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* Gerald Funk, Gert Mattenklott, Michael Pauen (Hrsg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne
* José Saramago: Das steinerne Floß.
 

Gerald Funk, Gert Mattenklott, Michael Pauen (Hrsg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne

Frankfurt am Main: Fischer 2001, 224 Seiten

Daß ein Ei dem anderen gleicht, ist bekannt. Weniger hingegen ist es die Ähnlichkeit des Hundsaffen mit der Sonne. Wer letztlich lange genug hinsieht, dem wird alles mit allem in irgendeiner Hinsicht ähnlich vorkommen. Mittels intellektuell-kapriziösem Geschick mag man gar eine Weltverschwörungstheorie aufstellen -- wie Umberto Ecos Protagonisten in Das Foucaultsche Pendel, die sich aus ihrem Schlaraffenland des Ähnlichkeitsdenkens in eine Psychose der Analogien assoziieren. -- Was verbirgt sich hinter einem schwammigen Titel wie Ästhetik des Ähnlichen? Um vorzugreifen: Enttäuscht sein wird derjenige, der eine Beziehungsstiftung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erwartet hatte. Etwa eine Betrachtung darüber, wie die neuen Wissenschaftsmodelle der vorletzten Jahrhundertwende (Heisenbergs Unschärferelation etc.) auf die Herausbildung des Ähnlichkeitsbegriffs seit der Romantik wirken.

Ähnlichkeit gilt wissenschaftlichem Arbeiten als Gegenstand der Reflexion als verdächtig. Wer vom Ähnlichen spricht, so schreiben die Herausgeber, mag eine Ahnung haben, doch offensichtlich ist er unfähig, Identitäten zu erkennen, und nicht Manns genug, das Differente zu beschreiben. Ähnlichkeit: ein lauwarmer, halbherziger Kompromiß, der zum Reich des Unscharfen, Unzuverlässigen, Esoterischen, Ideologischen, kurz: Nicht-Wissenschaftlichen gehört. Stoßrichtung der Aufsätze des hier besprochenen Bandes ist entsprechend, diese Ansicht in Frage zu stellen. Mittels geeigneter Theoretisierung gilt es, das erkenntniserweiternde Potential dieses Begriffes herauszuarbeiten, ohne dabei zu stündlich bellenden und, wie Agrippa es formuliert, zur Sonnenwende zwölfmal täglich pissenden Hundsaffen zurückzukehren. Ähnlichkeitsdenken ist mehr als eine Form der Identität in einer bestimmten Hinsicht und von Differenzen in einer anderen. Hier geht es um das (Gleichgewichts-)Verhältnis zwischen, raummetaphorisch gesprochen, Annäherung und Distanz; um das Verhältnis, das die Spannung zwischen radikaler Differenz und vollständiger Identität aufrecht hält: um dessen Historisierung und um seine Bedeutung für die Ästhetik. Man denke etwa das frühromantische Verständnis der Liebe als Darstellung von Ähnlichkeit, insofern sie die Verwiesenheit des Ichs an die geliebte Person in einer Auflösung von Gegensätzen steigere. Der Begriff der Ähnlichkeit bezeichnet dabei ein semantisches Feld, dem Korrespondenz ebenso angehört wie Analogie. Genauere Unterscheidungen werden vernachlässigt, da sie für die in dem Band zur Betrachtung stehenden Kunstkonzepte aus vornehmlich der frühen Moderne keine Rolle spielen oder gar mißverständlich wären.

Der rote Faden, der die Aufsätze der Ästhetik des Ähnlichen neben einem diachronen und teils genealogischen Zusammenhang verbindet, findet sich am ehesten in dem Problem des Verhältnisses von Ähnlichkeit und Repräsentation. Spezifischer: in dem Problem wohl jeder modernen Ästhetik, Repräsentation nicht mehr als natürlichen Abbildungsprozeß denken zu können und somit andere Formen von Ähnlichkeit entwickeln zu müssen, um eine Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant (werkintern) überhaupt noch zu gewährleisten, oder diese aber gänzlich aufzugeben.

