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no. 12: haut -> lebenskunst
 

Philosophie der Lebenskunst

Fragen von Goedart Palm an Wilhelm Schmid zur lebenskünstlerischen Koexistenz des Menschen mit Technik, Computer und Netz

von Goedart Palm

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Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid hat 1998 die Philosophie der Lebenskunst vorgelegt, die sich mit der inzwischen sechsten Auflage zum heimlichen Beststeller nicht nur der professionellen Philosophenszene entwickelt hat. Dieses nur auf den ersten Blick erstaunliche Interesse an Lebenskunst in einer Flüchtigkeits- und Ablenkungskultur macht deutlich, daß der Befriedigungsmechanismus schnellen Konsumierens, instantaner Informationen und turbokapitalistischen Reichtums sich mit innerer Leere, Rast- und Ratlosigkeit verbindet. Im Rekurs auf eine Philosophie, die noch nicht zu unverbindlicher Kathederdisziplin und nichtvermittelbarem Augurenwissen mutiert ist, wollen Menschen wieder konkrete Hinweise auf richtige Lebensweisen finden.

 

parapluie: Das Interesse an 'richtigen' Lebensweisen wird ja inzwischen von einer industrieartigen Produktion von Lebensberatern bedient. Auf Schnellverzehr getrimmte Weisheitsbücher, die unübersehbare Fülle von Psychotechniken oder das grassierende Guru-Gewerbe machen zwar symptomatisch klar, was Menschen drückt, aber zu allerletzt mag man diese Wundermittel als seriös ansehen. Ist die Philosophie seriöser? Hat sie mehr zu sagen als etwa professionelle Psychotherapien?

Wilhelm Schmid: Schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist der historische und systematische Horizont größer. Philosophen denken, ähnlich wie die katholische Kirche und zugleich älter als sie, in Jahrhunderten und Jahrtausenden. Sie befragen die Grundlagen unseres Wissens und nicht nur die Oberfläche der jeweiligen Alltäglichkeit. Und wenn es heute neu um Lebenskunst geht, dieses uralte philosophische Thema, dann nicht normativ, sondern optativ: Philosophen haben niemandem zu sagen, was zu tun ist, sie legen nur auseinander, zeigen Möglichkeiten auf und machen Vorschläge, die als Optionen zu verstehen sind, bestenfalls mit allen Argumenten, die für und gegen die eine oder andere Option sprechen. Um die Wahl zu ermöglichen, die jeder für sich selbst zu treffen hat und die ihm niemand abnehmen kann.

Gilt das Interesse der Menschen an Ihrer Arbeit eher der 'Lebenskunst' oder der 'Philosophie der Lebenskunst'?

Eher der Lebenskunst, daher auch das große Interesse am neuen, sehr praktisch orientierten Buch Schönes Leben -- Einführung in die Lebenskunst, das auch schon wieder in der 3. Auflage gedruckt wird. Aber es ist so, daß es gar keine Lebenskunst gäbe ohne Philosophie. Die Philosophen sind die Erfinder des Begriffs, techne tou biou im Griechischen, ars vitae im Lateinischen, auch wenn das mehr als zweitausend Jahre zurückliegt. Es hat dem Begriff der Lebenskunst nicht gut getan, daß die modernen Philosophen ihn seit zweihundert Jahren, seit der Gründung der Moderne, brach liegen ließen. Das ist verantwortlich für seine Verflachung.

Auf dem Begriff 'Lebenskunst' liegt nostalgischer Glanz. Wir denken an Epikur, Seneca, Montaigne, Goethe und Foucault. Liegt in diesen unterschiedlichen Programmen in Gesellschaften, die von Systemtheorien, Kybernetik oder kommunikativer Vernunft beherrscht werden, nicht ein Rückzug gegenüber der nicht mehr ganz neuen Unübersichtlichkeit der Verhältnisse? Welche Aktualität besitzt lebenskunstphilosophisches Denken heute?

