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no. 18: die jüngste epoche -> wilhelm heinse
 

Michelangelo oder Raffael?

Wilhelm Heinses italienische Reise und sein Ideal der Malerei

von Annegret Winter

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Die erste vollständige Edition der Hefte Wilhelm Heinses (1746-1803) aus dem Frankfurter Nachlaß durch den Hanser-Verlag muß das Interesse des italophilen Reisebuchsammlers und -lesers erregen. Stößt man doch schließlich im ersten Band auf seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1768 bis 1783, also auch jene der Zeit vor und während seiner Italienreise. In ihnen widmete sich Heinse auch Michelangelos Decke der Sixtina und Raffaels Stanzen. Die Originalität der Beobachtungen Heinses wird besonders deutlich, stellt man seine Aufzeichnungen in einen fiktiven Dialog mit Goethes redaktionell stark bearbeiteter Italienischen Reise.

 

Die erste vollständige Edition der Hefte Wilhelm Heinses (1746-1803) aus dem Frankfurter Nachlaß durch den Hanser-Verlag muß das Interesse des italophilen Reisebuchsammlers und -lesers erregen. Stößt man doch schließlich im ersten Band auf seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1768 bis 1783, also auch jene der Zeit vor und während der italienischen Reise. 1300 Seiten in Dünndruck versammeln Städte- und Landschaftsbeschreibungen, Exzerpte von Reisebüchern, kunsttheoretische und naturwissenschaftliche Abhandlungen sowie Inventare von Sammlungen. Neben Listen von Fahrpreisen stehen solche antiker Autoren und Persönlichkeiten. Unzählige Beschreibungen von Kunstwerken und Plastiken sind aufgeführt, dazwischen Abschriften in griechischer und italienischer Sprache. Die ungeordnete Folge disparatester Eintragungen machen die Lektüre dieses Nachlasses außerordentlich schwer. Doch dienten diese "Hieroglyphen zur Rückerinnerung", wie Heinse selbst sie nannte, schließlich nur seinem eigenen Gebrauch. Was also schon beim ersten Eindruck so unerschöpflich wie unzugänglich daherkommt, erfordert eine gewisse Lesearbeit, die dem Querleser durch ein noch ausstehendes Register allerdings zusätzlich erschwert wird. Doch dokumentiert der Band Heinses Persönlichkeit und seine Kunstauffassung im Spiegel der italienischen Reise.

 

Heinses Leben

Johann Jacob Wilhelm Heinse wurde am 15. Februar 1746 in Langewiesen geboren. 1766 kam er an die Universität Jena, um Jura zu studieren. Dort schloß er sich dem nur wenig älteren Dozenten Friedrich Justus Riedel an, dessen Vorlesungen und die 1767 erschienene Theorie der schönen Künste und Wissenschaften Heinses erste Begegnung mit der Welt der Ästhetik waren und nachhaltigen Eindruck auf sein Denken und seine spätere literarische Tätigkeit hatten. 1768 folgte er Riedel nach Erfurt. Aus dieser Zeit stammen Heinses erste Veröffentlichungen in der Bibliothek der elenden Scribenten und dem Thüringischen Zuschauer. 1769 kam einer der großen und angesehenen Literaten seiner Zeit, Christoph Martin Wieland nach Erfurt, in dessen Umfeld Heinse Fuß fassen konnte. Durch Vermittlung Wielands entstand im Jahr 1770 auch der Kontakt zu dem Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der die Veröffentlichung von Heinses ersten Gedichten und Dialogen besorgte und ihn im September 1772 als Hauslehrer zur Familie von Massow nach Halberstadt holte. Heinse profitierte von der Massow'schen Bibliothek, las mit der Hausherrin italienische Dichter und verkehrte im Gleim-Kreis. Doch schon nach einem Jahr mußte er nach einer neuen Einkommensquelle Ausschau halten. Diesmal half ihm der Dichter Johann Georg Jacobi, der ihn nach Düsseldorf kommen ließ und als Redakteur der Iris, einer Damenzeitschrift, anstellte. Unterkunft gewährte ihm dessen Bruder, der Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi, in seinem Anwesen in Pempelfort bei Düsseldorf. Heinse allerdings verließ Halberstadt nur mit Widerwillen, wie er seinem Freund Gleim schrieb: "Ich gehe so ungern von Halberstadt -- aber einmal muß es doch geschehen; ich sehe bis jetzt keinen andern Weg, nach Rom und Neapel und dem Aetna, als über Düsseldorf." Dort lebte und arbeitete er bis zu seinem tatsächlichen Aufbruch nach Italien 1780.

