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no. 18: die jüngste epoche -> walter e. richartz
 

"Die Zeit steht. Ist stecken geblieben. Aus, fertig, nichts mehr zu machen."

Reklame für Richartz

von Sven Hanuschek

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* literatur
* druckbares
* diskussion

Der Beitrag stellt den Schriftsteller und Chemiker Walter E. Richartz (1927-1980) anhand seiner wichtigsten Arbeiten, der vier Romane Tod den Ärtzten, Noface, Büroroman und Reiters Westliche Wissenschaft vor. Richartz' Werk verbindet die experimentellen Tendenzen seit der frühen Moderne mit angelsächsischem Erzählen und nimmt darin spätere Entwicklungen vorweg. Seine Themen -- Entindividualisierung, elektronische Revolution, Umweltzerstörung, die Ambivalenz des USA-Booms, die Unkontrollierbarkeit der Wissenschaften -- greifen weit über die Entstehungsjahre der Texte hinaus. Der letzte Roman schließlich steht ganz im Zeichen des Endzeitbewußtseins zu Beginn der 80er Jahre.

 
"Mehr Härte. Mehr Dynamik. Das Kostenverhältnis muß günstiger werden. Dr. Altenberg, metallisch: 'Mehr Kosteneffektivneß -- wie man drüben sagt.' -- 'Neue Methoden des Marketing.' Wir haben die finanziellen Möglichkeiten und müssen sie rücksichtslos einsetzen. Mehr 'Pauer' fordert er, mehr 'Pusch' -- und ballt eine Faust vor dem Mikrophon.
Doch nun mildert Dr. Altenberg seinen Tonfall, er läßt jetzt Herzlichkeit aufkommen. Blaublitzende, blühende Herzlichkeit. Trotz aller Schwierigkeiten den Optimismus behalten. Unsere Ässets. 'Unsere Haupt-Ässets sind unsere Menschen', sagt Dr. Altenberg."

Das ist keine Mitschrift aktueller Politikerreden und ihrer Versuche, rabiate Kürzungen als Bildungspolitik zu verkaufen. Die Anglizismen würden heute verwendet ohne die Formel "wie man drüben sagt", sie sind uns so geläufig geworden, daß wir sie nicht mehr bemerken. Das war ein Ausschnitt aus der Beschreibung einer Betriebsratsversammlung in den 70er Jahren, wie sie Walter E. Richartz in seinem Büroroman (1976) darstellt. Einer seiner drei Protagonisten -- mit dem unsichtbaren Erzähler wären es vier -- erlebt die Versammlung so:

"Kuhlwein lebte allein, oder, im Büro, mit zwei Menschen. Er fühlte sich unwohl in Menschenmengen. Reden, Rufen, Mikrophone. [...] Die Wiederholungen. Wenn bestimmte Worte dauernd wiederholt wurden, hörte man schließlich nichts anderes mehr. Dann wartete man nur noch auf diese bestimmten Worte. 'Leeschenunleschen' ... 'Itawaiter, Itawaiterinnen' ... 'Betriebs ..., Betriebsrat' immer wieder: 'Riehb-Rab -- Riehb-Rab'. Gewisse schneidende Worte, wie die des Gewerkschafters. Kamen auf ihn zu, wie Zeigefinger.
Die wollen doch was! Was wollen die denn? Was soll ich denn tun?"

 

Walter E. Richartz -- W.E.R.? Leben und Werk im Überblick

Walter E. Richartz (1927-1980) war einmal ein bekannter Schriftsteller, am bekanntesten vielleicht in den Jahren nach dem Büroroman, seinem erfolgreichsten Buch, und über seinen Tod 1980 hinaus durch den postum erschienenen Roman Reiters Westliche Wissenschaft (1980). Er ist heute kein bekannter Schriftsteller mehr, immerhin aber auch kein vergessener: Ein Band mit Gesammelten Erzählungen ist unter dem Titel Das Leben als Umweg lieferbar, außerdem der Büroroman und sein Romanerstling Tod den Ärtzten (1969). Daß es gerade diese beiden Bücher sind, mag den Titeln zu danken sein, es gibt doch etliche Menschen, die mit Büros und Ärzten zu tun haben und auch sonst einmal ein Nachttischbändchen für die liebe Familie kaufen (vielleicht ist diese Mutmaßung allzu pessimistisch).