Das frühromantische Denken nimmt von der Vorstellung Abschied, Wörter und Dinge korrespondierten natürlich. Sprachlich, so argumentiert Waldemar Fromm in seinem Beitrag über das Ähnlichkeitsdenken in Literatur und Philosophie um 1800, ist der Referenzraum dinglicher Wirklichkeit nicht mehr naiv herzustellen. Ein Graben tut sich auf, zu dessen Überbrückung ein neues Denk- und Imaginationsfähigkeit koppelndes Vermögen erforderlich ist, mittels dem ästhetische Vorhaben umgesetzt und medial realisiert werden können. Nicht mehr mimetische, sondern sprachsinnliche Ähnlichkeit heißt nunmehr der Modus, die Erkenntnismethode, in denen Welthaltigkeit erneuert wird. Das Sagbare muß aus dem Unsagbaren hervorgeholt werden: "Frühromantisches Denken in Ähnlichkeiten will den unsagbaren Anteil an Gedanken durch die symbolische Gestaltung dessen, was mit dem bewußten Anteil mittelbar ist, zum Ausdruck bringen" (S. 62). Unter Rekurs insbesondere auf Novalis, Schlegel und Wackenroder wird den konkreten Äußerungen und begrifflichen Komponenten dieser Neuerung nachgegangen. In den Blick kommen dabei u.a. das Konzept der Klangrede und die Transfiguration von Sprache und Musik in Natur.

Den Hintergrund der Ausführungen Gerald Funks zu Baudelaire bilden wesentlich zwei in Beziehung stehende Aspekte: Die im 18. Jahrhundert noch andauernde geographische Entzauberung der Welt. Und eine parallel aufkommende Semantik der Leere, des Schweigens, des Weißen, der unendlichen Räume und auch des Geheimnisvollen, der Hieroglyphe. Für künstlerische Produktion bedeutet diese Konstellation zugleich Bedrohung -- ist Schweigen thematisierbar? -- als auch Ansporn. Wie Funk anhand eines Texts mit sprechendem Titel zeigt, wird im Fall Baudelaires die Welt im Gedicht nach Kriterien einer Ästhetik des Ähnlichen neu organisiert. Entscheidend ist dabei, daß erst über derartige "Zerkleinerung der Welt in ästhetische Partikel und ihre Neuordnung nach Mustern der correspondance [...] Verständigung ermöglicht, Produktivität freigesetzt [wird]" (S. 87). Das Gedicht Correspondances reflektiert dabei nicht nur die Bedingungen seiner Existenz, sondern expliziert diese zugleich in einem performativen Akt. Entworfen als Kosmos von Ähnlichkeiten steht es schließlich für die Vorstellung, universale Weltanalogie über die Evokationskraft der Poesie zurückzuerobern.

Michael Pauen destilliert die Ansätze einer Ästhetik des Ähnlichen aus Texten Mallarmés wie Un coup de dés, Salut und Démon de l`Analogie exemplarisch für dessen Dichtung. Weder imitatio naturae, noch Überwindung der Kluft zwischen Welt und Wort auf nicht-mimetische Weise ist hier Anliegen. Vielmehr versucht Mallarmés 'poésie pure' sich die reale Realität und deren sprachliche Repräsentationen gleichsam überhaupt vom Leib zu halten. Worte und Wortstellungen treten aus automatisierten Zusammenhängen; Novum ist eine Poetik des Spiels von Korrespondenzen und Ähnlichkeiten auf verschiedensten Ebenen, zu denen auch Typographie, Erscheinungen des Satzspiegels zählen. Kaum besteht mehr die Möglichkeit, diese verschiedenen Aspekte in eine identifizierende Beziehung zueinander zu setzen; immer könnte es auch anders sein. Ähnlich wie bei Baudelaire finden sich auch hier performative Aspekte: So wird etwa im Gedicht der Prozeß ästhetischer Produktion und dessen Bestimmtsein durch Entsprechungen thematisiert. Nicht zuletzt werden Fragen aufgeworfen, die die Position des Dichters innerhalb solch künstlerischer Produktion betreffen.

