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no. 6: x. generation -> literaturüberblick
 

Türkische Namen, deutsche Texte

Ein Literaturüberblick Ende 1999

von Tom Cheesman/Deniz Göktürk

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* druckbares
* diskussion

Schriftsteller mit nicht-deutschem Hintergrund -- von Kemal Kurt als die "Fünfte Literatur" bezeichnet -- sind derzeit in der deutschen Literatur äußerst präsent. Die größte 'ethnische Minorität' Deutschlands umfaßt über zwei Millionen türkische Deutsche oder Deutsch-Türken. Wird ihre Stimme auf dem literarischen Markt tatsächlich gehört?

 

In Sachen Literatur wurde bis jetzt mehr über Deutsch-Türken gesprochen, als daß sie selbst zu Wort (oder besser gesagt: zum Schreiben) kämen. Kemal Kayankaya, der hartgesottene, des Türkischen nicht mächtige Detektiv in Happy Birthday, Türke (1987) und anderen Romanen, ist eine Erfindung von Jakob Arjouni -- und der ist, nach welchen Kriterien auch immer, keineswegs türkisch, selbst wenn das international erfolgreiche Marketing des Buches und des nachfolgenden Films dies glauben machen konnte. Es gab sogar peinliche Zwischenfälle, als die Organisatoren multikultureller Literaturfestivals in letzter Minute feststellten, daß Arjouni nicht auf authentische Weise für die Belange von Migranten, ja nicht einmal der bikulturellen Nachkommen von Migranten sprechen konnte, so daß sie seine Einladung zurücknehmen mußten. Auch zeichnete die international einflußreichste und am meisten wahrgenommene Repräsentation von Deutsch-Türken, Günther Wallraffs Buch und Film Ganz Unten (1985) -- das schnellst-verkaufte Buch in der Geschichte der BRD -- Gastarbeiter ausnahmslos als der Artikulation unfähige, leidende Opfer bösartiger deutscher Ausbeuter. Und die am Meisten gepriesene literarische Darstellung eines türkischen Immigranten in Deutschland stammt von einem anderen gar-nicht-türkischen Deutschen, Sten Nadolny, in seinem Roman Selim oder die Gabe der Rede (1990). Dies ist die Geschichte einer türkisch-deutschen Freundschaft in Verbindung mit der politischen Geschichte der BRD in den 60er Jahren, deren Struktur exakt auf dem Kritikpunkt basiert, den ich hier zu verdeutlichen suche: Während Selim ein als genialer Geschichtenerzähler gefeierter 'Sprecher' ist, stammt seine eigene Geschichte jedoch vollständig von einem Erzähler, der ein deutscher 'Schriftsteller' ist.

Doch die Zeiten ändern sich. Eine vielfältige Bandbreite von Stimmen in neuen Texten von türkisch-deutschen Autoren läßt die Kategorisierungen scheitern und widersetzt sich der Marginalisierung. Die Zeiten der 'Gastarbeiterliteratur' und 'Migrantenliteratur', die auf einen engen Bereich von Stilen und Inhalten beschränkt waren, sind vorüber (nun ja, so gut wie). Türkische Namen erscheinen auf deutschen Bestsellerlisten -- wie zum Beispiel Akif Pirinçci mit seinen originellen Kriminalromanen. Felidae (1989) setzt einen Kater als Detektiv in einem Fall in Szene, bei dem es sich um schreckliche eugenische Experimente dreht (weitere Bücher mit Katzen im Mittelpunkt folgten), und ein Mann ohne Gliedmaßen ist der den perfekten Mord begehende Anti-Held in Der Rumpf (1992). Die Kritik hat bereits früh darauf hingewiesen, daß die Entfremdung, die von diesen konstitutiven Metaphern nahegelegt wird, die Situation von Migranten widerspiegeln könnte, doch die Metaphern sind höchst vieldeutig und es macht sicherlich keinen Unterschied für den Großteil der Leser.