Absolute Aktualität. Wie immer in Zeiten, in denen die Orientierung sich auflöst und keiner mehr so recht weiß, was zu tun ist, und solche Zeiten kommen seit der Antike immer wieder mal vor. Die besondere Herausforderung heute hat mit der Idee der Moderne und der Enttäuschung der Menschen von ihrer Realität zu tun. Die Idee war die universelle Befreiung, die fatalerweise mit Freiheit gleichgesetzt wurde, während der Zustand der vollkommenen Befreiung in Wahrheit die Erfahrung des Nichts ist. Die Idee war auch die Realisierung einer total 'positiven' Welt, in der nur noch das Angenehme und die Lust und das so verstandene 'Glück' herrscht; Krankheit, Schmerz, Leiden und Tod, kurz alles 'Negative' sollte abgeschafft werden -- die Moderne war die Zeit der großen Abschaffung. Wir wissen heute, daß das so nicht gekommen ist und wohl auch nie so kommen wird. Die Systeme, die diese Abschaffung versprochen haben, sind am Ende, und wir können dankbar sein, wenn nicht alle Errungenschaften der Moderne -- Menschenwürde, Menschenrechte -- zugleich damit untergehen. Viele Individuen ahnen, daß kein System ihre Lebensprobleme lösen wird, sondern daß sie ja doch wieder alles selbst machen müssen.

Wie lebt es sich in einer beschleunigten Welt, die mehr denn je das menschliche Vermögen provoziert, sich in den Verhältnissen einzurichten, aber auch die Verhältnisse nach seinen Maßstäben zu gestalten?

Sehr interessant, nicht langweilig, nicht statisch. Aber die Notwendigkeit zu wählen, ist für viele unerträglich schwierig und schmerzlich, zumal nichts sie darauf vorbereitet hat. In der Moderne hielt man es für wichtiger, Möglichkeiten der Wahl zu entwickeln, nicht, sich darüber Gedanken zu machen, was das überhaupt ist, eine 'Wahl', und wie man das macht, 'eine Wahl zu treffen'. Da nichts von vornherein feststeht, wird die Notwendigkeit zu experimentieren immer größer, privat, auch gesellschaftlich.

Permanent werden wir von Medien begleitet, die eigendynamische Momente besitzen, die schwer, wenn überhaupt beeinflußbar erscheinen. Wir sind umstellt von Apparaturen, die uns versprechen, ein besseres und leichteres Leben zu führen. Aber es sind ja mehr als behebbare Tücken der Technik, die uns Beschwerden verursachen, sondern die durchgreifenden Prägungen von Arbeitsalltag und Freizeit durch alte und neue Medien. Beinhaltet die Philosophie der Lebenskunst auch Aspekte der Technikphilosophie?

Natürlich, techne ist ja der Urbegriff nicht nur der Technik, sondern auch der techne tou biou, der Lebenskunst. Technik ist nicht etwas rein Äußerliches. Wir produzieren Technik als Individuen selbst mit, durch unsere Bedürfnisse, unsere Bereitschaft, Technik zu kaufen und anzuwenden -- manipuliert oder nicht. Technik wird uns meist verkauft als Weg zum leichteren und besseren Leben. Aber an das bessere und leichtere Leben zu glauben, erscheint mir nicht als ein sinnvolles Lebensziel. Wenn wir uns im Rahmen einer bewußten Lebensführung anders orientieren, wird das auch eine andere Technik zur Folge haben. Es ist interessant, sich vorzustellen, wie sie aussehen könnte; wahrscheinlich hätte sie instrumentelleren, weniger metaphysischen Charakter.

Sie haben in Ihrer Arbeit die Frage der Wahl und des Gebrauchs von Technik gegenüber der Eigendynamik von Technik betont. Aber endet die Selbstgestaltung nicht etwa in radikal veränderten Arbeitssituationen, die dem Individuum wenig Optionen einräumen, eigene Entscheidungen zu treffen? Ob ich also den Computer einsetze oder nicht, wird nicht meiner Letztentscheidung unterliegen, wenn ich gesellschaftlich 'kompatibel' bleiben will. Wie viel Geschichtsmächtigkeit verbleibt dem Individuum gegenüber einer sich umfassend entfaltenden Technik?

