffte den Sprung in einen fast reinen Monotheismus, blieb zahlenmäßig jedoch unterlegen (und ist nun bezeichnenderweise am stärksten von den Austrittswellen betroffen.) |
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'Nähe' ist hier unter psychologischem Gesichtspunkt das entscheidende Stichwort. Denn Nähe erhöht für den Gläubigen das Gefühl des eigenen Zugangs zur numinosen Macht, des Rückgewinns der Kontrolle. Da Schicksalsschläge mit der Unergründbarkeit des Ratschlußes des christlichen Gottes erklärt werden, ist die Suche nach Möglichkeiten der zumindest teilweisen Einflußnahme auf das Geschehen naheliegend. Viele Wege wurden und werden hier erprobt. |
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Gewißheit der Nähe zum Überirdischen stellt sich insbesondere dann ein, wenn das Heilige sich dem Suchenden selbst offenbart -- sei es nun im Traum oder in sonstigen Bildern, welche Zustände veränderten Bewußtseins dem Gläubigen darbieten. Die Geschichte jeder Religion, so auch die der christlich-judaischen, ist immer auch eine Geschichte von Visionen. Im letzteren Fall ist es die Geschichte einer strengen Lehre auf der Basis akzeptierter und verdammter Erscheinungen. Von den Religionsgründern selbst werden Kontaktaufnahmen in Stadien veränderten Bewußtseins berichtet. Von Jesus wie auch Moses werden in den heiligen Schriften zahlreiche halluzinationsartige Erfahrungen beschrieben: ein brennender Dornbusch, aus dem die Stimme Gottes erklingt, die Stimme des Bösen in der Wüste etc. Als Wortreligion stützt sich die christlich-judaische Religion auf ein heiliges Buch, Gesetze, Regelsysteme und eben auch auf die Ur-Visonen ihrer Religionsstifter. Dies bedeutete zugleich, daß alle nachfolgenden, in der Versenkung der Meditation oder anderen Formen der Bewußtseinserweiterung gewonnenen 'Bilder des Höheren' zu einer potentiellen Gefahr für die Reinheit der Lehre wurden. |
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Meister Eckhart beispielsweise mußte sich wiederholt vor kirchlichen Kongregationen verantworten, denn seine in der Meditation gewonnene Einsicht der Verschmelzung des Menschen mit Gott bzw. seine neuartige Interpretation dieser Erfahrung ging den kirchlichen Behörden zu weit. Die unio mystica war zwar grundsätzlich Element der christlichen Religion, aber eben nur innerhalb eines starren Regelsystems. Man könne nicht zugleich den Kelch Christi und den Kelch der Dämonen trinken, wetterte bereits Hieronymus. Aus demselben Grund bezweifelte er auch den Wahrheitsgehalt von Traumbildern. Auf Skepsis ihrer klerikalen Umgebung traf als weiteres Beispiel auch die Äbtissin Hildegard von Bingen mit ihren Visionen. Da sie aber die von ihr gesehenen Lichtblitze und Wolkenbilder stets als christliche Botschaften deutete, konnte sie sich schließlich doch behaupten. Hätte Hildegard den halluzinationsartigen Bildern eine gewagtere Deutung gegeben, wäre es ihr so ergangen, wie zehntausenden von sogenannten Hexen und Häretikern in Europa. Die lange konfliktreiche Geschichte der Kirche zeigt, daß man trotz der Androhung von Folter und Scheiterhaufen den aus dem Fundus des Unbewußten drängenden Bildern der Suchenden nur begrenzt Vorschriften machen konnte. |
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Die Emanzipation im Zeichen der aufklärerischen Vernunft greift nur partiell | ||||
Immerhin, ab dem 18. Jahrhundert -- unter dem Eindruck der sich allmählich durchsetzenden kritischen Sicht der Aufklärung -- sahen sich religiöse Abweichler zumindest nicht mehr der Bedrohung durch Folter und Tod ausgesetzt. Die Befreiung der Verstandeskräfte von der Bevormundung durch Kirche und Obrigkeit war weitreichend und löste eine emanzipatorische Welle aus. Die andere Seite der Psyche aber, die Tätigkeit der Phantasie, der Intuition, der inneren Bilder und Visionen, war damit keineswegs zum Schweigen gebracht. Das Primat der Vernunft blieb zunächst nur eine abgehobene Denkkonstruktion, welche zwar von der geistigen Oberschicht und allmählich auch vom Klerus als mögliches Korrektiv akzeptiert wurde, aber die Masse der Gläubigen nicht allzusehr