 

Türkische Namen tauchen auch unter den Gewinnern der angesehensten Literaturpreise auf. Zehra Çirak gewann den Hölderlin Preis für Lyrik 1994 und Emine Sevgi Özdamar erhielt 1991 den Ingeborg Bachmann Preis für den Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus -- ein fiktionalisierter und poetisierter Bericht über ihre Kindheit in der Türkei der 50er Jahre, der mit ihrem Aufbruch nach Deutschland im Alter von 18 Jahren abschließt, um in einer Fabrik zu arbeiten und ihr Interesse am Theater weiterzuverfolgen. Das 'hybride' Spiel mit gedoppelter Sprache und die kunstvolle Verknüpfung von privaten und öffentlichen Geschichten hatten einen Vergleich mit dem Werk von Gloria Anzaldúa ( Borderlands/La Frontéra) neben anderen 'postkolonialen Nomaden' zur Folge. Der Nachfolgeband Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) erzählt von Özdamars Studentenjahren (oder denen ihrer Protagonistin) in den späten Sechzigern in beiden Teilen Deutschlands und der Türkei: eine äußerst detaillierte, bewegende, respektlose und oft verstörende Darstellung einer politisierten und international mobilisierten Generation.

Die Entscheidung, den Bachmann-Preis zu verleihen, war höchst umstritten. Sie wurde in weiten Kreisen eher als Zeichen einer warmherzigen, liberalen Sympathie für 'ausländische Mitbürger' im Allgemeinen und Türken im Besonderen zu einer Zeit aufsehenerregender Brandanschläge auf die Wohnungen von exponierten 'Nicht-Deutschen' in der Folge der deutschen Einheit gesehen, denn als ein abgeklärtes Maß für literarische Qualität. Nicht nur einige deutsche (inklusive deutsch-türkische) Kommentatoren, sondern auch einige andere Diaspora-Türken, und durchaus auch Türken in der Türkei fragten sich, ob Karawanserei tatsächlich solch eine hohe Auszeichnung verdiente (wobei Verlage übrigens den Bachmann-Preis als das Todesurteil für die Verkaufszahlen betrachten, da er für gewöhnlich für irritierende, experimentelle Prosa verliehen wird). Doch der zweite Roman, obwohl stilistisch weniger innovativ, bestätigt Özdamars Projekt als einen wichtigen Beitrag zur Aufhebung der Unterscheidung zwischen deutschen und türkischen nationalen Traditionen, der deutsche Leser (und in Übersetzung auch andere) aufklärt über die feministischen und undogmatischen linken Ansichten zur Sozial- und Kulturgeschichte der zeitgenössischen Türkei und (in ihrem bisherigen Werk zu einem geringeren Grad) des zeitgenössischen Deutschlands.

 

Die Ausweitung der türkisch-deutschen Grenzzone ist auch das Vorhaben einiger herausragender Schriftsteller, die hauptsächlich in Berlin schreiben und arbeiten, die deutsche Gesellschaft zu ihrem Hauptgegenstand machen, auf Türkisch schreiben, aber ebenso im Deutschen wie im Türkischen belesen sind und gelesen werden. Aras Ören machte sich in den Siebzigern in beiden Ländern einen Namen, als er seine ersten Berliner "Poeme" veröffentlichte. Der vor Kurzem beendete Romanzyklus Auf der Suche nach der gegenwärtigen Zeit, der Eine verspätete Abrechnung und Berlin Savignyplatz(1995), Unerwarteter Besuch (1997), Granatapfelblüte (1998) und Sehnsucht nach Hollywood (1999) beinhaltet, zeichnet die Pfade von Individuen aus verschiedenen sozialen Schichten in der Stadt während des kalten Krieges nach und verwebt 'Migranten' Geschichten mit 'lokalen' Geschichten. Türkische Migranten spielen eine Rolle unter diversen unzuverlässigen Erzählern und imaginativen Protagonisten, in einem schwindelerregenden, intelligenten Spiel um Erinnerung, Geschichte, Fiktion und multiple Identitäten.

Auch Güney Dal trägt zur deutschen Literatur in türkischer Sprache bei und wird im Übrigen von Sten Nadolny in gleicher Weise im Literaturbetrieb quasi protegiert, wie Ören von Peter Schneider. Dals komplexer und unterhaltsamer Roman Der enthaarte Affe (1991) wurde vor Kurzem unter dem Titel Janitscharenmusik (1999) erneut veröffentlicht: Es ist derselbe Text, doch mit den Kapiteln (von drei unterschiedlichen Erzählern) in unterschiedlicher Reihenfolge, was der Schrittfolge janitscharischer Tänze entspricht. Dals Europastraße 5 (1990) ist die intensiv tragikomische Geschichte eines Berliner Türken, der seine geisteskranke Frau und die Leiche seines Vaters (die aufgrund unvollständiger Papiere in einer Pappkiste auf dem Dachgepäckträger versteckt ist) über die als gefährlich berüchtigte Überlandroute durch Jugoslavien in die Türkei fährt -- sowohl urkomisch als auch erschütternd. Sein letzter Roman, Teestunden am Ring (1998) führt phantasiereich einen zur Philosophie neigenden Boxtrainer aus Istanbul in die kosmopolitische Welt der Stadt in der Zeit zwischen den Weltkriegen ein.