Im anregenden Umfeld des sogenannten 'Pempelforter Musenhofs' lernte Heinse im Herbst 1774 auch Goethe kennen. Goethes Leiden des jungen Werther waren noch nicht, Heinses erster Roman Laidion aber bereits im Frühjahr erschienen. Bei dieser ersten Begegnung sind beide, Goethe und Heinse, sehr füreinander eingenommen und tragen dieses "begeisterte Sich-Erkennen verwandter Naturen", wie Heinse schreibt, einander und anderen gegenüber vor. Dennoch haben Heinse und Goethe keine tiefere persönliche Beziehung entwickelt. Goethe erwähnt Heinse schließlich in Dichtung und Wahrheit mit keinem Wort, während er die Beziehung zu Fritz Jacobi feiert. Auch auf einen Briefwechsel zwischen den beiden Dichtern können wir leider nicht zurückgreifen, haben sich in Heinses Nachlaß doch anscheinend keine Briefe an Goethe gefunden, und Heinses Briefe an Goethe könnten in Goethes Autodafé von 1797 verloren gegangen sein. 1787 erschien Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln, in dem Heinse sein Italienerlebnis in einer Art Künstlerroman verarbeitete. Als Goethe nach seiner Rückkehr nach Weimar im Juni 1788 auf dieses Buch stößt, äußert er sich drastisch:

"Nach meiner Rückkunft aus Italien, wo ich mich zu größerer Bestimmtheit und Reinheit in allen Kunstfächern auszubilden gesucht hatte, unbekümmert was während der Zeit in Deutschland vorgegangen, fand ich neuere und ältere Dichterwerke in großem Ansehen, von ausgebreiteter Wirkung, leider solche die mich äußerst anwiderten, ich nenne nur Heinse's Ardinghello und Schiller Räuber. Jener war mir verhaßt, weil er Sinnlichkeit und abstruse Denkweise durch bildende Kunst zu veredeln und aufzustutzen unternahm".

Doch nochmals zurück zur Düsseldorfer Zeit. Denn hier bildete Heinse schon vor der Italienreise seine Kunstauffassung aus, indem er sich eingehend mit dem Bestand der dortigen Gemäldegalerie befaßte. Seine Betrachtungen mündeten in die Düsseldorfer Gemäldebriefe, die 1776 und 1777 in Wielands Teutschem Merkur erschienen. Die Düsseldorfer Gemäldebriefe galten nicht nur den italienischen Künstlern Michelangelo, Raffael, Carlo Dolce, da Vinci, Tizian, Guido Reni und Annibale Carracci, sondern entdeckten insbesondere Rubens als einen Maler wieder, der sich der Schilderung nach der Natur, d.h. nach dem Leben verschrieben hatte. Dies entsprach Heinse, der sich von der zeittypischen Orientierung am griechischen Ideal abwandte.

Mit kleinem Gepäck, ein paar Empfehlungsschreiben, aber sehr guten Italienischkenntnissen und einem kleinen Budget, gestiftet von Fritz Jacobi und Wilhelm Gleim, trat Heinse im Juni 1780 seine Reise nach Italien an. Nach einem längeren Aufenthalt in Venedig und Streifzügen durch die Toskana und Umbrien hielt er nach über einem Jahr Reisetätigkeit am 15. September 1781 in Rom Einzug:

"Nichts aber hat einen so starken Eindruck auf mich gemacht als Rom. Es war mir, als ob ich mich der eigentlichen Herrschungssphäre näherte. Die triumphierende Lage, ungeheuer lang und breit, um den wilden Tyberstrom herum, mit den gebietrischen Hügeln voll stolzer Palläste in babylonischen Gärten, und despotischer Tempel mit himmelhohen Kuppeln, an dem prächtigen Amphitheater der Gebürge von Frascati und Tivoli; die Brückengewölbe, Thürmenden Thore, flammenden Obelisken, bemoosten und mit Grün überzogenen Ruinen alter Herrlichkeit, und das kühle Rauschen von Schritt zu Schritt von tausend und aber tausend lebendigen Springbrunnen wie in den quellenreichen Alpen drinn, und manche männliche und weibliche antike Gestalt mit heißem Blick und warmen Gebehrden in Helden und Siegerinnengang auf den weiten Plätzen und in den unabsehlichen Straßen erweckten eine Wunderempfindung von einer neuen Natur in mir, die ich noch nicht gehabt hatte."