beeindruckte. Diese wollten es sich nicht nehmen lassen, das Heilige, ihren überirdischen Nothelfer, weiterhin in ihrem Alltag erscheinen zu lassen. Exemplarisch für dieses bis heute beobachtbare Spannungsfeld zwischen offizieller religiöser Doktrin und volkstümlicher Praxis ist die Geschichte des Wallfahrtsortes Lourdes. Hier hatte im Jahr 1858 ein Mädchen namens Bernadette Soubrious mehrere Visionen. Die kirchlichen Behörden -- auch unter dem Eindruck der Aberglauben-Kritik der Aufklärung -- schenkten ihren Bildern, welche nach ihrer Überzeugung aus dem Bereich des Göttlichen stammten, anfänglich keinen Glauben. Bernadette geriet im Gegenteil in große Schwierigkeiten. Zu Beginn hatte sie jedoch nur berichtet, eine "weiß gekleidete Frau" in der Nähe einer Grotte gesehen zu haben. (Ihre Spielgefährtinnen sahen nichts dergleichen.) Erst allmählich setzte sich in der Bevölkerung die Überzeugung durch, daß es sich um die Gottesmutter Maria handeln müsse. Bernadette erhielt Redeverbot und wurde in ein Kloster gesteckt. Erst als der Druck aus der Bevölkerung und auch von Teilen des lokalen Klerus immer größer wurde und zahlreiche Heilwunder vom Ort des Geschehens berichtet wurden, gab die kirchliche Obrigkeit nach. |
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Nichtsdestotrotz hatten es spätere Marienerscheinungen als Folge der neuen Kirchenpolitik (und der skeptischen Grundhaltung der Aufklärung) von nun an noch schwerer. Mittlerweile läuft über Jahrhunderte -- mit wenigen Ausnahmen -- immer wieder dasselbe Muster ab: die Massen strömen zum Ort des Geschehens, die Kirche zögert, wartet ab und verbietet dann. So sahen nur wenige Jahre nach den Erscheinungen von Lourdes junge Frauen in Marpingen (Saarland) die Gottesmutter. Hier übernahmen es die weltlichen Behörden, für die Seherinnen die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt vorzuschlagen. Der Ortspfarrer wurde von der Polizei mehrmals behelligt, und die Armee sperrte das Gelände. Am selben Ort traten jedoch später mehrmals -- und als jüngstes Beispiel 1997 -- wieder Marienerscheinungen auf. Marpingen wurde trotzdem nie von der Kirche als Stätte des Wunders anerkannt. Der Spielraum -- selbst für christliche -- Visionen ist nun auch aus weltlichen Gründen sehr begrenzt. Diese sind nun dem zusätzlichen Verdacht ausgesetzt, bloße Hirngespinste und -- wie wir sahen -- eventuell sogar Fälle für die Psychiatrie zu sein. |
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Dieser gänzlich entzauberte Umgang mit der privaten Nähe zum Göttlichen hat seinen Ursprung in der Tatsache, daß das konstitutionelle Christentum eine Mischung aus durch die Obrigkeit gesteuerte und dosierte Schau des Höheren und einer alles beherrschenden Lehre ist. Eine Lehre, welche ihre Inhalte einerseits aus ihren heiligen Schriften ableitet, aber erstaunlicherweise andererseits aus der jeweils zeitgenössischen Philosophie -- hier zunächst der griechischen (was zum Beispiel Galilei zum Verhängnis wurde, da er dem aristotelisch geprägten geozentrischen Weltbild widersprach). Später dann bot die Aufklärung die Matrix für die Beurteilung der Erlebnisse des Jenseitigen. Bezeichnenderweise reagierte Immanuel Kant schroff ablehnend auf die Berichte der "Lichterlebnisse" des Naturforschers Swedenborg, welche dieser der Geisterwelt zuordnete. Dergleichen könne man nur als "Unsinn" bzw. als "Träume der Metaphysik" abtun. Zu Beginn der Moderne korrigierte dann besonders die protestantische Kirche unter dem Eindruck der Ideologie der Aufklärung ihre Mythologien: "Ich (bin) froh, dass die Aufklärung unseren Glauben geprägt hat", so die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann kürzlich in einem Interview der Zeitschrift Chrismon. Noch dezidierter wird das aufklärerische Reinheitsgebot von dem Theologen Fulbert Steffensky hochgehalten: "Protestantismus verbinde ich mit Kargheit und Nüchternheit. Dies sind hohe Qualitäten, die er hoffentlich behalten wird". Noch als Kardinal Ratzinger schreibt der jetzige Papst in seiner Einführung in das Christentum: "In dem alten pythagoreischen Wort vom Gott, der Geometrie treibt, drückt sich die Einsicht in die mathematische Struktur des Seins aus." Für beide Kirchen hat das streng rational geordnete Lehrgebäude grundsätzlich das Primat gegenüber den religiösen Empfindungen und Hoffnungen ihrer Mitglieder. Diese Debatte ist bis heute nicht abgeschlossen. Peter Sloterdijks Andeutung, daß das Vernunftgebot keinen Endpunkt der Entwicklung darstellen kann, trifft den Kern des Erkenntnisdilemmas: "Im Prozeß der Aufklärung verwickelte sich der Mensch immer tiefer in die Evidenz des Rätsels, daß da noch etwas anderes ist." |