Die Syntax wolle er mit Füßen treten, denn sie sei eine Traube, die getreten werden müsse, so droht Louis Aragon mit wütend-poetischem Elan in seinem Traité du style. Tatsächlich erfolgt Entautomatisierung der Vermittlung von Wirklichkeit durch die semantische Fixierung von Wörtern -- hier durch eine nicht-sinnliche Ähnlichkeit der Wörter untereinander und auch in Korrespondenz zu Farben, Rhythmen, Tönen -- im Surrealismus oft im Sinn einer Provokation. Wohl allgemein, so Markus Bauer, könne für diesen und die ihn begleitenden avantgardistischen Strömungen, neben kubistischen und dadaistischen Versuchen, das Denken in Ähnlichkeiten als ein Movens der Wirklichkeitswahrnehmung gelten. Von besonderem ästhetischem (Ähnlichkeits-)Potential ist dabei die Metaphorik des Glases oder des Spiegels. Insofern als künstlerische Reflexion sowohl das reproduzierende, als auch das deformierende Moment des Zerrspiegels oder die Durchlässigkeit dieses fragilen Gegenstands für sich entdeckt.

Joachim Renn führt aus, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen den Begriff der Ähnlichkeit zur Reflexion über sprachliche Bedeutung rehabilitiert, nachdem dieser von der analytisch-logischen Sprachphilosophie, wie sie Russell, Frege, Carnap, etc. konzipierten als unscharf vernachlässigt wurde. Im Tractatus hatte es noch geheißen: Wir verstehen die Bedeutung eines Satzes, wenn wir wissen, was der Fall ist, wenn der Satz wahr ist. Vor dem Hintergrund umfassender weiterer Auseinandersetzung kommt Wittgenstein nun zu dem Schluß, man verstehe einen Satz dann, wenn man seinen Gebrauch verstehe. Verkürzt gesagt geht es um eine Verschiebung der Frage nach dem Was (ein Ausdruck bedeute) hin zur Frage nach dem Wie (ein Ausdruck, wie Sprache verstanden und verwendet wird). Ähnlichkeit spielt eine Rolle, als Wittgenstein angesichts des Wie aus bestimmten Gründen nicht mit exakten Regeln, sondern mit einer unscharfen Regelmäßigkeit des Sprachgebrauchs argumentiert. Ohne nach einer allgemeinen Charakterisierung oder der Logik des Begriffs zu suchen, dient Ähnlichkeit, genauer: dient Familienähnlichkeit, als Verbindung zweier verschiedener Ausdrücke oder Verwendungen. Die Unschärfe der Ähnlichkeit wird methodisches Prinzip.

Christina Scherer schlägt den Bogen des Ähnlichkeitsdenkens weiter zu Godard und macht es mit Unterstützung von Merleau-Ponty für die Filmtheorie fruchtbar. Behandelt werden dabei u.a. Aspekte wie Ähnlichkeit als Akt, als Ergebnis der Wahrnehmung, die Bedeutung von Ähnlichkeit für ein Verständnis der Montagetechnik, Ähnlichkeit als Feld, auf dem sich prinzipielle Offenheit in der Rezeptionssituation und Determiniertheit des geschaffenen Werkes als Bedingung für die Interpretation vermitteln.