Selbstgestaltung endet immer dort, wo wir etwas hinzunehmen haben, wenn beispielsweise etwas geschehen ist, was wir um keinen Preis der Welt noch ändern können. So scheint es. Aber selbst in diesem Fall bleibt uns noch die Wahl, nämlich wie wir uns demgegenüber verhalten, daß wir etwas nicht ändern können: Begehren wir dagegen auf, finden wir uns damit ab, defensiv, offensiv etc.? Diejenigen, die die absolute Freiheit haben wollen und nichts hinnehmen wollen, sollten sich frühzeitig überlegen, ob sie damit zurechtkommen würden.

Was unterscheidet den 'Lebensphilosophen' vom 'flexiblen Menschen', den etwa Richard Sennett in der Überforderung durch eine global agierende Ökonomie skizziert hat?

Der Lebenskunst-Mensch zeichnet sich durch bewußte Lebensführung aus. Die kann, wenn eine entsprechende Wahl getroffen wird, in großer Sturheit bestehen, einer stoischen Haltung. Flexibilität ist eine andere Option. Der Einzelne wählt und kalkuliert die Kosten. Was mich persönlich angeht: Wäre ich 'flexibel' gewesen, hätte ich mich nie diesem Thema der Lebenskunst gewidmet. Denn damit bin ich zehn Jahre lang fast nur gegen Wände gelaufen, akademisch und gesellschaftlich. Das ist nicht weiter problematisch, denn mir liegt die Option der Sturheit ohnehin nahe, sobald ich mich von der Richtigkeit einer Sache ausgiebig überzeugt habe. Das scheint mir entscheidend: sich selbst darüber klar zu werden, was richtig ist und dann dafür einzutreten, notfalls bei Wasser und Brot. Oder besser Kartoffeln und Milch, denn damit ist die Grundernährung bestens gesichert. Bei mir waren es Spaghetti, jahrelang...

Folgt die Technologie einer mehr oder minder zwangsläufigen Dynamik, oder können Menschen Technologieentwicklungen steuern? Sie haben 'Phytotechnologie' und 'Ökopoiese' als Formen einer menschlichen Technik genannt, aber zugleich auf das apokalyptische Potential der Technik verwiesen, das uns in metaphysische Abgründe zu führen scheint. Wer ist gegenwärtig das Subjekt der Geschichte? Oder führt uns diese Frage bereits in die Irre, weil Subjekt, Individuum, Person einer Geschichte folgen, die bereits beendet ist?

Das Subjekt der Geschichte sind viele, keiner hat den Überblick. Allenfalls können wir überlegen, ob wir am Anfang oder Ende einer einzelnen Geschichte stehen. Und es scheint mir lohnend zu sein, über grundlegende Strukturen nachzudenken und ihnen auf die Spur zu kommen, wie sie vom philosophischen Denken in die Geschichte eingezogen werden, ohne daß wir es so recht bemerken: Das könnte zum Beispiel der Fall sein mit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt, die die Heraufkunft einer Zeit namens Moderne mehr beeinflußt hat als so manches politische Geschehen. Die Philosophie hat weit mehr Macht, als ihr gewöhnlich zugemessen wird. Ob das von Vorteil ist oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls sind wir in nicht geringem Maße immer wieder, auch privat, Opfer eines Denkens, das uns eine bestimmte Sache so und nicht anders denken läßt. Für die Lebenskunst kommt es darauf an, auf die Ebene des Denkens aufmerksam zu ein und sich gelegentlich im Andersdenken zu üben.

Foucault, auf den Sie sich zur Begründung der Lebensphilosophie berufen, hat orphisch von dem Menschen als einer verwehenden Spur im Sand gesprochen. Ist der Mensch nur ein evolutionärer Übergang?

