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no. 18: die jüngste epoche -> perspektive
 

perspektive

Die 'postmoderne Beliebigkeit' als Stilproblem, oder Was hat VW mit Liebe zu tun?

von Katja Mellmann

VW hat zur Internationalen Automobilausstellung 2003 unter dem Titel Aus Liebe zum Automobil eine großformatige Hochglanzbroschüre herausgebracht, in der die üblichen Bildkompositionen von Sonnenuntergang und glitzernden Radkappen, Kinderaugen und sicherheitversprechenden soliden Heckformen, gewaltiger Natur und erhabener Technik zusätzlich bereichert wurden durch -- Liebesgedichte. Ja, in der Tat: sentimentalische Gedichte, Aphorismen, Weisheitssprüche und Bonmots zum Thema Liebe. Das Spektrum reicht vom ersten Korintherbrief (vgl. taz, 20. September 2003) über LaRochefoucauld und Marie von Ebner-Eschenbach bis hin zu Erich Frieds berühmter "Was es ist"-Schmonzette und einer lyrischen Reflexion des Fußballers Diego Armando Maradona. Ein Feuilletonist der Jungen Welt findet diese neue Werbekampagne schlichtweg "zum Kotzen" und fragt bestürzt: "Was hat denn VW mit Liebe zu tun?" (Junge Welt, 2. Oktober 2003) Nichts, möchte man meinen. Aber so einfach kann man es sich nicht machen, schließlich leben wir in der Postmoderne, dem Zeitalter der Ironie, der Beliebigkeit eines 'Anything goes!'

Allerdings hat das VW-Marketing bei der Kombination von VWs und Liebe nicht so viel Ironie im Sinn, wie der hartgesottene Postmodernist vielleicht erwarten möchte. Denn was der VW-Konzern mit dem neuen Slogan Aus Liebe zum Automobil "bewußt betonen" möchte, ist laut VW-Chef Bernd Pischetsrieder eine durchaus ernsthaft angenommene "emotionale Seite" seiner Produkte. Diese objektive 'emotionale Seite' scheint verbürgt durch den allgemeinen 'Kultstatus' des Golf, auf den der Trendforscher Peter Wippermann auf der Präsentationsfeier des neuen Golf-Modells in Wolfsburg hingewiesen hat. Wippermann stellte zudem den äußerst geistreichen Vergleich mit dem Kultstatus der Insel Mallorca an: "Alle lieben diese Insel, aber jeder auf seine ganz individuelle Art und Weise" (lt. Spiegel online, 25. August 2003). Also lieben wir auch alle den VW Golf, jeder auf seine ganz individuelle Art und Weise? Das dürfte selbst für Angehörige der 'Generation Golf' eine unwillkommene Suggestion sein. "Wir wollen die Marke emotionalisieren", rechtfertigte man die neue Werbekampagne (lt. Financial Times Deutschland, 3. September 2003), und verriet damit, daß man an die Objektivität dieser 'emotionalen Seite' doch nicht so recht glaubt. Aber der Kunde soll schon dran glauben: "Die Gedichte dienen als emotionaler Schlüssel zu den Herzen der Kunden", so VW-Marketing-Chef Jörn Hinrichs (lt. Schweriner Volkszeitung online, 25. Oktober 2003). Unser aller Liebe zum Golf soll also authentisch sein, so authentisch eben wie sentimentale Liebesgedichte.

Doch nicht alle Herzen lassen sich so ganz bereitwillig von dem lyrischen 'Schlüssel' aufschließen. Der Feuilletonist der Jungen Welt leistet wackeren Widerstand: "Die nutzen die tiefsten lyrischen Empfindungen schamlos aus, um ihre Karren zu verhökern [...] Die vergehen sich an Sachen, die mir heilig sind." (Junge Welt, 2. Oktober 2003) Ein Vergehen also, ein Fehler, ein Delikt? Hat VW da irgend etwas falsch gemacht? Gibt es überhaupt etwas wirklich Falsches im Zeitalter der Beliebigkeit, des Relativismus? Gibt es ein Falsches im 'Richtigen' nach Postmoderne-Standards? -- Oder handelt es sich bei der neuen VW-Kampagne vielleicht gar um einen planvoll lancierten schlechten Scherz zu Adornos hundertstem Geburtstag?