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Der innerpsychische Konflikt zwischen Wachbewußtsein und Bildern aus dem 'Off' | ||||
Was geschieht nun auf der innerpsychischen Ebene, wenn ein Mensch Verbindung zum Numinosen aufnimmt? George Fox hörte mehrmals Stimmen aus den Off, wie er in seiner Autobiographie berichtet: |
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"... kaum war ich in die Stadt gekommen, hörte ich wieder die Stimme des Herrn. Sie sagte: 'Rufe laut 'Wehe der verdammten Stadt Lichfield!'' [...] Als ich so schreiend durch die Straßen ging, kam es mir vor, als flösse ein Blutstrom die Straßen hinab." |
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Fox hörte dann auch die Aufforderung, barfuß durch die winterkalten Strassen zu laufen. Er folgte den Befehlen, denn er war überzeugt, daß Gott zu ihm sprach und zog daraus den Schluß, daß jedem Menschen die Erleuchtung Gottes zuteil werden könne. Als Konsequenz gründete er die Quäker-Bewegung. (To quake bedeutet 'zittern' und war ursprünglich ein Spottnahme -- in Anspielung auf das Zittern während der Erfahrung der göttlichen Visionen). |
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Welche psychologischen Instanzen sind hier am Werke? Läßt man die Frage nach der religiösen Dimension außer acht, spielen hier Akte des Verstandes und Vorgänge, welche scheinbar am Rande des Wahnsinns anzusiedeln sind, zusammen. Für die sach- bzw. verstandesbezogenen Entscheidungen sind die Prüfinstanzen des Wachbewußtseins verantwortlich. Wenn wir nicht gerade Tagträumereien nachhängen, sondern unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf eine bestimmte Aufgabe richten, beachten wir nur diejenigen psychischen Vorgänge, welche zu dieser Aufgabe gehören. Dennoch laufen parallel dazu noch viele andere psychische Vorgänge ab, nur daß uns diese nicht bewußt werden. Zum Beispiel meldet sich eventuell unser Hungergefühl, und wir sind kurz abgelenkt, oder es läuft das Radio, und wir beachten für wenige Augenblicke die Katastrophenmeldung des Nachrichtensprechers. Wenn es uns gelingt, uns hauptsächlich auf unsere Aufgabe zu konzentrieren, können wir die ablenkenden Reize von außen und innen (Gedanken, Gefühle und Phantasien) weitgehend unterdrücken. Sie dringen dann nur sehr peripher in unser Wachbewußtsein ein, und wir erleben uns als 'Herren der Lage'. Wir nehmen an, selbst zu bestimmen, was wir beachten und was wir nicht beachten wollen und daß diese Entscheidung ausschließlich unserem eigenen Willen unterliegt. Das ist aber nur bedingt der Fall. Viele Entscheidungsprozesse werden durch uns nicht bewußte Prozesse angestoßen bzw. vorbereitet, wie die neuere neuropsychologische Forschung von Gerhard Roth u.a. eindrucksvoll belegt. Angesichts der nüchternen Erkenntnis, daß die uns nicht bewußten Prozesse die große Masse unserer psychischen Tätigkeit ausmachen -- über 95% -- wundert es nicht weiter, daß es uns oft schwer fällt, uns auf eine bestimmte Aufgabe voll und ganz zu konzentrieren. Im Gegenteil es erstaunt, daß wir in der Regel trotzdem einer bestimmten mentalen Spur im Wachbewußtsein folgen können und uns nicht im Wirrwarr der gleichzeitig ablaufenden sonstigen neuronalen Prozesse verirren. Erst im Schlaf bzw. beim Träumen verlieren wir uns in diesem Dickicht. |