 

Unter den jüngeren Schriftstellern hat sich Zafer Senocak einen Namen gemacht für seine beißend-treffenden Essays (vor allem in der taz) über die kulturellen und politischen Bezeihungen zwischen Deutschland und der Türkei, dem Christentum und dem Islam, Europa und seinen inneren und imaginierten Anderen. Er ist auch ein begabter Dichter und Romancier. In seinem letzten Roman, Gefährliche Verwandtschaft (1998), stellt sich ein kürzlich aus Amerika zurückgekehrter Schriftsteller von vermischter deutsch-jüdischer und türkischer Herkunft der Vergangenheit seiner Familie und der irritierenden Identitätspolitik in Deutschland nach 1989. Das Buch bildet zusammen mit Die Prärie (1997) und dem demnächst erscheinenden Der Erotomane einen Zyklus; es ist eine sparsam und elegant geschriebene, stellenweise polemische Behandlung der historischen Belastungen und Tabus, die die Anerkennung kultureller Pluralität zwischen Deutschen und den von Institutionen und informellem Rassismus als 'anders' Etikettierten erschweren, darin eingeschlossen 'Andere', die deutsch sind oder sich deutsch fühlen. Es gibt ein höchst sardonisches Kapitel über die Institutionalisierung der 'Ausländerliteratur' in den frühen 90er Jahren, als plötzlich jeder mit einem fremden Namen, bevorzugt dunklem Teint und einigen sogenannten 'Gedichten' in gebrochenem Deutsch fest mit einem Publikum und einem Buchvertrag rechnen konnte. Es scheint, als hätten die deutschen Liberalen ein schlechtes Gewissen, einem rassistischen 'Volk' (rassistisch natürlich allein schon dadurch, ein 'Volk' zu sein) anzugehören (denn sie gehören ihm ja an); als fühlten sie sich besser, indem sie einen 'Ausländer' protegieren, der sichtlich die 'deutsche Kultur zu bereichern' versucht; und als könnten sie, indem sie die Konstruktion der 'deutschen Literatur' als 'multikulturell' fördern, dieser bessere Wettbewerbschancen auf dem globalen Markt verschaffen, der von der englischsprachigen Literatur mit ihrer beneidenswerten 'postkolonialen' Vielfalt dominiert wird.

Die Verbindung von türkischer und jüdischer Minoritätsidentität, die Senocak vorbringt, um ethnische Feindschaften in verschiedenen Kontexten zu untersuchen, klingt in einer Anzahl der neuesten Texte an. Sie wird zum Beispiel oft von Dal angedeutet, während in Dilek Zaptçioglus Roman Der Mond ißt die Sterne auf (1998) türkische Jugendliche in Berlin die Komplexität von Identität und Zugehörigkeit durch das Lesen von Heine verhandeln. Und im Werk Feridun Zaimoglus wird der Holocaust von mehreren jungen, entfremdeten und straßenerprobten Charakteren direkt herbeizitiert, die mit explosiver Vehemenz und erstaunlicher, sprachenüberschreitender Eloquenz den deutschen Rassismus und sein zur Weißglut treibendes Gegenstück, den wohlmeinenden Paternalismus anprangern.

 