Vielleicht sollte man sich vor einer Klärung dieser Fragen die betreffenden Postmoderne-Standards einmal etwas genauer ansehen. Und das zunächst auf dem Gebiet der Werbung, des Produktmarketing, der sogenannten Warenästhetik: Folgt man dem historischen Abriß, den Burghart Schmidt in einem Band der Schriftenreihe des Design Zentrums München (Die Beliebigkeit der Dinge -- Anything goes, 1996) gibt, so ist die Kombination von Waren mit bereichsfremden appellativen Reizen (Beispiel: Autoreifen und Damenbeine) nichts Neues, sondern schon seit den 60er Jahren ein übliches Verfahren der Produktwerbung. Das spezifisch 'Postmoderne' der neuesten Marketing-Strategien sieht Schmidt vielmehr in der narrativen Einbindung des präsentierten Objekts in (beliebige) Erlebniszusammenhänge, welche von der Werbung zu diesem Zweck eigens inszeniert werden müssen. Schmidt spricht diesbezüglich von einer "Simulation" von Erlebniskontexten.

Schmidts eigene Beispiele allerdings zeigen nur Erlebniszusammenhänge, die sich tatsächlich auf das betreffende Warenobjekt beziehen. Im Fall der VW-Werbung haben wir hingegen das Problem, daß sich die Liebesgedichte eigentlich auf ein anthropomorph gedachtes Gegenüber beziehen und nur der Stimmungsgehalt dieses textreich simulierten Erlebnisses dann auf ein Automobil projiziert werden soll. Auf eine solche -- man könnte sagen: metaphorische -- Verknüpfung oder Projektion gibt jedenfalls der Titel der Kampagne einen unübersehbaren Hinweis: In letzter Instanz geht es um die "Liebe zum Automobil". 'Liebe' also ist die Gelenkstelle der Metapher: Der sekundäre (nach Schmidt: der "simulierte") Erlebniskontext ist die Liebe zu einem Menschen; der primäre (der intendierte) Erlebniskontext ist die Liebe zum VW. Eine solche Divergenz der Kommunikationsebenen ist in Schmidts Konzept nicht eingeplant. Er geht nur von einer Beliebigkeit des Erlebniskontextes, nicht des Erlebnis-Objekts aus. Halten wir uns also an Herbert H. Schultes, der die Einleitung zu demselben Band verfaßt hat und meint: "Ohne Erlebnis geht gar nichts, aber welches Erlebnis ist egal. Hauptsache Erlebnis! Und insofern ist eigentlich doch alles beliebig. Anything goes!" In Schultes' Blick auf die aktuelle Produktwerbung scheint das Erlebnis selbst beliebig, die Inszenierungspraxis der Werbung also auch hinsichtlich der Objektwahl keiner Einschränkung unterworfen. -- Es sei denn der hier festgestellten Beschränkung auf die Bedingung einer metaphorischen Verwandtschaft. Und Metaphern gehören immerhin zum Bereich der Poesie. Ein hochgradig poetisches Verfahren also, das VW hier anwendet?

Poesie heißt für gewöhnlich: Registerwechsel, Wechsel vom funktionalen Modus der Kommunikation zum Spielmodus des Einfach-so-Daherredens, wenngleich oft mit 'tieferer Bedeutung', also einem 'poetischen Mehrwert'. Und da müssen wir nun über den zunächst abgesteckten Bereich der Warenästhetik hinaus gehen und allgemeinere gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge zu Rate ziehen, wenn wir beurteilen wollen, welche Position der VW-Werbekampagne im postmodernen Kontext zukommt. Und zwar den Kommunikationszusammenhang speziell der Zielgruppe, auf die VW mit dem Hinweis auf den 'Kultstatus' des Golf offenbar spekuliert: der 'Generation Golf'.