In Rom traf er Friedrich Müller, genannt 'Mahler Müller', der ihm im Vicolo Alibert bei S. Lorenzo in Lucina (in einer Seitenstrasse der Via del Corso, an der später Goethes und Tischbeins Bleibe lag) ein günstiges Quartier besorgte und der, neben dem Maler Franz Kobell, sein engster Freund und ständiger Begleiter in Rom war. Nach zwei Jahren Aufenthalt in Rom reiste er -- wiederum über viele Umwege im oberen Italien -- im Sommer 1783 nach Deutschland zurück.

Düsseldorf erreichte er am 18. September 1783, wo er -- ohne Aussicht auf eine andere Anstellung -- im Haus der Familie Jacobi bleiben und bis 1786 seinen Ardinghello verfassen konnte. Die Romanhandlung diente ihm als Gefäß für die aus Rom mitgebrachten Betrachtungen zur Kunst im allgemeinen und zu einzelnen Kunstwerken im Besonderen. Vieles übernahm er direkt aus seinen Heften. In einer Szene des Romans gerät der Held Ardinghello in ein Streitgespräch, in dem es um die Frage geht, ob Michelangelo oder Raffael der größere Künstler sei. Diese Diskussion war, wie wir von Goethe und anderen Romreisenden wissen, gängiger Gesprächsstoff zu dieser Zeit und sollte auch noch die Nazarener bewegen. Heinse verlegte diese Diskussion um 200 Jahre vor und ließ sie unter Malern des 16. Jahrhunderts stattfinden.

Der Roman erregte zwar großes Aufsehen, aber Heinse erlangte dadurch keine finanzielle Unabhängigkeit. Um 1786/87 -- als Vierzigjähriger -- wurde er Vorleser und später Bibliothekar des Erzbischofs von Mainz. Aus den folgenden Jahren gibt es kaum mehr verwertbare biographische Zeugnisse. 1792 besetzten die französischen Truppen Mainz, der kurfürstliche Hof floh nach Aschaffenburg. 1795/96 erschien Heinses stark von musiktheoretischen Überlegungen geprägter Roman Hildegard von Hohenthal. Seine letzten Lebensjahre von 1795 bis 1803 verbrachte Heinse in Aschaffenburg, wo er die kurfürstliche Sammlung in eine wissenschaftlich nutzbare Bibliothek umwandelte. Kurz vor seinem Tod schrieb er noch einen dritten Roman, Anastasia und das Schachspiel. Briefe aus Italien vom Verfasser des Ardinghello. Waren seine anderen Romane Zeugnis eines Versuchs, das Leben zu entgrenzen, war Anastasia nun ein beklemmendes Protokoll von der Beschränkung des menschlichen Daseins auf ein paar wenige "Schachfelder". Am 22. Juni 1803 starb Heinse an den Folgen seines zweiten Schlaganfalls.

 

Zu Heinses Kunstauffassung

Heinse wandte sich von den klassizistischen Idealen Winckelmanns, den er in den Nachlaßheften einen "antiquarischen Pedanten" nennt, ab. Obwohl Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums Heinses Begleiter in Rom war, sprach er sich immer wieder mit deutlichen Worten gegen die Nachahmung des griechischen Ideals aus, und verlangte statt dessen die Nachahmung der Natur und des Lebens:

"Winckelmann und die Schar, die nichts in sich selbst haben, sprechen gerad wie die Besessenen, wie Verrückte, wenn sie sagen, man solle bloß die Antiken studieren und nachahmen. Sie machen das Mittel, einige Schönheit der Natur leicht zu finden, völlig zum Zweck; und mahlen und zeichnen nicht anders als mit den Gipsgespenstern um sich herum. [...] Ihr Einfaltspinsel, die Natur ist reich und unerschöpflich; diese Sachen, die griechische Bildhauer sahen und mit ihrer Kunst fest hielten, haben wir schon und wir wollen etwas anderes. Vergrabt euch damit in eure höllische Leerheit, und nagt und geifert euch mit eurem Neid daran zu Tode, damit ihr einmal von uns wegkomt, ihr Ungeziefer, ihr garstiges."