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Für halluzinationsartige Erlebnisse bzw. religiösen Visionen eröffnet sich damit der folgende Zusammenhang: Erstens ist aufgrund der Konstruktion unseres psychischen Apparates (das Unbewußte macht die Masse unserer Seelentätigkeit aus) die Chance, daß ein 'fremdartiger' Inhalt in unser Bewußtsein dringt, recht groß. Zweitens wird ein solcher Inhalt, wenn er sich sehr plötzlich und mit großem Nachdruck im Wachbewußtsein meldet, als seltsam und beunruhigend eingestuft. Aber erst, wenn die Intensität der Botschaft aus dem Unbewußten eine ähnliche Intensität wie die einer normalen, aus der Außenwelt stammenden Wahrnehmung erreicht, wird es kritisch. So etwa wie in der Schilderung von George Fox, als er vermeintlich Blut in den Straßen sah und eine Stimme hörte. Dies kann eine Erklärung dafür sein, warum der Betroffene ein solches, sehr plötzlich und unvermittelt einschießendes Phantasie-Gebilde als nicht in der eigenen Person entstanden deutet. |
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Erfahrungen dieser Art, daß etwas nicht von mir selbst Erzeugtes und somit potentiell von außen Kommendes in das Wachbewußtsein dringt, legt für gläubige Menschen oder religiös Suchende eine religiöse Interpretation geradezu nahe. Eine scheinbar nicht in mir selbst entstandene Imagination wird nun erklärbar als Botschaft von etwas außerhalb von mir und durch die religiöse Interpretation letztlich zu einer stimmigen Erfahrung. Etwas ist in mich gefahren, ein Geist, ein Gott, oder eine Nachricht aus dem religiösen Off. Somit kann die zunächst als befremdlich empfundene interne pseudo-sensorische Erfahrung potentiell zur Botschaft eines höheren Wesens werden. Solche sogenannten 'außersinnlichen' Wahrnehmungen sind gar nicht so selten, zumindest belegen neuere Forschungsergebnisse, daß überraschend viele Menschen diese Erfahrung kennen. Nach einer repräsentativen Umfrage von Schmied-Knittel und Schetsche geben 61% der Allgemeinbevölkerung an, wenigstens einmal im Leben solche außergewöhnlichen Erfahrungen gemacht zu haben (zum Beispiel Wahrnehmungen von Wesen aus einer anderen Welt, Erscheinen von kürzlich verstorbenen Personen oder Spukphänomene). |
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Scheinwahrnehmungen weisen dabei nicht auf eine psychische Störung hin, auch wenn Halluzinationen das Merkmal vieler psychiatrischer Krankheiten sind. Im Gegenteil, die Gesamtmasse an ständiger, nicht durch die zentralen Bewußtseinsinstanzen beachteter Aktivität verweist darauf, daß ein gelegentlicher Durchbruch in eine scheinbar andere Welt unsere psychische Grundausstattung definiert. Extremvarianten dieser Grundausstattung (wie zum Beispiel Halluzinationen im Gefolge einer schizophrenen Erkrankung) verweisen somit auf das Halluzinations-Potential eines jeden von uns. Der davon sporadisch Betroffene erlebt damit nur die Normalvariante des Extremen. (Der Unterschied besteht in erster Linie darin, daß sich schizophrene Patienten in der Welt der Scheinwahrnehmungen so weit verlieren können, daß diese ihre Alltagserfahrungen bestimmen. Das Erleben während der Halluzinationen wird zur Realität und die Realität ist unter Umständen dann nur Schein.) |
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Spontan auftretende, ja selbst extreme Formen der Bewußtseinserweiterung gehören damit durchaus zur Normalitätsdefinition des Menschen. Sie bilden den Bodensatz und das Potential für neuartige, überwältigende religiöse Erfahrungen. |
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Emanzipation der Psyche bzw. Demokratisierung des Religiösen in der Postmoderne | ||||
Die Entwicklung unserer "Multioptionsgesellschaft" (Gross) mit ihrer pluralistischen Kultur hat das Tor zu 'ursprünglichen' Formen religiöser Erfahrungen inzwischen wieder weit geöffnet. Eine angesichts des sinkenden Einflusses der Kirche nun von institutionellen Zwängen befreite Psyche sucht sich individuelle neue Wege, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Im Zuge des Bildungsfortschritts der Massen mündet die Befreiung der Verstandeskräfte als paradoxe Konsequenz in eine religiöse Emanzipation, d.h. in eine nun eigenständige Suche nach dem Heil, welche nicht mehr nach dem zulässigen Weg fragt, sondern den eigenen innerpsychischen Bildern des Höheren mehr vertraut als den Ordnungssystemen der Kirchen. |