Richartz' Werk ist für ein fast zwanzigjähriges Schriftstellerleben dem Umfang nach schon beachtlich -- sein erstes Buch war ein Sachbuch, Die Jazz-Diskothek (1961, zusammen mit Gernot Elmenhorst), die bisher letzte Nachlaßpublikation das Bändchen Schöne neue Welt der Tiere (1987). Es ist allerdings ein gewaltiges Oeuvre für einen Autor, der einen Brotberuf hatte: Richartz war unter seinem bürgerlichen Namen Walter von Bebenburg Chemiker, Inhaber vieler Patente, angestellt in der Forschungsabteilung eines Frankfurter Pharmakonzerns, daher der hessische Einschlag in der zitierten Passage. Erst wenige Monate vor seinem Tod hatte er die Stelle dort aufgegeben, um ausschließlich als freier Schriftsteller zu arbeiten. Richartz hat vier große Romane veröffentlicht, elf Erzählungsbände (zum Teil bei Diogenes und Haffmans, zum Teil in bibliophilen Verlagen), zusammen mit Urs Widmer hat er Shakespeares Stücke in Prosa nach- und neu erzählt (1978), es gibt 13 Hörspiele, außerdem Essays, Stücke, Rezensionen, Editionen, natürlich Forschungsbeiträge auf dem Gebiet der Chemie. Überdies war Richartz ein gefragter Übersetzer, seine Arbeiten auf diesem Gebiet sind weiterhin fast vollständig im Buchhandel lieferbar: Henry David Thoreau, Lewis Carroll, Stephen Crane, Raymond Chandler, Dashiell Hammett, F. Scott Fitzgerald, William Faulkner, Patricia Highsmith, Edward Gorey.

Walter E. Richartz hat in seinem erzählerischen Werk viele spätere Entwicklungen vorweggenommen, gleichzeitig sind ihm die späten 60er und die 70er Jahre deutlich anzumerken; ein Schwellen-, ein Umschalt-Werk gewissermaßen. Seine Anfänge stehen in den Fortschritts-Vorstellungen der frühen Moderne, der Kritischen Theorie; die ersten Bände, 'experimentelle', 'avantgardistische' Prosa, sind in kleinen, durchaus aber renommierten Verlagen wie der Eremiten-Presse erschienen. Sie sind stilistisch noch nicht souverän, brauchen noch große Gesten, eröffnen aber bei aller Suche nach dem eigenen Ausdruck doch zentrale Bildbereiche und Themen des späteren Werks: die Frage nach der Kompatibilität der 'Zwei Welten' naturwissenschaftlicher und literarischer Intelligenz, eine im Gefolge von Charles Percy Snow in den 60ern geführte Debatte, die Richartz sozusagen in Personalunion in sich auszutragen hatte; die erschwerte Orientierung in der Welt durch die Erfahrung einer bedrohlichen, übermächtigen Leiblichkeit; und, damit verknüpft, das "Kapselbild", das Gregor Arzt überzeugend dargelegt hat -- die Erfahrung des Abgetrenntseins von anderen in jeder Hinsicht, an deren Überwindung die Protagonisten Richartz' sich so hartnäckig wie vergeblich abarbeiten. In den ersten Arbeiten wird dieses Bild erkannt und ausformuliert, in den nächsten Jahren bleibt es als überindividuell gültiges ein Zentrum des Werks, ohne noch überdeutlich artikuliert zu werden.