Winckelmann unterschied zwischen sinnlicher Schönheit der Natur und göttlicher, idealer, geistiger Schönheit, alles richtete sich bei ihm nach dem griechischem Ideal. Heinse dagegen definierte Schönheit als vollendeten Ausdruck der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit. Das Ziel der Kunst war für ihn der 'Genuß'. Oder wie er in seinen Notizheften auseinandersetzte:

"Die Kunst ist weiter nichts, als die reizendste Art, den Genuß, den man gehabt hat, andern wieder mitzutheilen. Verstand u [sic] große Handlung gehört platterdings allein für die Poesie. Für die bildende Kunst gehört das Leben das sich auf der Oberfläche äußert, u auf einmal im Moment einen ganzen Begriff giebt. [...] Die Begriffe lebendiger Schönheit bilden sich platterdings bloß aus den Gestalten der Menschen, womit man umgeht. Wenn wir auch alles zu Hülfe nehmen, Poesie, Geschichte u Antiken, so können wir doch nur das lebendige Wesen in allen seinen Bewegungen bey den Griechen nur ahnden, u keinen wirklichen Menschen aus dem Zeitalter des Perikles aufstellen. Was im Idealen wahr ist, ist bey Raphaelen, Urbinatisch, nicht einmal Römisch, bey Rubensen Flammändisch, bey Tizianen Venezianisch, u. b. Correggio Lombardisch."

Wiederholt wies er auch an anderer Stelle auf diese Abhängigkeit der lebendigen Schönheit in der Kunst von regionalen Begebenheiten und auf die Gebundenheit des Künstlers an das eigene Erleben und Empfinden hin.

Heinse hat sich nur flüchtig mit den großen Renaissance-Plastikern befaßt. Und auch gegenüber Michelangelos Skulpturen schien er uninteressiert. Sein besonderes Verdienst liegt darin, daß er sich der Malerei mit besonderer Hingabe widmete. Und so finden sich in seinen Notizen Hunderte von Bildern mehr oder weniger ausführlich beurteilt. Auch exzerpierte er in Rom Mengs' Schrift Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei immer wieder. Doch beurteilte er Mengs' Werke sehr kritisch:

"Von allem, was ich von Mengs gesehen habe, kommt nichts aus Empfindung und geht nichts in Empfindung, alles bleibt bloß im Verstande, Künstlerverstande. Sein Meisterstück in Rom, das Werk in der Vatikanischen Bibliothek, ist, was schöne Formen anbelangt, vielleicht das Höchste der neuern Kunst [...], aber sie haben weder natürliche Regung noch Ausdruck, und man weiß nicht, wer sie sind, noch was sie bedeuten; und sie schändet bloße Verzierung. [...] -- Und wie sieht der Moses dessen aus, der den des Michelangelo einen Galeerensklaven nannte? -- Ein vereinsiedelter schwacher Kopf von einem Weisen eher, als der heroische Anführer eines ganzen Volkes [...] Viel Aufwand um Nichts oder eine Kleinigkeit, Prunk ohne innern Gehalt."

Seine eigenen Maßstäbe für die Beurteilung von Malerei hatte sich Heinse schon in Düsseldorf erarbeitet. Er maß Gemälde daher auch in Italien an der narrativen Bewegtheit des gemalten Momentes sowie ihrer sinnlichen und natürlichen Farbigkeit. Insbesondere wendete es sich gegen die Linie, so schrieb er im Ardinghello:

"Das Hohle und das Erhobne, Dunkle und Helle, das Harte und Weiche, und Junge und Alte, wie kann man es anders herausbringen, als durch Farbe? Form und Ausdruck kann nicht ohne sie bestehen. Die schärfsten und strengste Linie, selbst eines Michel Angelo, sind Traum und Schatten gegen das hohe Leben eines Tizianischen Kopfs".