Zaimoglu ist das enfant terrible der deutschen Gegenwartsliteratur. Unter anderem von Newsweek ist er als Deutschlands Malcolm X und als Irving Welsh von Kiel bezeichnet worden. Zaimoglus 'Charaktere' basieren auf wirklichen Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Es gibt keine Interaktionen unter ihnen, sie legen stattdessen ihre dissonante Selbstwahrnehmung in oft brillanten dramatischen Monologen offen, die auf Interview-Notizen basieren, die vom Autor überarbeitet (und oft aus verschiedenen Quellen zusammengefügt, oder stellenweise auch erfunden) werden. Er hat ein neues literarisches Deutsch geschaffen, das den kreolisierten deutsch-türkischen Slang und die Rap-Rhythmen repräsentiert, die von vielen jungen Leuten benutzt werden. Kanak Sprak (1995) und Koppstoff (1998) präsentieren Selbst-Narrative von jeweils zwei Dutzend Männern bzw. Frauen mit türkischem Hintergrund. Dies sind teilweise joycesche Texte, die sich wesentlich weniger auf die wörtliche Übersetzung aus dem Türkischen stützen (wie dies Özdamars hybrider Stil tut), als vielmehr auf das code-switching in der deutschen Sprache selbst, zwischen verschiedenen Variationen von Hochdeutsch, Mundarten und Dialekten aus unterschiedlichen deutschsprachigen Regionen, gewürzt mit Pop-Anglizismen und gelegentlichen Anleihen aus anderen Migrantensprachen. Der Roman Abschaum (1997) benutzt eine direktere Slangprosa, um das brutale Leben eines Junkies, Kleinganoven und rundum Gescheiterten in der Sprache von post-industrieller Stadtrand-Verzweiflung und Galgenhumor zu zeichnen.

Der auf Abschaum basierende Spielfilm wird demnächst unter dem Titel Kanak Attak in die Kinos kommen. Dies ist auch der Titel für eine Serie von Medien-events, die von einem Zusammenschluß von Rappern und anderen 'osmopolitischen Hybriden' mit (wie soll man sagen?) 'deutsch-deutschen' Linken in verschiedenen deutschen Städten initiiert wurden. Gerade eine Bezeichnung wie 'hybrid' verbitten sie sich allerdings vehement, da sie mit Recht vermuten, daß dieser modische Begriff bloß eine konsumgerechte Variante von 'ethnisch/kulturell anders' darstellt, noch dazu mit dem besonderen Nachteil, daß er die Rassismus- und Ausgrenzungs-Problematik, also die soziale und geopolitische Hierarchie der Herkünfte, Hautfarben und sogenannten Zivilisationen, verdeckt. Mit ihrem Angriff auf den liberalen 'Differenz-Multikulturalismus', d.h. die Zementierung von projizierten 'ethnischen Identitäten' durch Sozial- und Kulturpolitik, die einen Zoo von 'Minderheiten' für Voyeure aus der Mehrheit produzieren, unterscheiden sich Zaimoglu & Co. von Autoren wie Senocak aber eher durch die Strategie denn durch die Analyse.

 

Diese Differenz zeigt sich in den literarischen Formen. Während Senocaks Werk sichtbar autobiographisch ist, bemüht er sich, seine Figur zu fiktionalisieren. Sein Protagonist Sascha Muhteschem nimmt eine derart besondere multi-ethnische und vielfältig kulturierte Position ein, daß er nur als ein einzigartiges Individuum aufgefaßt werden kann. Zaimoglu jedoch baut auf die angebliche Authenzität einer kollektiven Erfahrung, durch die alle Charaktere -- inklusive seiner eigenen Stimme als Herausgeber in seinen Büchern und als Erzähler in noch nicht gesammelt veröffentlichten kurzen Prosastücken in Die Zeit und anderswo -- eine soziale Gruppe im kulturell-politischen Sinn 'repräsentieren', ein Segment der post-migrativen 'community' von Jugendlichen, die von sichtbarer und hörbarer ethnischer Differenz und sozialer Benachteiligung gezeichnet sind. In Zaimoglus eigenem Fall ist dies die Repräsentation der 'Abitur-Türken', die in seinen eigenen Büchern oft das Ziel bitterer Attacken der weniger gebildeten und somit weniger sozial mobilen Altersgenossen sind. Dies deutet auf das Dilemma hin, das Rushdie die Falle des 'Fürsprechens' ('on-behalfism') genannt hat. Sein zukünftiges Werk wird zeigen müssen, wie Zaimoglu versuchen wird, dieser Falle zu entgehen, die er in seinen auto-exotischen Texten sowohl analysiert als auch reproduziert -- und ob die deutschen Verlage, oder selbst seine Leser ihn entkommen lassen werden.