Richartz ist auf experimentelles Schreiben mehrfach zurückgekommen, er hat immer wieder Serien kurzer, nicht-mimetischer Texte geschrieben, die ein wichtiges Kriterium 'postmodernen' Schreibens erfüllen: Sie müssen nicht von vorne nach hinten gelesen werden, die Leser können auf jeder Seite aufschlagen und einen Einstieg finden. Besonders weit hat das Marshall McLuhan getrieben, über den Richartz den Essay Vorwärts ins Paradies oder Was ist dran an McLuhan? (1969) geschrieben hat. Allerdings ist er nie den Torheiten der Richtung verfallen, der Inhaltsentleerung einerseits und einem trivialen Begriff von Selbstreflexivität andererseits, der sich in der Darstellung eigener Schreibprobleme äußert. Das bekannteste Bändchen mit solchen Kurztexten dürfte die Schöne neue Welt der Tiere (1987) sein, in dem sich 55 neue Tierarten vorstellen. Einige sind unbezweifelbar Neuzüchtungen der Genetiker, andere wirken aber seltsam vertraut, etwa das Achdu-Tier:

"Das Achdu-Tier lebt von Seufzern, es trinkt Tränen und wälzt sich schlaflos über Kissen und Plumeaus bis Kairo. Es hat eine dicke Backe und zwei lang herabhängende Nasen. Seine Bewegungen gleichen einem durch Magenschlag getroffenen Detektiv. Es schmeckt nach Erdbeer-Yoghurt. Gewöhnlich wird es von seiner Umgebung gemieden, die Ferne dagegen hält sich neugierig ein Lorgnon vor."

 

Der erste Roman: Tod den Ärtzten

Den Durchbruch stellte sein erster Roman dar: Tod den Ärtzten (1969). "Ärtzte", "wie wir von nun an sagen wollen, damit ihr scharfes Wesen klar hervortritt, ein Sekret, eine nebelnde Säure, die alles zerfrißt!" Das Buch besteht aus mehreren 'wissenschaftlichen' Abhandlungen eines Herrn W. E. Richartz, manchmal auch W. E. R., eines Pamphletisten, der die Weltverschwörung der Ärzte aufdeckt, die "MEDIZINISCHE WELTVERFLECHTUNG", ihr "System" nachweist, ihre Sexualität ventiliert ("Jugendverbot!") und zum Handeln aufruft. Dieser Kulturkritiker trägt Züge eines Rechtsradikalen, aber nicht nur -- das Verfertigen eines Wahnsystems (auch eines wissenschaftlichen) wird in hysterisch kreischender Rhetorik vorgeführt, zusammen mit seiner Wirkung: Die Pamphlete haben nicht nur einen korrekten Fußnotenapparat, sondern auch eine Anmerkungsebene, die tatsächlich etwas wie eine Romanhandlung enthält. Sie beginnt mit mehr oder minder zustimmenden Ausrufen eines Lesers ("Stimmt!", "Kühne Behauptungen!" u.ä.) und erzählt den Beginn einer radikalen Anti-Ärzte-Partei. Kaum zufällig hat sie sieben Mitglieder, die Zahl der Gründungsmitglieder der NSDAP; die Anmerkungen bestehen aus absurdistischen Protokollen, Dialog-Mitschriften eines ungenannten "Ich": "Herr Tredwind sieht mich scharf an: Wie alt sind Sie? Der Tod ist schließlich nicht irgend etwas! (Müller-Clausthal ist auf Reisen.)" Die Argumentatiosstrategien der Ludendorff-Bewegung spielen eine gewisse Rolle in Tod den Ärtzten, auch Mathilde Ludendorff verstand sich in ihren zahlreichen Traktaten als Wissenschaftlerin. Eine biographische Pointe ist, daß sie Richartz' Großmutter war, daß er zeitweise bei ihr aufgewachsen ist und ihren Erziehungsvorstellungen unterworfen war. (Gregor Arzt stellt seinem Buch über Richartz eine Photographie voran, die den Neunjährigen beim Spaziergang mit Mathilde und Erich Ludendorff zeigt.)