Ganz im Gegensatz zum Beispiel zu Goethe, der sich der Linie, aber auch dem wissenschaftlichen systematischen Erfassen verschrieb, interessierten Heinse die Farbe und der unmittelbare Eindruck der Malerei. Seinem Wesen war das Bewahren des Augenblicks, ein Festhalten am sinnlichen Eindruck und Erleben eigen. Daher wird in der Heinse-Literatur über seine Rolle für die Romantik reflektiert. Eine gewisse Unmittelbarkeit spiegelt sich auch in seiner Sprache wieder, wenn er Landschaften oder atmosphärische Erscheinungen schilderte:

"Wenn ich Landschaftsmaler wäre, ich mahlte ein ganzes Jahr weiter nichts als Lüfte, u besonders Sonnenuntergänge. Welch ein Zauber, welche unendliche Melodien von Licht und Dunkel u Wolkenformen und heiterm Blau! Es ist die wahre Poesie der Natur. Gebürge, Schlößer, Palläste, Lusthayne, immer neue Feuerwerke von Lichtstrahlen, Giganten, Krieg u Streit, flammende Schweife wechseln immer mit neuen Reizen ab, wenn das Gestirn des Tages in Brand u Gluthen untersinkt."

Doch schlagen wir nun eine Einblicksschneise in Heinses Nachlaßhefte und befassen wir uns mit Heinses Äußerungen über die beiden Künstler, deren Vorzug damals heftig diskutiert wurde und in deren Vergleich Heinses ästhetische Kriterien besonders deutlich hervortreten. Wir fokussieren Michelangelos Decke der Sixtina und Raffaels Stanzen, die beide zeit- und räumlich nah im Vatikan entstanden sind. Heinse widmete sich offenbar einem eingehenden Studium der beiden Freskenzyklen. Denn mit seinen Aufzeichnungen bewies er ikonographische Kenntnisse, ging auf Details ein, etwa wenn er einzelne Bildgestalten psychologisch ausdeutete. Außerdem faßte er die Beschreibung der Fresken jeweils in einen längeren Text zusammen. Sicherlich komprimierte er darin die ihm wesentlichen Beobachtungen wiederholten Studiums für die Rückerinnerung in Deutschland.

Die Originalität der Beobachtungen Heinses wird besonders deutlich, stellt man seine Aufzeichnungen in einen fiktiven Dialog mit Goethes stark redaktionell bearbeiteter Italienischen Reise.

 

Michelangelos Sixtina

Wie im Ardinghello nahm Michelangelos Werk auch in Heinses Notizheften einen geringeren Raum als Raffael ein. Er brachte seine Einschätzung Michelangelos in einer kurzen Phrase auf den Punkt, und erklärte den Mangel, den er empfand, mit Michelangelos Wesen:

"Die größten Meister der neuern Zeit sind [...] und Michel Angelo an Richtigkeit im Nackenden, und Erhabenheit seiner Denkungsart. Doch hat er [...] ein elendes Auge für Farbe, und war gar zu arm an Gestalt. Er hatte wenig Gemeinschaft mit andern Menschen, und wußte also auch wenig, was sie freut."

Heinse bewunderte an Michelangelo also vor allem die besondere Kenntnis des menschlichen Körpers, aber er konstatierte die geringe Vielfalt an Gestalten. Außerdem mißfiel ihm Michelangelos Farbgebung. Heinse schätzte diese nämlich insbesondere im Werk Tizians und konstruierte sich einen Idealkünstler:

"Wenn man Tizians Wahrheit der Farbe, Correggios Licht u Schatten, Raphaels hohen Geist, u Michel Angelos Kenntniß des Menschlichen Körpers zusammen in ein Wesen bannen könnte: so hätten wir freylich das Ideal von Mahler, [...]".

Dennoch war Heinse von Michelangelo begeistert, wie man dem ausführlichen der Sixtina gewidmeten Text entnehmen kann. Hier offenbart sich auch Heinses spontaner, aber überaus treffender Schreibstil.