Das Thema der Ästhetik des Ähnlichen mit all jenen Bedeutungsfacetten der Ähnlichkeit, angefangen bei sprachsinnlicher, über theosophische, logische, ästhetische, bis hin zu Familienähnlichkeit, ist nicht eines der am leichtesten vermittelbaren. Eher stellt sich ein allmähliches Verständnis ein, statt ein Aha-Erlebnis mit anschließend leicht zu handhabendem Erklärwerkzeug. Auffällig wird dies insbesondere anhand des kurzen Beitrags von Jean-Christophe Ammann über Jochen Flinzers Arbeit 53 Wochen Glück, in dem weder das Wort Ähnlichkeit, noch seine Synonyme oder eine eindeutige Beziehungsstiftung zu diesen vorzufinden sind. Aber auch in den anderen literatur- und kunsthistorischen Betrachtungen bleibt ein bestimmter Blick erforderlich, um mit Ähnlichkeit arbeitende Poetiken erkennen zu können. Die Schwierigkeit mit diesem Blick dürfte u.a. damit zusammenhängen, daß man nach wie vor gewohnt ist, Ähnlichkeit visuell und abbildhaft zu denken. Im Umgang mit diesem Denken liegt dann auch eine Herausforderung des Bandes. Bei Amman, der sich offensichtlich gewollt bedeckt hält, ist Lust auf Exegese Voraussetzung.

Die Ästhetik des Ähnlichen schärft das Verständnis für bislang wenig wahrgenommene oder eher als konkurrierend, denn typologisch verstandene Aspekte in Denken und künstlerischer Praxis der frühen Moderne. Zum Gelingen dieses Anliegens tragen wesentlich die Einleitung der Herausgeber mit ihrem historisch-systematischen Aufriß des Ähnlichkeitsdenkens, und der Aufsatz Gert Mattenklotts bei. Grundlegende Aspekte des Themas werden hier durch Rekurs auf Valérie und Magritte noch einmal aufgegriffen. Liegt das Anliegen des Bandes und ein Pluspunkt im Aufzeigen dieser Traditionslinie, so mag man spekulieren, ob ein methodisch reflektierter Ähnlichkeitsbegriff sich nicht in allgemeinerer Hinsicht als wichtig erweisen wird. Geisteswissenschaftliche, insbesondere komparatistische Einsatzbereiche gibt es allemal: Der Begriff der Ähnlichkeit als Denkoption zwischen (identifizierenden) hermeneutischen Theorietendenzen einerseits und (Identitätspostulaten entgegenarbeitenden) dekonstruktivistischen andererseits? Ein Methodenrecycling, das darüber Aufschluß gibt, welche blinden Flecken das Ähnlichkeitsdenken konkret erhellen könnte, bleibt zu leisten.

Corbineau-Hoffmann betonte jüngst, daß Reflexion über das Vergleichen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft noch weitgehend eine terra incognita des Faches sei (vgl. Einführung in die Komparatistik, S. 80ff.). Da das Beziehungsspiel zwischen comparandum, comparatum und tertium comparationis ohne Ähnlichkeitsaspekte, ohne similitudo, nicht denkbar ist, liegt der Vorteil auf der Hand, über die erkenntnistheoretischen, allgemein philosophischen, ästhetischen, etc. Implikationen des Ähnlichkeitsbegriffes präziser als bisher Bescheid zu wissen -- wie auch immer eine Vergleichstheorie konzipiert sein mag.

Schließlich tangiert das Ähnlichkeitsdenken die Diskussion von Begriffen, die unlängst in den komparatistischen Begriffskanon Eingang gefunden haben, wie etwa die Differenz Eigenes / Fremdes. Denn in Ähnlichkeiten denken kann heißen, anstelle einer grundlegenden Entgegensetzung von Eigenem und Fremden mit einer komplexeren Theorie der Beziehung beider Differenzseiten zueinander zu arbeiten (ohne Eigenes und Fremdes dabei als Aspekte des Gleichen aufzufassen).