Osman Engin hat sich ebenfalls Zaimoglus Strategie zu eigen gemacht, die rassistische Bezeichnung 'Kanake' 'zurückzuerobern'. Engin is ein etablierter satirischer Kabarettist und Kolummnist und sein erster Roman, Der Kanaken-Gandhi (1998), ist eine tour-de-force, die mit der Umwandlung ethnischer Identitäten spielt. Im Mittelpunkt steht ein Türke, ein alteingesessener Gastarbeiter, der aus heiterem Himmel einen offiziellen Brief erhält, der an ihn als zurückgewiesenen Asylsuchenden gerichtet ist, dem die Deportation bevorsteht. Trotz all seiner Anstrengungen, das Gegenteil zu beweisen, geht er von nun an als illegaler Inder durch. Seine erzwungene Verkleidung wird durch eine turbanartige Bandage komplementiert, die er um seinen Kopf tragen muß, nachdem er in der Straßenbahn attackiert wurde. Engin hat eine urkomische Erzählung eines ewig ungerecht behandelten Familienoberhauptes einer türkisch-deutschen Familie geschaffen, eine pikareske Reise im Candide-Stil durch eine Woche in einer Stadt in Deutschland.

 

Ganz anders spricht Selim Özdogan den Mainstream-Markt für männliche Jugendliche und 'twens' mit leicht träumerischen 'Lifestyle'-Romanen an, die im zeitgenössischen Deutschland und einer fantastischen, auf Kinofilmen basierenden Version der USA spielen und in denen ein junger Mann nach dem Sinn des Lebens, Freundschaft und einem Weg sucht, sich inmitten der spirituellen Wüste der Konsumgesellschaft treu zu bleiben. Sein erster im Westernstil geschriebener road-Roman trug den Titel Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist (1995); es folgte Nirgendwo & Hormone (1996). In Ein gutes Leben ist die beste Rache (1998) präsentierte Özdogan eine eher zusammengewürfelt erscheinende Sammlung von Kurzgeschichten, in einigen von denen er sein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringt, wie einfach es ihm gelungen war, ein Schriftsteller zu werden. Der Ich-Erzähler des neuesten Romans, Mehr (1999), wird als junger Kölner Schriftsteller mit türkischem Hintergrund beschrieben. Die ethnische Zugehörigkeit spielt in den Konflikten, die er erlebt, eine viel größere Rolle als in den früheren Büchern. Allem Anschein nach gibt Özdogan seinen anfänglichen unbedingten Individualismus langsam auf und steuert in Richtung Solidarität unter den 'Kanakisierten'.

Renan Demirkan, eine lebhafte, aus dem Fernsehen bekannte Schauspielerin und Prototyp der gelungenen Integration, ist ein anderes Vorbild für die jüngeren Generationen von Türken, die in Deutschland zuhause sind und sich eine Heimat schaffen. Ihre autobiographische Erzählung über das Aufwachsen in Deutschland, Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker (1991), ein Buch, das ihr Portrait auf der Titelseite trägt, hat sich sowohl in Deutschland als auch in der Türkei gut verkauft. Es bietet eine erstaunlich undramatische Beschreibung des Aufwachsens in einer kleinbürgerlichen Migrantenfamilie in einer deutschen Kleinstadt, die zu größten Teilen die Rhetorik des 'zwischen den Kulturen verloren Seins' vermeidet. Ihr zweites Buch Die Frau mit Bart (1994) entfernte sich vom Genre der Migrantenliteratur mit der Geschichte zweier befreundeter Frauen, die sich auf einer Insel treffen und sich über ihre Leben unterhalten. Die Liebesgeschichte Es wird Diamanten regnen vom Himmel (1999) bietet eine breitere Multikulti-Palette an, mit einer Deutsch-Türkin und einem Deutsch-Griechen als Hauptfiguren, aber halt so, wie das nun einfach zum Gegenwartsrealismus gehört.

 