"Voll wilder Maiestät sind alle seine Herrgotte, und jeder hat etwas ungeheures im Ausdruck. Der die Sonne am Himmel setzt ist der besterhaltenste u bestimmteste in der Phisiognomie. Er deutet nur mit dem Finger, wie gebieterisch befehlend, u streckt beyde Arme aus. Die Eva ist reizend, u hat besonders einen vollen wollüstigen Hintern; unser Herr Gott sieht gerad aus wie launischer Zaubrer. Das rechte dicke Bein der Eva ist meisterhaft gezeichnet, wie alles aber. Wie Eva die Schlange verführt, und beyde ausgetrieben werden, ist eins der ausgeführtesten. Die zwey schönsten bleiben immer die Schöpfung der Sonne u der Eva. Die Schöpfung Adams ist auch voll Kraft; aber die Charaktere sind nicht so edel. [...] Die Propheten u Sybillen sind lauter große mächtige Charakter, in Feuer; Eifer u Begeisterung. Einige Köpfe haben natürliche alte Gestalt, aber wenig edle; lauter wilde Zorngesichter meistens. [...] Den Gott, der die Sonne schaft, umgeben nur drey Engelköpfe von hinten. Er sieht freundlich u gut aus, mit blaugrauem Haar u Bart das fliegt. Neben schwebt er schön rücklings auf den Wassern. Ueberhaupt ists ein herrlich Spiel der Phantasie mit der Gottheit vier bis fünfmal. Die coloßalischen Füße mit den Knochen zeigen so recht, wie die Alten mit ihrer Kunst nur spielen konnten, zu einer solchen Fertigkeit hatten sie es gebracht im Gefühl schöner u wahrer Formen."

Goethe, der die Sixtina wiederholt besuchte, war ebenfalls von Michelangelo begeistert, aber er geht auf keinerlei inhaltliche oder formale Details ein. Als Begründung hätte er wohl angegeben: "Die innere Sicherheit und Männlichkeit des Meisters, seine Großheit geht über allen Ausdruck." Er war aber so sehr von Michelangelos Schaffen in der Sixtina eingenommen, daß er wiederholt erklärte, angesichts ihrer gleichgültig gegen andere Kunstwerke zu sein. Mehrmals erwähnte er, bei Diskussionen über den Vorzug von Michelangelo oder Raffael ersteren immer wieder favorisiert zu haben. Wiederum überlieferte er uns nichts vom Inhalt jener Streitereien, lediglich daß auch Michelangelos Farbigkeit Anerkennung gefunden haben soll. Überhaupt waren Goethes Schilderungen ich-bezogener, wenn er etwa besagte Streitereien als nicht erbaulich bezeichnete. Über Michelangelos besondere Fähigkeiten, menschliche Figuren darzustellen, meinte er -- darin nun mit der Erkenntnis Heinses übereinstimmend:

"ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag. [...] Nun hat mich zuletzt das A und O aller uns bekannten Dinge, die menschliche Figur, angefaßt, [...]"

 

Raffaels Stanzen

Über Raffael ließ sich Heinse dagegen weit ausführlicher aus. Allgemeine Beschreibungen, Vorstellungen über das Wesen Raffaels, aber auch kritische Bemerkungen finden sich an verschiedenen Stellen in den italienischen Notizen. Er stellte ihn sich als Mensch mit lauterem Herz und voller Empfindsamkeit vor und lobte die Vielfalt seiner Gestalten, während er die geringeren Variationen der Körperhaltungen in Michelangelos Schaffen als einen Mangel empfunden hatte. Aber Heinse kritisierte auch sehr unverblümt eine gewisse Gefälligkeit und die mangelhafte Charakterbildung der Gestalten Raffaels sowie dessen Unfähigkeit, nackte menschliche Gestalten zu malen:

"Sein Fehler ist seine Gefälligkeit überall, auch wo sie nicht seyn soll. Es scheint, als ob er nie ein widerwärtig Gesicht recht habe ansehen können; in seinen Köpfen vom Attila, und Heliodor ist Grazie und Gefälligkeit. Die Charaktere, die für sich bestehen, einen Apollo, einen Herkules, und diesen ähnliche hat er nie erreicht. [...] Sein Nackendes, wenn er sich auch noch so sehr geplagt hat, freut einen nicht. [...] Bis auf Arme und Beine und Hände und Füße, die er in Gewalt gehabt hat."

Er wiederholte ähnlich Bemerkungen, Raffaels Gestalten seien leblose, wenn auch schöne Larven. Selbst wenn er angesichts der Gestalten in den Stanzen deren Ausdruck lobte, erkannte er in ihren gefühlvollen Gebärden die Gefahr der Manieriertheit.