Ob das Denken in Ähnlichkeiten bei solchen weiteren Anwendungen tatsächlichen Wert für wissenschaftliche Auseinandersetzung hat und also anderen Erkenntnismethoden nebenan gestellt werden kann, oder ob es nur sprachlich verführerische Banalitäten zeitigt, muß sich von Fall zu Fall erweisen. Seit dem mittlerweile einige Zeit zurückliegenden Erscheinen der Ästhetik des Ähnlichen ist jedenfalls einiges Lesenswertes publiziert worden, auch solches, das über eine bloße Ausdifferenzierung obiger Traditionslinie hinausgeht. Anzuführen wären etwa die mittlerweile zahlreichen Beiträge von Literaturwissenschaftlern und Philosophen zum Thema Kontingenz und Providenz, bei denen das Konstatieren von Ähnlichkeitsbeziehungen als Ordnungsinstrument untersucht wird. Das hier in Frage stehende Buch stellt dazu allerdings nur einen Anstoß unter anderen dar. Vielversprechend im Allgemeinen scheint eine in dem Band angedeutete und zugleich bewußt ausgesparte weiterführende Auseinandersetzung mit Ähnlichkeitsbegriffen der Mathematik oder der Philosophie (v.a. Philosophy of mind -- so Thomas Bachmann bereits 1998: Die Ähnlichkeit von Ereignisbegriffen bei der Analogiebildung) und damit einhergehend, mit präzisen Unterscheidungen zwischen Ähnlichkeit, Analogie, Korrespondenz usf. Auch der Kritik des Ähnlichkeitsdenkens, wie sie sich u.a. in Goodmans Sprachen der Kunst andeutet, wäre eingehendere Berücksichtigung zu widmen.

(Christoph Bock)

 

José Saramago: Das steinerne Floß.

Hamburg: Rowohlt 1990, 413 Seiten

José Saramago erhielt 1998 den Literaturnobelpreis. Eine große Auszeichnung für den überragenden Literaten des kleinen Landes Portugal, dessen Kultur bei uns wenig bekannt ist. Neuerscheinungen -- wie 2000 sein bisher letzter Roman Das Zentrum -- oder runde Geburtstage -- wie im November 2002 der achtzigste des Autors, fanden ihren Zeilenniederschlag in den Feuilletons. Saramago ist ein viel gelobter und doch bei einem breiteren Publikum wenig gelesener Schriftsteller -- zu Unrecht.

Seltsames geschieht. Joaquim Sassa aus Porto wirft einen Stein, der eigentlich viel zu schwer für ihn ist, unfaßbar weit aufs Meer hinaus. José Anaiço aus Südportugal folgen tagelang ganze Vogelschwärme weit über Land. Pedro Ocre aus Andalusien spürt ein Beben in der Erde, das selbst für hoch sensible Seismographen nicht meßbar ist. Joana Carda zeichnet im Norden Portugals eine Linie in den Boden, die sich nicht mehr fortwischen läßt. Und sie trennt ihren Strickpullover auf, dessen Wollfaden kein Ende nimmt. Seltsame Begebenheiten in dem Augenblick, in dem ein Riß durch Europa geht. Entlang der Pyrenäen verläuft jäh die unerklärliche Trennlinie, mit der die iberische Halbinsel eine Reise in den Atlantik antritt. Die vier feinfühligen Menschen begegnen einander. Gemeinsam aus der Bahn des Alltags geworfen machen sie sich auf eine Reise von Küste zu Küste. Ihr Weg führt sie quer durch das neue Eiland, ihre Bewegungsrichtung verläuft entgegengesetzt zu der der Massen. Daß sie außerhalb der Gesellschaft stehen, ist zu spüren, wenn z.B. Pedro Ocres seismographische Fähigkeiten von der Öffentlichkeit nicht ernst genommen werden. Saramago weist den vier besonders aufmerksamen Erdenbewohnern Fähigkeiten zu, die andere nicht zu würdigen wissen. Konzepte jenseits der üblichen Wahrnehmungsmuster haben keine Chance.