Kemal Kurt schießlich nimmt nicht nur ebenfalls weiten Abstand vom engen Thema der Migration. Er kann berechtigterweise von sich sagen, den ultimativen Roman der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts geschrieben zu haben: Ja, sagt Molly (1998). Die grundlegende Situation ist in diesem surrealen Roman, daß die Bibliothekare von Babel (vgl. Borges) beschlossen haben, den immensen Bestand an Literatur des 20. Jahrhunderts bis auf einen Titel zu dezimieren -- so daß die Protagonisten aller Bücher der modernen Weltliteratur sich in einen Überlebenskampf gestoßen sehen. Das Buch ist ein sehr geistreicher und witziger Cocktail der E- und U-Literatur von James Joyce zu Agatha Christie und eine Satire der 'globalen Literaturvermarktungsindustrie', die viele Schriftsteller an den Rand des Geschehens drängt, nicht zuletzt durch die schiere Überproduktion von Müll. Kurt hat eine geographisch freigiebige Hommage an ein Jahrhundert der kreativen Imagination geschaffen. Das Buch ist gleichzeitig eine ernsthafte Abrechnung mit den vielen Schrecken des Jahrhunderts, mit denen sich Kurt auch in seinem autobiographischen Sachbuch Was ist die Mehrzahl von Heimat? (1995) auseinandergesetzt hat; dazu ist der Roman auf bizarre Weise erotisch (im Laufe des Romans bringt Gregor Samsa, im post-metamorphischen Zustand, Molly nach und nach zum Orgasmus); und schließlich auch schlichtweg profund im Bezug auf die affirmative action (d.i.: bejahende Aktion) der Liebe. Die circa 170 Autoren, deren Schöpfungen auf die Bühne treten, von Ivo Andric bis Carl Zuckmayer, umfassen einige deutsche und türkische Namen mehr, als man schätzungsweise in der hypothetischen Auswahl eines Marsianers von Klassikern der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts fände, und Kurts idealer Leser ist einfach weiter belesen als die meisten von uns. Das Lokalkolorit des Schauplatzes des Buches ist ein Globalkolorit: eine Weltstadt mit sieben Brücken (und noch vielen weiteren) von Galata bis San Francisco Bay und Sydney. Es ist ein schillerndes Buch -- ein Triumph des kosmopolitischen Willens für das Jahr 2000.

 

In einem Kapitel sind Charaktere aus dem Werk Rushdies, Örens, Ondaatjes, Ishiguros, Tans und anderer gefeierter transnationaler/interkultureller Schriftsteller im Haus von Mr. Biswas (Naipaul) versammelt und arbeiten an einem Samizdat-Pamphlet, in dem sie ihre kosmopolitische 'fünfte Literatur' zur Zukunft der Fiktion erklären. Doch dann erscheint der Oberförster (aus Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen) mit einem Truppenkontingent und wirft eine Handgranate durch das Fenster, die alle ohne Ausnahme umbringt. Wie bei Osman Engin sollen wir bei dieser komischen Version der Ereignisse in Rostock, Solingen und anderswo gleichzeitig lachen und zusammenzucken, und Kurt macht seine skeptische Ansicht über den Hype in Kritikerkreisen bezüglich des subversiven politischen Potentials polyglotten Schreibens mehr als deutlich. Weit mehr Grenzgänger und Zweisprachler noch, als der Oberförster killt, sind unter den 170 Autoren vertreten, die Kurts Traummannschaft insgesamt bilden. Letztendlich kann auch ein Begriff wie 'fünfte Literatur' wieder ausgrenzend fungieren, denn selbst als 'national' geltende Gegenwartsschriftsteller wie etwa Grass und Pamuk sind ja auch Migranten. Nur werden sie als solche in der Regel nicht anerkannt.

Mit ihren verschiedenen Akzenten und Akzentuierungen regen alle hier vorgestellte Schriftsteller zum Nachdenken über die Position ethnisch 'nicht-nur' Deutscher an: vor allem jener Deutschen, deren Namen und Gesichter sie in die Lage bringen, als Angehörige einer diskriminierten Minderheit ettikettiert zu werden. Deutschland könnte endlich -- mit dem neuen Gesetz zur Staatsbürgerschaft -- kurz davorstehen, die offizielle Gleichung von Nation und ethnischer Zugehörigkeit ad acta zu legen. Doch die bürgerliche Gesellschaft, eingeschlossen die Publikations- und Marketingindustrie, beteiligt sich am Differenz-Multikulturalismus, der, wie ein Großteil der politischen und der Popkultur des Landes, aus den USA importiert wurde. Was auch immer dies noch bedeuten mag, es scheint ziemlich sicher, daß der soziokulturelle Druck, der durch die Ambiguitäten des gleichzeitigen Dazugehörens und Ausgeschlossenseins produziert wird, noch für einige Zeit weiterhin in allen möglichen Formen des kreativen Schreibens verarbeitet werden wird.

(Aus dem Englischen von Alexander Schlutz)

(Dieser Essay erweitert einen Artikel, der von New Books in German in Auftrag gegeben wurde, einer Zeitschrift, die amerikanische, britische und andere Verlage auf deutsche Literatur aufmerksam macht.)

 

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