Goethe dagegen kam von dem starken Eindruck Michelangelos nicht los. Im Grunde erlangt man durch seine Italienische Reise den Eindruck, daß Raffael dem Vergleich mit Michelangelo nicht standhielt, weil er sich nicht wie Michelangelo auf große Formen und deren vollendeten Zusammenklang verstand. Zwar war ihm das Studium der Stanzen Raffaels durch den schlechten Erhaltungszustand der Fresken erschwert: "[...] und da ist's, als wenn man den Homer aus einer zum Teil verloschenen, beschädigten Handschrift heraus studieren sollte", doch kehrte er den eleganten Umgang mit der baulichen Situation hervor:

"Raffael war niemals von dem Raum geniert, den ihm die Architektur darbot, vielmehr gehört zu der Großheit und Eleganz seines Genies, daß er jeden Raum auf das zierlichste zu füllen und zu schmücken wußte. Selbst die herrlichen Bilder der 'Messe von Bolsena', der 'Befreiung des gefangenen Petrus', des 'Parnasses' wären ohne die wunderliche Beschränkung des Raumes nicht so unschätzbar geistreich zu denken."

Heinse ging auf die bauliche Situation dagegen gar nicht ein. In einem sich über mehrere Seiten erstreckendem Text faßt Heinse seine umfangreichen Betrachtungen zu den Stanzen zusammen. Er darf sicherlich als Quintessenz wiederholten Studiums der Gemälde verstanden werden. Keinem Fresken-Zyklus hat Heinse so viel Aufmerksamkeit und Platz in seinen römischen Aufzeichnungen gewidmet.

Heinse schilderte jeweils das Thema der einzelnen Fresken, die ihm wichtigen Personen und ihre Bezüge untereinander. Die formalen Vorzüge und Mängel, die Heinse in Raffaels Stanzen sah, seien hier komprimiert erfaßt. Er begann mit der auf 1509-1513 datierten Stanza della Segnatura, mit dem Gemälde der Disputa, der Schule von Athen und dem Parnaß. In der Schule von Athen erfreuten ihn die Philosophen so sehr, daß er sie gerne zum Leben erweckt sähe: "Man ist mit Lust darunter und wünschte, daß sie lebten." Auch in der Disputa waren es die Köpfe und Gestalten, die seinen besonderen Gefallen fanden, so daß seine Beobachtungen -- im Gegensatz zu seinen oben erwähnten durchaus kritischen Einschätzungen -- geradezu euphorischem Lobe entsprachen:

"Die Hauptköpfe sind Vorstellungen von der lebhaftesten Jünglingsimagination mit einer entzückenden Wahrheit u Vollkommenheit. Die vier Kirchenlehrer gehen mit ihrer Kraft u Bestimtheit vor allen andern heraus. Wenn irgend ein Sterblicher zum Mahler gebohren war, so ist es gewiß Raphael. Seine Gestalten sind alle mit einer Quelle von Leben hervorgefühlt, und jede von der andern verschieden, bis auf eine eigne Art von Grazie im Ausdruck die von demselben Ursprung zeugt."

In der Folge dieser Begeisterung dient Heinse die Scene des Parnaß jedoch bereits wieder als Anlaß zur Kritik an Raffaels Unfähigkeit, nackte Körper darzustellen.

Dann schilderte er die Stanza di Eliodoro, mit den Fresken Befreiung Petri aus dem Gefängnisse, Vertreibung des Heliodors, die Messe von Bolsena sowie der Begegnung Leos I. mit Attila. Hier hob er besonders die Licht- und Schattenwirkungen in der Gefängnisszene hervor, doch mäkelte er, daß dazu kein besonderes Talent gehöre. Außerdem erschien ihm bei der Vertreibung des Tempelschänders Heliodor ungereimt, was ein Reiter in einer Kirche suche. Die Szenen der Begegnung Leos I. mit dem Hunnenkönig Attila beeindruckte ihn nicht, denn obwohl er darin einige Gestalten als natürlich bezeichnete, war ihm Leo zu feist, geradezu ein "Mastschwein", Attila zu gütig und die bewaffneten Apostel Petrus und Paulus, die über der Szenen schweben, zu groß und schwer, außerdem hielten sie ihre Schwerter wie Weiber. Heinse bewertete auch hier wieder jedes Detail der Fresken nach seiner Lebendigkeit, also der Wahrheit nach der Wirklichkeit und der Beseeltheit der Gestalten.