Ihr Unterwegssein entbindet die kleine Gruppe von der Hysterie der Bevölkerung, die entsetzt ebenfalls aufgebrochen ist. Von den offiziellen Verlautbarungen in dieser allgemeinen Ausnahmesituation erfährt der kleine Mikrokosmos der Reisegruppe nur mit Verzögerungen. Ihre erhöhte Sensibilität läßt sie anders nachdenken über die Ereignisse, läßt sie menschlich zueinander sein und ein tiefes Verständnis füreinander finden. Klar und detailgetreu schildert der Autor Kleinigkeiten des aus den Fugen geratenen Alltags. Seine einfühlsamen Beschreibungen gewinnen dabei über die konkrete Vorstellung hinaus symbolische Bedeutung. Auch scheut er nicht davor zurück, Elemente europäischer Mythologie einzuflechten, die die aktuelle Diskussion menschlich und politisch auf lange historische Wurzeln verweist.

Wortloses gewinnt an Bedeutung, nicht nur in der behutsamen Liebesgeschichte. Auch wie sie Médor, den Hund aus Südfrankreich, in ihre Gemeinschaft einbinden, verdeutlicht das Besondere ihres Miteinanders. Vielleicht ist Médor ihnen an Empfindsamkeit sogar überlegen, wenn er ihnen als zuverlässiger Wegweiser und Warner zur Seite steht.

Das Auseinanderbrechen des Kontinents nutzt Saramago als Bild, um die Mechanismen des Zusammenspiels in Europa in den 80er Jahren zu reflektieren und mit Exkursen in die europäische Mythologie auch einen Bogen in die gemeinsame Vergangenheit zu schlagen. Und der Bruch intensiviert die Randperspektive, die Portugals Blick auf den Kontinent bereits aufgrund seiner geographischen Lage prägt.

Als das steinerne Floß sich von Europa löst, macht sich überall Entsetzen und touristische Neugier breit, politische Haltungen und Konflikte brechen auf. Die Welt gerät mit dem Driften der neuen Insel insgesamt aus den Fugen. Die spanische und die portugiesische Regierung sehen sich veranlaßt, ungewohnt vereint aufzutreten. Die politische Großwetterlage erscheint bisweilen bedrohlich, da das Davondriften als Affront aufgefaßt wird. Oder ist man im Kerneuropa im Grunde froh, daß die Menschen jenseits der Pyrenäen sich nun entfernen? Gleichzeitig entflammen Sympathiekundgebungen im zurückbleibenden Kontinent. Geschickt führt Saramago die politische Diskussion um den europäischen Zusammenhalt in diesem parabelhaften Roman vor. Seine Darstellung der politischen Mechanismen zwischen den Staaten, zwischen den in den 80er Jahren noch gegebenen politischen Blöcken, führt oft voller Ironie die Absurdität der Verhaltensweisen vor Augen.

Der vielen Lesern fehlende unmittelbare Zugang zu Saramagos Büchern mag seinen Grund darin haben, daß sie in Thematik und Stil oft sehr eigen sind, eingehen auf die Besonderheiten seiner Heimat. Und wer kennt wirklich die Geschichte Portugals näher? Wer hat mehrere Bücher des Autors gelesen, um die subtilen Selbstbezüge und wiederkehrenden Themen erschließen zu können? Ein ungeduldiger Leser sollte sich nicht so schnell entmutigen lassen. Auch wenn Saramagos lange Sätze eine zusätzliche Herausforderung an die Aufmerksamkeitsspanne sind, wird die Geduld doch belohnt. Bei der Sprache ist zu bedenken, daß die Verschachtelung in der deutschen Übersetzung kantiger wirkt als im Original. Ein deutscher Nebensatz klingt weniger elegant als ein beiläufiges Partizip Präsenz oder Gerundium. Dem Leser, der diese Einstiegshemmnisse überwindet, der sich zudem auch auf mehrere Bücher des Autors einläßt, erschließt sich eine Welt, in die es lohnt einzutauchen.

(Beate Raabe)

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