 

Schieflage zu Kritikerwünschen

Alle vier Romane, auf die ich mich beschränken will, sind mehrschichtige Werke, obwohl Richartz sich immer stärker von den offensichtlichen Doppelbödigkeiten der frühen Werke -- auch Tod den Ärtzten hat noch etwas davon -- entfernt hat. Besonders die beiden Romane um John Reiter, auch der Büroroman, erzählen wieder traditioneller, 'angelsächsischer', ohne doch in dieser Tradition aufzugehen. Auch das ist eine Vorwegnahme; das Erzählen wurde von der deutschen Literaturkritik nur bei der nord- wie lateinamerikanischen Literatur akzeptiert, die wenigen deutschen Autoren, die sich als 'Erzähler' verstanden, hatten es schwer (neben Richartz denke ich vor allem an Uwe Timm). Diese Pflicht zur Verweigerung macht die Literatur der 80er insgesamt so steril und blaß, soweit sie nicht noch dem politischen Engagement der 70er anhängt und versucht, es durch komplexe ästhetische Strategien gewissermaßen zu retten. Erst in den 90ern ändert sich der literaturkritische Diskurs, der hartnäckige Mißerfolg des angedeuteten Typs von Selbstreflexionsliteratur erreicht auch die Kritiker, und sie feiern statt ihrer Privatavantgarden nun krisensichere Kanonautoren (Goethe) oder trompeten tatsächlich für eine 'Wende' hin zum Erzählen: Es darf wieder erzählt werden. Davon konnte Richartz nicht mehr profitieren, sein Werk kam zu früh.

 

Mit John Writer lustvoll gegen das Individuum: Noface

Die Literaturkritik hat bestenfalls eine, zwei Schichten dieser Romane erkannt; auch die im übrigen, vor allem in der lebens- und geistesgeschichtlichen Kontextualisierung grundlegende Arbeit von Arzt ist in der Analyse der beiden letzten Romane etwas enttäuschend. Seit Noface -- Nimm was du brauchst (1973) kommen die Bücher ganz leichtfüßig daher, ihre Protagonisten sind durchschnittlich, leicht nachvollziehbar, ohne doch nur Demonstrationsfiguren zu sein. Noface erzählt von einem turbulenten "Interim", einer Lebenssituation des Protagonisten John Reiter, der in den USA eine Stelle als Assistenzarzt antreten soll und in Hamburg sein Schiff verpaßt. Ohne Papiere, ohne Gepäck macht er die Erfahrung, daß ihn niemand -- auch nicht sein Freund, bei dem er zuvor gewohnt hat -- erkennt. Er ist aus allen Bezügen herausgefallen, und er untersucht systematisch seine offensichtlich fehlende Wiedererkennbarkeit an einer Würstchenbude -- beschimpft den Inhaber, die Wurst sei eine Zumutung, wirft die Wurst über den Tresen ins Wageninnere zurück. Diesen Auftritt wiederholt er in immer kürzeren Abständen, ohne daß ihn der Wurstbrater erkennt.

"Beim nächsten Versuch, nach einer Zwischenzeit von 30 Minuten, gab es die ersten Besonderheiten. Der Kunde (wie zuvor, blau-rot, auffällig) wurde erst nach einem gewissen Zögern bedient. Der Inh. erklärte, daß der Kunde ihm irgendwie bekannt vorkomme, daß er unangenehme Empfindungen in ihm wecke -- ein unangenehmes Erlebnis, mit gewissem Stänkerer [...] -- vielleicht nur eine äußerliche Ähnlichkeit, vielleicht nur die Kleidung. [...] Nach der Aushändigung der Wurst weiterer Ablauf wie gehabt, jedoch seitens des Inh. starke Wut, stärkere Nervosität, Schweißausbruch. Retournierte Wurst dem sich entfernenden Kunden nachgeworfen.
Wurde die Zwischenzeit weiter verkürzt, so erfolgte keine Bedienung mehr; zunächst einfach ohne Begründung, unartikulierter Ärger; dann -- nach weniger als 10 Minuten -- gleich mit Schimpfworten, Beleidigungen etc. Inh. begann tätlich zu werden [...] Das Schlußresultat der Serie: Erst nach Zwischenzeiten von weniger als zehn Minuten wurde der Kunde sicher wieder erkannt."