In der Stanza dell' Incendio (1513-1520) stellte er fest, daß außer dem Incendio del Borgo keine der Fresken im Raum von Raffael sei, schrieb sie Schülern zu und klagte: "[...] als ob Raphaels warmes Leben kalt geworden wäre." Den Brand im Borgo beschrieb er wieder im Detail, Heinse soll hier deshalb nochmals ausführlicher zu Worte kommen:

"Fürtrefliche Figuren darin, [...] Das Weib mit dem Krug auf dem Kopfe ist eine göttliche Figur. Eine Amazone unter den modernen Weibern, voll Natur u Frischheit in ihrem Kontur, u reizend bekleidet mit dem vom Wind angewehten Gewande. Nur gefällt mir das aufgesperrte schreyende Maul nicht recht an ihr, es ist mehr gemacht als natürl. Die knieenden Weiber sind gleichfalls herrlich, u die Gruppe des Sohns der seinen Vater trägt mit dem jungen Buben daneben Meisterwerk; Aber doch gefällt mir all sein Nackendes nicht recht. [...] Der Kerl der herab springt ist wie geschunden. Der Tumult der Weiber u Kinder,weinend, schreyend u flehend u erschrocken, ist herrlich; u es giebt da schöne Gestalten. Am Nackenden ist er gescheitert, es muß meisterhaft coloriert seyn, wenn es Effect machen soll."

Gerade im Vergleich mit Goethe wird klar, wie unbestechlich und unabhängig Heinses Blick auf die Kunstwerke der italienischen Renaissance war. Heinse zeigte sich in seinen Aufzeichnungen als profunder Kenner der italienischen Malerei der Renaissance. Seine "Meßlatte" der Natürlichkeit, der Lebendigkeit nach der Wirklichkeit, wie auch seine Sprache sind heute noch durch ihre Unmittelbarkeit ergreifend. Auch wird bei vielen seiner Beschreibungen spürbar, daß Kunstgenuß für Heinse nicht oberflächliches Beschauen, sondern tiefe Versenkung und wahrhafte Hingabe an das jeweilige Kunstwerk bedeutete. So sagte er:

"Ich bin zu allem anderen, außer Natur und Kunst, verdorben. Meine Tage fliehen dahin in verzehrendem Feuer: die goldenen Stunden des Lebens, wo ich zu schaffen, und zu genießen, [...] vermöchte. Das kann ich nicht nach Herzenslust, ohne dem Schönsten, ohne der besten Natur und Kunst am Busen zu liegen und gelegen zu haben, Mark und Bein von Seligkeit und ewiger Wonne."

Diese euphorische Begeisterungsfähigkeit, die in den Nachlaßheften bei allen Kunstthemen spürbar wird, ist Heinse eigentümlich. Goethe hat wohl diese Anrührung oder "Nähe" selbst nicht erfahren.

 

autoreninfo 
Dr. Annegret Winter Studiert an der Universität Erlangen, promoviert bei Gerhard Bott, 1990-94 und 1996-99 Germanisches Nationalmuseum, 1994-95 Albrecht Dürer Gesellschaft, 1995-96 Institut für moderne Kunst Nürnberg, Lehrtätigkeit an der Akademie der Bildenden Künste und der Fachhochschule Architektur Nürnberg, ab 2000 Gründung Kunstbüro Winter. Arbeitet über Malerei des 19. Jahrhunderts, zeitgenössische Kunst und deutsche Künstler in Rom. Veröffentlichungen: Ein "style Mucha"? Zum Frauenbild in Kunst und Dekoration um 1900. Weimar 1995. -- Positionen und Tendenzen. Junge Kunst in Franken. Albrecht Dürer Gesellschaft Nürnberg 1995. -- Serge Poliakoff. In: Katalog Abstrakte Kunst. Neues Museum Nürnberg 2000. -- Gibellina -- Oder was tat Beuys in Sizilien? In: www.schwarzaufweiss.de, Sept. 2000. -- Div. Beiträge in Kunstbuchanzeiger ab 1998-2005.
Homepage: http://www.kunstbuero-winter.de
E-Mail: info@kunstbuero-winter.de

 

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