Wer ist das, die 'Generation Golf'? Man möchte es kaum glauben, aber zunächst einmal war das die Generation des "No Future!", der Punks der ersten Chaos-Tage 1982 in Hannover. 1991 war es dann die von Douglas Coupland ausgerufene "Generation X", und 2001 schließlich Florian Illies' "Generation Golf". Denn die Labels "No Future", "X" und "Golf" beziehen sich, rechnet man die dort ablesbaren biographischen Koordinaten aus, pi mal Daumen alle auf ein und dieselbe Generation: geboren um 1970 (plus/minus fünf Jahre), Teenagerzeit, Pubertät, und was man so Selbstfindungsphase nennt, in den 80er Jahren. Nur die Labels selbst stammen aus verschiedenen Zeiten: "No Future!" lautete die Parole um 1980, "X" um 1990, "Golf" um 2000. Also ein Weg vom Inhalt über die Ratlosigkeit zur Metapher? Die Punks (damals noch "Punker") versuchten ja immerhin noch einmal eine inhaltliche Bestimmung der generationsspezifischen Lebenserfahrung. Aber schon die 'Generation X' schreibt sich nichts mehr als eben den Mangel einer solchen Erfahrung auf die Fahnen. Die 'Generation Golf' schließlich setzt an dieser Stelle eine bloße Metonymie ein und öffnet das Feld der möglichen Selbstbeschreibungen somit für jede beliebige Metonymie.

Auch so ein Fall von 'postmoderner Beliebigkeit'. Denn wie lange sich diese Generationenbegriffe jeweils etablieren konnten, von wie vielen sie tatsächlich identifikatorisch aufgegriffen wurden und ob sie überhaupt eine 'Generation' im Sinne der alten 30 Jahre-Regel bezeichnen, das alles scheint nebensächlich. Jeder ist frei, einen solchen Begriff zu prägen, wenn er ihn gerade braucht, und ihn wieder zu vergessen, wenn er ihn nicht mehr braucht. Eben gerade weil es sich bei der generationseinenden Erfahrung um eine Leerstelle zu handeln scheint, ist ein Satz wie der folgende aus einer Publikumsrezension bei Amazon -- "Generation Golf? In meinen verschiedenen Freundeskreisen der letzten 12 Jahre gab es niemanden, für den dieses Auto irgendeinen Symbolwert hat" -- kein Grund, an der metonymischen Treffsicherheit von Illies zu zweifeln. Zumal es in derselben Rezension auch heißt: "als Generationsgenosse von Illies wird man Unzähliges wiedererkennen. Vom pinken Labello bis zum roten Pelikan-Füller, vom Negerkußbrötchen bis zu 'Stück ma'n rück': Ein hübsches Schmunzel-Sammelsurium, keine Frage."

Die vorerst letzte Beschreibung bei Illies scheint jedoch -- zumindest im deutschen Kontext -- aktuell die höhere Plausibilität gegenüber Coupland zu besitzen. Jedenfalls schreibt ein anderer Rezensent bei Amazon: "Wer bei Generation X und ähnlichen Büchern noch mit dem Kopf schüttelte und sich nicht wiederfand, dem sei Generation Golf empfohlen. Ein Muß für alle Angehörigen dieser Generation". Der Grund für diese höhere Plausibilität mag darin liegen, daß in Couplands Generation X noch von Werten, sinnhaften Selbstdeutungsmustern, Utopien, kurz: ideologischen Orientierungen die Rede ist. Generation Golf hingegen verlagert sich ganz auf die Dingwelt. Die Objekte der Epoche scheinen das einzig Stabile, Verbürgte, Maßstabsgetreue -- und vor allem Unverfängliche zu sein, das sich zur historischen Fixierung eignet. Denn die Metonymien, die die identifikatorische Leerstelle der betreffenden Generation besetzen, sind Zitate, keine 'Bekenntnisse' im funktionalen Modus von Kommunikation. Sie sind Spielmaterial, Anlässe zum 'Schmunzeln'.

Bezeichnenderweise war bald das einzige, was sich definitiv nicht zur Betitelung einer 'Generation' zu eignen schien, so etwas immerhin Monumentales wie 'die Wende'. Den Schuh der '89er Generation' wollte sich trotz mehrfach ergangenen Appells von seiten des Bundespräsidenten einfach keiner anziehen. Dabei meinen Soziologen und Kulturwissenschaftler, die sich der Erforschung des Generationsbegriffs in seinem Wandel widmen, daß uns im diffusen Fluidum der neuesten Geschichte die identitätsstiftenden großen Ereignisse verloren gegangen seien. Warum aber greift man dann die 'Wende' nicht begeistert auf? Was ist anders an der 'Wende' als an den bisherigen generationsstiftenden Ereignissen?