Beiläufig die Karikatur eines wissenschaftlichen Experiments, zeigt diese zentrale Szene des Romans, daß es wohl mit kulturkritischen Erwägungen -- es handle sich um eine Parabel des gesichtslosen Massenmenschen, Probleme der Identität etc. -- wohl nicht getan ist. Noface zelebriert die Konsequenzen der Bindungs- und Gesichtslosigkeit, Reiter wird kriminell, ohne daß er erwischt werden könnte, all das mit spürbarem Vergnügen. Der Roman mündet in eine turbulente Krimihandlung mit mafiotischen Elementen, "Noface" wird zu einem populären und unauffindbaren Phantom. Abschließend kommt es doch zur Wiedererkennbarkeit, Reiter kann das Schiff ein Jahr später nehmen und erhält sogar seine Stelle noch, weil er seinem amerikanischen Chef nicht vermitteln kann, daß er doch ein Jahr zu spät komme ("Now, don't be ridiculous"). "Ein Jahr ist nichts", muß er erkennen. Daß es mit dem Individuum nicht mehr weit her ist, eines der späteren Steckenpferde der 'Postmoderne', führt hier nicht zu Empörung, Trauer oder eben Kulturkritik, sondern zu einem "besonderen Lustgefühl", wie Arzt aus einem Brief Richartz' zitiert. Daß bei aller Komik in den Richartz-Romanen stets auch eine depressive Grundierung herrscht -- eine denkwürdige, seltene Mischung -- läßt sich an Noface noch am besten greifen und erklären; der vollständigen Bindungslosigkeit, Nicht-Individualität, Nicht-Zeit werden wir schließlich alle anheimfallen, früher oder später, im Tod.

 

"Jeder glaubt gerne, daß er wichtig ist." Büroroman und die Zeitenwende

Der eingangs zitierte Büroroman führt vor, wie der Büroalltag in der Niederlassung eines Industriekonzerns die dort Beschäftigten zugrunde richtet. Von den drei Insassen des Büros, die der Roman verfolgt, hat am Ende einer, die Auszubildende (in diesem Ambiente sprach man noch von Fräulein Mauler), die Flucht ergriffen, der Dienstälteste ist tot, seine jahrzehntelange Kollegin liegt nach einem diabetischen Schock im Koma. Die Verläufe dorthin werden sardonisch und unbarmherzig genug gezeigt, die Unentrinnbarkeit dieser 'Kapselwelt' an rituellen Ereignissen aufgewiesen: Betriebsversammlungen, Chef-Besuche, die Kantinenmahlzeiten, die "große Mopserei". Nicht einmal ein Glasbruch schafft Abhilfe, als ein Fensterputzer verunfallt und just in das Büro der Damen und Herren Klatt, Mauler und Kuhlwein stürzt. Für ein paar Stunden gelangt zwar Außenluft ins Büro, und Kuhlwein überlegt schon, ob er seinen Alltag nicht durch einen Fenstersturz in die Gegenrichtung, nach draußen, fruchtbar verändern soll; aber er läßt es bleiben, und am nächsten Morgen ist die Chance vertan, die Glasfront repariert. Das Erstaunlichste an diesem Roman ist wohl, wieder neben der Komik, die Richartz diesen äußerst trostlosen Zuständen abgewinnt, wie viele Möglichkeiten er findet, vielfältige Zeitmaße zu veranschaulichen, die nebeneinander her laufen -- im Zeitraffer-Kapitel sind es ganze Lebensläufe, im Tageskapitel Schneckenstunden kommt es zum Stillstand:

"Es ist 15:10.
Es ist 15:10.
Es ist 15:11 -- nein; eine Täuschung.
Es bleibt 15:10. -- Weiter geht es nicht. Es ist schon ein paar Mal nur schleppend weiter gegangen -- aber jetzt ist es ganz aus. Die Zeit steht. Ist stecken geblieben. Aus, fertig, nichts mehr zu machen."