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Das Christentum bzw. die Befolgung ihrer Gebote ist nur noch eine Facette innerhalb der unterschiedlichsten Formen der Religiosität. Es sind viele "spirituelle Wanderer" unterwegs, wie Christof Bochinger in einer Untersuchung der religiösen Alltagskultur in Unterfranken treffend anmerkt. Eine der neuen verlockenden Formeln dieser alternativen spirituellen Bewegungen lautet: "Es ist in dir selbst! Du mußt dich nicht mehr mit dem Hören-Sagen der Dogmen begnügen." Eine verlockende Formel auch deshalb, weil ihr emanzipatorischer Anspruch modern klingt. Aber gleichzeitig bricht in den neuen Riten -- durch ihre Aufwertung der psychischen Instanzen jenseits der Ratio -- eine mächtige Archaik durch. |
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Es handelt sich mithin um einen Vollzug der Moderne, welcher in der radikalen Demokratisierung des Religiösen -- durch die Zurückverlegung der Entscheidung in den Menschen selbst -- ihren vorläufigen Schlußpunkt erreicht hat. Im Zentrum steht der seit den Anfängen des Christentums unterdrückte Drang des Menschen, dem Evidenzcharakter seiner eigenen, spontan aus dem Unbewußten hochsteigenden Empfindungen und Bedürfnissen sowie seiner 'übersinnlichen' Imaginationsfähigkeit mehr zu trauen als einem Lehrgebäude, dessen mystischen Ausgangserfahrungen er zwar lauschen konnte, die er aber nicht überprüfen oder gar selbst bereichern durfte. Der permanent in der Luft liegende Häresie-Vorwurf war zwangsläufig das Nebengeräusch einer hochstrukturierten kirchlichen Ordnung. Auch die die eigene Natur vergessende Aufklärung (Adorno) bot für den religiös Suchenden keine Anhaltspunkte für das andere in sich selbst, welches über ihn selbst hinauszuweisen scheint. Der Mensch erprobt nun die selbstbestimmte Nähe zum höheren Anderen. Er traut nun den verschiedenen Formen der Bewußtseinserweiterung -- vom spontanen Erleben außersinnlicher Wahrnehmungen bis zu Phänomenen der Meditation und Trance -- als Mittel zur eigenen privilegierten Erfahrung des Höheren. Dabei schert es ihn wenig, daß Wissenschaft und Kirche ihn der Naivität bezichtigen, weil er sich blindlings in die Archaik des eigenen Seelenlebens stürzt. Der Evidenzcharakter der eigenen Erfahrung überzeugt ihn mehr als die Argumente derer, die ihn vermeintlich davor schützen wollen. Er lebt in der Gewißheit, eine emanzipatorische Tat zu vollbringen. |
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Nachbemerkung: Dieser Essay behandelt die am religiösen Erleben beteiligten seelischen Strukturen. Dies besagt jedoch nicht, daß das Göttliche, was auch immer dies für den Einzelnen bedeutet, sich vollständig auf psychologische Mechanismen beschränken ließe. Ich habe großen Respekt vor der Annahme tief religiöser Menschen, daß die Seele bzw. ihre Eigenarten als Gefäß für die Botschaften des Überirdischen geschaffen worden sei und damit keine 'Erfindung' bzw. Trugbild des Psychischen sei. Vor der privaten religiösen Überzeugung endet jegliche wissenschaftliche Beweisführung. |
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autoreninfo
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Eckart R. Straube ist gegenwärtig Leiter des Centrums für Kultur und Psychologie in München und Starnberg. Ferner hat er einen Lehrauftrag an der Ludwig-Maximilians-Universität inne. Davor war er Professor für Psychologie an der Universität Jena. Seine Ausbildung, die wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit haben ihn an verschiedene wissenschaftliche und psychiatrische Institutionen in Deutschland, der Schweiz und den USA geführt. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen und klinischen Arbeit bzw. als Psychotherapeut sind: Psychosen, Depression, Angst- und Dissoziationsstörungen. Das Wiederaufleben alternativer spiritueller Heilformen in Deutschland hat ihn in diesem Zusammenhang beschäftigt und nicht mehr losgelassen, so daß er heute zu den wenigen Experten in Deutschland gehört, die dieses Gebiet erforschen.
E-Mail: Eckart.Straube@gmx.de |
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