Als das erste große Ereignis dieser Art wird üblicher Weise der Erste Weltkrieg angeführt: Die danach auf den Plan tretende Generation amerikanischer und internationaler Schriftsteller identifizierte sich mit dem von Gertrude Stein geprägten Begriff der 'Lost Generation'; Karl Mannheim entwickelte seine Generationentheorie. In Deutschland wird die Selbstbeschreibung als 'Generation' vor allem nach 1945 virulent. Da gab es erst einmal eine 'Kriegsgeneration' und dann eine 'Nachkriegsgeneration'. Alle Angehörigen dieser Generationen einigte ein Fundus an gemeinsamen Erfahrungen, die, ob ausgesprochen wie in der Rede vom "Damals gab's ja nichts" oder eher unausgesprochen wie die traumatischen Kriegserfahrungen, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit garantierten, und eine Abgrenzung gegenüber den früher oder Nachgeborenen, die dergleichen nicht erlebt hatten. Und dann gab es 'die 68er', geeinigt von einer prinzipiellen Oppositionserfahrung, unabhängig davon, ob sie sich individuell-biographisch in aktivem Verhalten ausgedrückt hat oder stummes Problembewußtsein geblieben ist. Aber wie läßt sich die einende Generationserfahrung der 'Ära Kohl' auf den Begriff bringen, dieses paradoxen Zugleichs von äußerster Bewegungslosigkeit und Vorbereitung auf 'die Wende'? Das 'No Future!' der maskierten Gassenjungs scheitert an der Koexistenz der 'Yuppies', Couplands pathetischer Entwurf einer Generation von Suchenden konfligiert mit deren zunehmender Vorliebe für pseudo-affirmative und ironische Redegesten. Nur 'Golf' läßt sich gerade eben noch retten, unter der paradox erscheinenden Bedingung nämlich, daß es nicht unbedingt der Golf gewesen sein muß!

Mag der Boom von Generationslabels für die Generation der 80er auch auf den ersten Blick wie die erwartbare Fortsetzung eines alten Schemas, nur eben jetzt unter erschwerten Bedingungen erscheinen: Diese Ansicht relativiert sich, wenn man den Blick auf die heutige Präsenz anderer Dekaden im öffentlichen Diskurs ausweitet. Denn die Perspektivierung auf die schiere Dingwelt vergangener 'Epochen' bestimmt im Moment die gesamte populäre Kulturgeschichtsschreibung. Einige Verlage sind jüngst auf diesen Zug mit aufgesprungen: So referiert man zum Beispiel auf die 50er Jahre mit Titeln wie Testbild, Twen und Nierentisch; auf die 70er mit Faserschmeichler, Fönfrisuren und die Ölkrise oder Wickie, Slime und Paiper; zu den 80ern heißt es dann Neon, Pacman und die Yuppies. Auch hier wieder: Metonymien, die eine Dekade charakterisieren, eine 'objektiv' verbürgte Gestaltvorstellung eines übergreifenden Stils, eines Lebensgefühls bilden, eine abstrahierte 'Erlebnis'-Essenz bereitstellen sollen.

Vielleicht geht es ja primär gar nicht um Generationenbildung, sondern um das viel allgemeinere Anliegen, die Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Und zwar durch das Bereitstellen von simulativen Erlebniskontexten, wie in der Produktwerbung auch! Nur ist die Absicht hinter dieser Strategie hier nicht das Absetzen einer Ware, sondern gewissermaßen das Absetzen einer 'Episteme': Hier soll ein konsensfähiges Bild der Welt verhökert werden, in der wir leben und lebten. Je mehr Leute es einem 'abkaufen', desto besser: desto konsensfähiger, desto tragfähiger die Episteme! Tragfähig eben gemessen an den skeptizistischen Postmoderne-Standards. Eine Kulturgeschichte der metonymischen Dingwelt-Evokation entspricht ihnen offenbar.