In dem Kapitel Die Daumenreise bestimmt ein blauer Fleck im Daumennagel das Maß, acht Monate braucht er, bis er sich ausgewachsen hat. Im letzten Kapitel, die Menschen sind abgewickelt, wird innig beschrieben, was ewig bleiben wird: Bakelitschalen, Löschblattwiegen, Drehstühle, Urlaubskarten. Daran mag sich nichts geändert haben, der Roman steht aber dennoch an einer Schwelle: Er bewahrt traditionelle Arbeitsverhältnisse auf, die sich schon überlebt haben. Die Arbeit des Musterbüros wird seit Jahren von einem Computer und einem Shredder getan; die häßliche Pointe am Schluß ist, daß das verfehlte Leben der Protagonisten nur von der Geschäftsleitung aufrechterhalten wurde, weil die Entlassung jahrzehntelanger Mitarbeiter teurer gewesen wäre. Die Schwelle zum technologisch-elektronischen Zeitalter wird im Büroroman allerdings nur so elegant genommen, um etwaige Aufbruchshoffnungen gleich wieder zu desavouieren: Natürlich werden die ewigen Büroaccessoires auch die Neuen Medien überleben, suggeriert der Roman; natürlich wird das alte verfehlte Leben nur vom neuen abgelöst werden; und es ist sehr einfach, Menschen zu belügen:

"Großer Täuschungsmanöver bedarf es dabei nicht. Jeder glaubt gerne, solange wie möglich, daß er wichtig ist. Vielleicht gibt er's auch nur vor. Vielleicht glaubt er's selbst nicht. Vielleicht weiß er mehr, als wir ahnen. Es kann sein, daß daraus Auswirkungen auf seine Lebenskraft entstehen. Diese Auswirkungen könnten sich zugunsten der Firma entwickeln."

 

Naturverwüstung, Menschenverwüstung: An der Schwelle zu den 80er Jahren

Der letzte Roman Reiters Westliche Wissenschaft, postum im Jahr von Richartz' Freitod erschienen, setzt die Lebensgeschichte John Reiters fort, nun ist er in den USA zur Zeit des Watergate-Skandals und übernimmt ein Forschungsprojekt zum Thema Mucus. In dessen Rahmen macht er eine Irrfahrt durch amerikanische Forschungszentren und Lebensverhältnisse, lernt outcasts ebenso gut wie Professoren kennen, als sich die ersten konstruktiven Ergebnisse abzeichnen, interessiert ihn das nicht mehr. Die letzten Seiten zeigen ihn auf dem Rückflug, resigniert, er hat Abschied von den USA, der Wissenschaft und seinem Beruf als Mediziner genommen. Ein offenes, gleichwohl düsteres Ende ohne die Andeutung einer Lösung. Immerhin geht im letzten Satz während des Fluges "mitten über dem Atlantik rasend schnell die Sonne auf", eine abschließende Vorausdeutung, aber worauf bloß?

Bei Mucus handelt es sich um Schleim, wörtlich genommen um den vielfältigen Schleim im Inneren des Menschen -- Magenschleim, Lungenschleim usw., ein chemisches Unikum, das zahlreiche biologische und chemische Probleme aufwirft -- was hat der ausgeschneuzte Schleim mit dem im Magen zu tun, der den Körper nie verläßt? was sind exakt die Funktionen von Schleim? wie verändert er sich, wozu? Weniger wörtlich genommen ist er eine Großmetapher der Zeit, an Universitäten wie vermutlich auch anderen Institutionen weiterhin das wichtigste "Transportvehikel" für Karrieren, wichtiger als etwa Forschungsarbeiten. Reiter rutscht sozusagen hinein in dieses Projekt, fast ein bißchen beschränkt am Anfang, und er muß erfahren, was Wissenschaft ist, wie sie funktioniert, welche mikrologischen Fragen sie stellt, letztlich, was sie nicht kann -- Mucus ist ein Übergangs-, Grenz-, Verbindungsphänomen, das nur über eine "ganzheitliche Beobachtung" zu erkennen wäre. Der "Zusammenhang", "das, was das Leben in Gang hält" (Gregor Arzt), ist wissenschaftlich nicht zu fassen, eine Zusammenfassung von Teil-Teil-Wahrheiten muß noch lange keine übergreifende Wahrheit ergeben.