An einer solchermaßen etablierten Kulturgeschichte kann sich dann freilich sekundär auch wieder die Suche nach einer kollektiven Identität bedienen, denn schließlich hat jeder seine "Zeit, in der er jung war". Diese Möglichkeit nehmen jedoch mit auffälliger Dominanz die Noch-später-als-Spätgeborenen wahr: die Leute eben, in deren Jugend eine nachhaltige ideologische Orientierung eklatant fehlgeschlagen zu sein scheint, die aufgewachsen sind in einem Zeitalter, in dem man Lechts und Rinks so leicht velwechsern kann.

In der Tat erfuhr der Begriff der 'postmodernen Beliebigkeit' seine Prägung vor allem im Kontext der politischen Frontenverwässerung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Seitdem läßt sich 'linker' und 'rechter' Politikstil angeblich nicht mehr recht unterscheiden, jedenfalls streiten sich die ehemalige Mitte-Links und die ehemalige Mitte-Rechts seitdem um den Platz in der 'Neuen Mitte'. Für den mitte-orientierten Wähler ergibt sich daraus zwangsläufig der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit seines Votums. -- Freilich, parteipolitisch malt sich da manches anders aus: So schreibt die CDU die 'postmoderne Beliebigkeit' natürlich nur dem Regierungsstil der SPD zu, nicht der Politik im allgemeinen (Jürgen Rüttgers in Die Politische Meinung, 20. Juni 2001). Aber das ist eine andere Geschichte, und die soll ein andermal erzählt werden.

Das Jahr 1989 also hat vielleicht den Begriff, nicht aber unbedingt auch erst das Phänomen der 'neuen Beliebigkeit' hervorgebracht. Eher hat umgekehrt das, was Jürgen Habermas schon 1985 die 'Neue Unübersichtlichkeit' nannte und was nun unter anderem auch als 'postmoderne Beliebigkeit' apostrophiert wird, das Jahr 1989 hervorgebracht: Gemeint ist der Komplexitätszuwachs und Kontingenzschub in der Selbstwahrnehmung aller modernen Gesellschaften, der 'westlichen' wie der 'östlichen'. So tauchte zeitgleich mit der Rede von der politischen Beliebigkeit immer auch die viel allgemeinere Rede von der 'neuen Beliebigkeit des Denkens' auf (s. zum Beispiel Hauke Brunkhorst, Der entzauberte Intellektuelle, 1990). Kulturtheoretischer Relativismus und die Annahme verschiedener 'Rationalitätstypen' bestimmen seit gut zwanzig Jahren die geisteswissenschaftliche Reflexion. Auch die ästhetisch-sinnliche Welt war, in Form der anti-historistischen Beliebigkeit der Architektur, neben der akademisch-geistigen mit von der Partie -- und gab außerdem den maßgeblichen Ausschlag zur Begriffsprägung 'Postmoderne'.

Und mehr noch: Die postmoderne Beliebigkeit ist nicht nur ein Phänomen der politischen, intellektuellen und ästhetischen Öffentlichkeit, sie ist qua Ironie potentiell jeder Alltagskommunikation inhärent. Der ironische Habitus der 'Generation Golf' selbst ist, aller sonstigen Beliebigkeit zum Trotz, von unanfechtbarer Verbindlichkeit: Die postmoderne Welt muß schließlich beweglich bleiben. "Bleib geschmeidig!", heißt der neue kategorische Imperativ. Es gehört zum guten Ton, möglichst wenig Anlaß zu geben, des Kulturpessimismus, Moralismus, Sozialneids, greisenhaften Starrsinns oder der spießigen Selbstgerechtigkeit bezichtigt zu werden. Der postmoderne Meinungspluralismus bzw. die ostentative Meinungsenthaltsamkeit haben ihre eigene Normativität entwickelt.

Und dennoch: Auch innerhalb des 'guten Tons' gibt es Unterschiede in der Handhabe: Wer dem 'guten Ton' entspricht, zeigt noch lange keinen 'guten Stil'. Oder ist es guter Stil, wenn VW auf seine Autoreklame neuerdings Liebesgedichte druckt? Verlassen wir also für einen Augenblick das adornitisch verminte Feld und behandeln wir die eingangs gestellte Frage nach der Übereinstimmung der VW-Werbekampagne mit den postmodernen Standards nicht als moralische, sondern als Stilfrage.

Die postmoderne Beliebigkeit wäre nach den Regeln der antiken Rhetorik ein Fall des aptum, des Stilprinzips der 'Angemessenheit'. Es besagt, daß zwischen Redegegenstand, Sprecher, Sprechsituation und Sprachniveau eine angemessene Kongruenz herzustellen ist. Die postmoderne Beliebigkeit als 'guter Ton' setzt, so könnte man sagen, dem gegenüber eine geregelte Austauschbarkeit des Redegegenstands und des Sprachniveaus als Norm. Geregelt insofern, als eine metonymische Erfahrungsnähe gegeben sein muß (so wie zwischen pinkem Labello, "Stück ma'n rück" und den biographischen Daten des Sprechenden). Die Austauschbarkeit des Gegenstands dient außerdem speziell der Vermeidung von bekenntnishaften Äußerungen, die Freiheit in der Wahl des Sprachniveaus bietet die Möglichkeit ironischer Verfremdung. Auch die postmoderne Beliebigkeit also gehorcht -- und jetzt sind wir wieder bei der Moral -- noch dem decorum, der 'Schicklichkeit', das ist: dem durch gesellschaftliche Konventionen festgelegten 'guten Geschmack'. Denn als 'gut' gilt in einer Zeit, die zu unübersichtlich ist für klare 'Meinungen', eben die Vermeidung des Vorschnell-Bekenntnishaften.

Und nun sieht es bei VW schlecht aus: Die Austauschbarkeit des Redegegenstandes (des personalen Gegenübers mit dem Objekt 'Automobil') soll kein Bekenntnis vermeiden, sondern im Gegenteil eines erzwingen: das Bekenntnis zur "Liebe zum Automobil". Die Verknüpfung der Objekte gehorcht keiner (zum Beispiel metonymischen) Regelhaftigkeit, sondern ist eine bloß assoziative Verknüpfung qua 'Liebe'. Die oben hypothetisch vorgeschlagene 'Poesie' dieser Assoziationsmetapher ist gar keine. Erstens fehlt der poetische Mehrwert dieser Assoziation. Zweitens ist die Metaphorik des VW-Marketing trotz der Verfremdung der werbenden Rede in der Maske der lyrischen Liebesrede keine poetische Metaphorik, keine poetische Ironie, denn das Automobil dient nicht als Spielmaterial in einer funktional entlasteten Sprechsituation, vielmehr soll die scheinbar 'ironische' Rede ja wieder in einen funktionalen Kommunikationszusammenhang einmünden: in den Kauf der Ware eben. Doch -- kann man 'ironisch kaufen'? Der angebliche 'Kultstatus' des Golf beschränkt sich ja auf dessen Verwendung in Buchtiteln und den kommunikativen Austausch von Vergangenheitssimulationen. Und Objekt solcher Kommunikation ist immer der Golf von anno dazumal (wenn also jemand 'ironisch' kaufen möchte, dann höchstens second hand, also 'retro'), nicht der 2003 präsentierte neue Golf, den VW per authentischem Liebesbekenntnis an den Mann bringen will (und der übrigens schon gefloppt sein soll). Das postmoderne decorum, der 'gute Geschmack' nach Postmoderne-Standards, wird von VW also mit Füßen getreten.

Quod erat demonstrandum: Die neue VW-Werbekampagne ist und bleibt auch gemessen am Standard der postmodernen Beliebigkeit ganz einfach eine Geschmacklosigkeit, ein Verbrechen am 'guten Geschmack'. Vivat Adorno!

 

autoreninfo 
Dr. Katja Mellmann Dozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität München seit 2000. Studierte 1994-2000 deutsche und französische Sprache und Literatur in München und promovierte dort 2005 mit einer Arbeit über Emotionalisierungsstrategien in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen: "E-Motion -- Being Moved by Fiction and Media? Notes on Fictional Worlds, Virtual Contacts, and the Reality of Emotions", in: PsyArt -- An Online Journal for the Psychological Study of the Arts, vol. 6, 2002, http://www.clas.ufl.edu/ipsa/journal/2002_mellmann01.shtml. -- Emotionalisierung - Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Studie zur Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006.
Homepage: http://www.mellmann.org/
E-Mail: katja.mellmann@germanistik.uni-muenchen.de

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