Was nutzbar ist, gilt als Erfolg, nur das Benutzbare, das ökonomischen Rechnungen genügt, wird überleben in der zeitgenössischen Gesellschaft. Das Lebensgefühl, das hier artikuliert wird, entspricht dem heutigen; die Ängste sind zumindest sehr ähnlich, vielleicht sind noch neue dazugekommen, wenige alte weggebrochen, an der Gesamtprognose hat sich nichts geändert.

"Was nicht ins Bild paßt, wird ausgesperrt. Die großen Vernachlässiger. Die Kurvenanpassung mit Korrekturgliedern. Das Denken mit unverrückbaren Ausgangspunkten, und von da an wird immer ein wenig geschwindelt. Die Naturverwüstung kommt in zweiter Linie, zuerst die Menschenverwüstung, Verkarstung des Bewußtseins.
Erfolg als Kriterium für Richtigkeit. Sehen Sie doch, was die Wissenschaft geleistet hat. Immer mehr Bits pro Quadratmillimeter, immer mehr Kleenexverbrauch pro Kopf, immer weniger Atemluft pro Lunge, immer weniger Zukunft pro Kopf."

Auf das bis heute kaum veränderte Bild der scientific community, das der Roman Reiters Westliche Wissenschaft vermittelt, soll hier nicht weiter eingegangen werden, ebensowenig auf die Aktualität des komplexen und düsteren Amerika-Bildes. Außer Frage steht: Hier sind wir endgültig in den 80er Jahren angekommen. Die künstlichste Welt der künstlichen 80er waren zweifellos die USA, und Reiter setzt sich allem aus, von Disneyworld bis Wattebrötchen und Plastikmöbeln. Die eindringlichsten Bilder findet der Roman vielleicht für die Umweltkatastrophe, obwohl die Naturverwüstung in die 'zweite Linie' gestellt wird. Reiter freundet sich mit frühen Vertretern radikaler Umweltschutzgruppen an, beteiligt sich an Aktionen, diskutiert mit ihnen als der ökologische Parzival, der er als Mediziner kurz nach dem Examen ist, bemerkt seine Arg- und Ahnungslosigkeit, ohne die Beschränktheiten seiner Freunde zu verschweigen, deren Ganzheitsideale ihm oft weltfremd und naiv vorkommen, bei denen es -- zum Beispiel -- mit women's lib auch noch nicht weit her war.

Die spektakulärste Aktion findet in einer unbelebten Industriehalde unter Beobachtung durch mehrere Polizeihubschrauber statt, eine leblose Mondlandschaft am Ufer des Cuyahoga. Die Karawane der Aktivisten rollt mit ihren Autos ans Ufer, durch knirschenden, graphitfarbenen Industriemüll. Sie rollen künstlichen Rasen aus, stellen Campingmöbel auf, heizen einen Grill an und braten plastic food, Plastikobst, -gemüse, -hähnchen, bis der Kunststoff weiterbrennt. Dazu singen sie Protestlieder, stellen eine amerikanische Flagge auf, und Transparente mit Slogans wie "Come and see the land of the free", "Diese Landschaft ist Napalm-fest". Sie verteilen die schwelenden Kunststoff-Lebensmittel in der Halde, auf der so immer mehr stinkende, rauchende Herde bleiben. Die Polizei rückt nun auch am Boden näher, Polizeitruppen mit Lederhelmen in Formation, sie fordern auf, das Gelände zu verlassen. Alles wird von den Aktivisten mit einer Kamera aufgezeichnet:

"Der Chor sang noch lauter. Der zweite Hubschrauber knatterte dicht darüber, so daß die losen, bunten Kleider und die amerikanische Flagge heftig flatterten. Ich erreichte den Rand der Böschung und sah die schwarze Flüssigkeit des Flusses, fast unbewegt, mit treibenden Kisten, Brocken, Fässern. Das Wasser selbst schien klumpig oder breiig. Zwei, drei der am Rand Stehenden hatten brennende Fackeln in der Hand. Ich sah Keith an dem bröckelnden Schräghang knien und filmen, wobei er mehrmals abzurutschen drohte. Zoe stand oben und hielt den Arm bereit. Hinter uns stand Gus noch immer wie angewurzelt, hell und allein auf der schwärzlichen Fläche, über die jetzt eilig ein großer Wolkenschatten glitt, mit sekundenlanger Finsternis.
Die Polizisten waren zu einer Kette ausgeschwärmt und näherten sich rasch. Hinter ihnen blitzten die Autos; alles wie ein Weltraumfilm. Aus dem Megaphon kam noch einmal eine ähnlich klingende [...] Verlautbarung. Ich hörte neben mir einen kleinen, chinesisch aussehenden Mann zu seiner rothaarigen Freundin sagen, sie solle zum Auto gehen und es anlassen. Ich sah noch andere, die sich, mit erzwungener Ruhe, mit Seitenblicken auf die Polizei, zu ihren Autos zurückzogen.
Plötzlich flogen die Fackeln durch die Luft. Als sie die Oberfläche des Flusses berührten, fuhr eine heiße Welle an unseren Gesichtern vorbei; es gab eine kaum hörbare, aber fühlbar starke Lufterschütterung, dann brannte der Fluß. Der Fluß brannte! Er war so mit Abfällen vermischt und beladen, daß er brennbar wurde! Der Fluß brannte!"

Reiters Westliche Wissenschaft zieht die Leser von Anfang an durch seine scheinbare Einfachheit im Duktus, durch die Einfalt der Hauptfigur und schiere Handlungsspannung in Bann, es ist sicher der am stärksten 'angelsächsisch' erzählte Roman von Richartz. Im letzten Drittel, während der 'Krisis' des Protagonisten, notiert er in oft aphoristischen Abschnitten seine Gedanken, Träume, Halluzinationen, die durch die behutsame Hinführung der ersten zwei Drittel zwingend bleiben und zu dem skizzierten verzweifelten Fazit führen. Richartz war gleichermaßen ein prominenter Chemiker wie ein prominenter Schriftsteller, der offenbar die stark zunehmenden Versuche von Naturwissenschaftlern, sich zu fachüberschreitenden Sinnfragen zu äußern, schon am Anfang der 80er Jahre gleichzeitig diskreditiert wie -- auf anderem als dem vorhandenen Niveau -- eingefordert hat.

 

Mehr Richartz!

Daß dieses Buch so unbekannt ist in derart mukösen, wissenschaftsgläubigen, profitsüchtigen Zeiten, in der obendrein noch die Grünen in der Regierung sitzen; ja, daß der Roman nicht einmal im Buchhandel erhältlich ist, ist ein Skandal. Richartz' Nachlaß ist noch unzugänglich in Privatbesitz; von den wenigen, die nach seinem Tod die Tagebücher lesen konnten, wird in den höchsten Tönen von ihnen gesprochen, Uwe Herms hat sie mit denen Max Frischs verglichen, Harald Wieser hat einige vielversprechende Passagen zitieren können. Es bleibt also zu hoffen, daß wir von Walter E. Richartz noch hören werden.

 

autoreninfo 
Sven Hanuschek (*1964), Publizist und Germanist, lehrt Neuere deutsche Literatur am Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik der Münchner Universität (seit 2000 als Akademischer Rat, seit 2003 Privatdozent). Zahlreiche Aufsätze und Rezensionen; Bücher über Heinar Kipphardt, Uwe Johnson, Erich Kästner. Veröffentlichungen: Geschichte des bundesdeutschen PEN von 1951 bis 1990 (Niemeyer, 2004) -- Elias Canetti. Biographie (Hanser, 2005) sowie die Editionen: HAP Grieshaber/Heinar Kipphardt: Das Einhorn kommt gerne bei Nacht. Briefwechsel (belleville, 2002) -- Erich Kästner: Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972 (Atrium, 2003).

 

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