Kann sein, das wissen wir nicht. Ich halte es, wie Foucault übrigens auch, mit Nietzsche: Der Mensch hat seine Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft. Es wäre schade, wenn er jetzt schon verschwände. Aber wenn er in der Tat bereits am Ende sein sollte durch eigenes Unvermögen: Kosmisch gesehen kräht kein Hahn nach ihm.

Im Internet entsteht eine weltweite Usergemeinde, die nicht lediglich Informationen, sondern einen Lebensraum zu suchen scheint. Gibt es auch eine Philosophie der Lebenskunst für das Netz?

Wenigstens den bescheidenen Ansatz dazu: "Lebenskunst im Cyberspace" ein Abschnitt im neuen Buch und auch bereits in der vorhergehenden Philosophie der Lebenskunst, eine Auseinanderlegung der Möglichkeiten, mit dem Netz und den entsprechenden neuen Technologien umzugehen und sie für die Lebensgestaltung zu nutzen, kalkuliert und überlegt. Sich bewußt zu sein, daß die Möglichkeiten erst im Laufe der Zeit experimentell zu erschließen sind, und darauf gefaßt zu sein, daß dies auch neue Möglichkeiten der Überwachung sein können, und wenigstens den Versuch zu unternehmen, gegenzusteuern.

Ist das Netz ein Medium, das sich Menschen verfügbar machen, oder ist der Mensch dem Netz nicht längst unterworfen?

Menschen prägen etwas und werden zugleich davon geprägt. Das ist das Spiel. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Das gilt schon für den Umgang zwischen zweien. Freisein von Einfluß gibt es nicht.

Menschen virtualisieren sich bereits seit einiger Zeit. Wir haben Telefonanrufbeantworter, elektronische Kalender, mehr oder minder intelligente Digitalassistenten und spekulieren über Avatare, die uns engelsgleich durch den Cyberspace führen. Solchen Ausblicken werden schon bald reale Veränderungen der menschlichen Existenz folgen. Sind virtuelle Existenzen mit völlig anderen Fragen konfrontiert als reale?

Wirklichkeit wird immer das sein, womit wir fertig werden müssen. Unerheblich, ob diese Wirklichkeit virtuell oder wirklich wirklich ist. So wie ich die Menschheitsgeschichte kenne, werden die wesentlichen Fragen immer dieselben bleiben: Wer mit wem, und wer gegen wen?

Neben der Digitaltechnik entsteht mit der Gentechnologie eine weitere mächtige Provokation der conditio humana. Ist es vertretbar, bessere Selbstentwürfe in Zukunft biotechnisch zu steuern? Wird der Mensch von einem großen Teil seiner seelischen Nöte, seiner Identitätskrisen und existentieller Aporien durch die Manipulation seiner Gene erlöst?

Erlösung wird es nicht geben -- wie sollte man sich diesen Zustand denn vorstellen? Was würden wir denn dann tun? Immer nur "Halleluja" singen? Zweifellos steuern wir in eine Zeit riesiger neuer Schwierigkeiten, das macht diese Zeit ja so spannend. Da steht mehr auf dem Spiel als jemals in der Menschheitsgeschichte, denn nun geht es um die mögliche Manipulation des Lebens an dessen Wurzeln selbst, und das betrifft keineswegs nur äußeres Leben, sondern auch die Möglichkeit zur genetischen Gestaltung seiner selbst. Ich zweifle nicht daran, daß das gemacht werden wird, unabhängig von persönlichen Präferenzen, kein Gesetz wird Menschen daran hindern können. Die Möglichkeiten und Verhängnisse werden sich dabei die Waage halten. Das wird uns einen neuen Begriff von Tragik geben.

Sie haben den Aufbruch ins Universum als die umfassendste Dimension der Lebenskunst beschrieben. Aber ist nicht die Universalisierung der menschlichen Perspektive anachronistisch, wenn andererseits der Mensch seit Anbeginn seiner bewußten Geschichte immer neue Einbußen seiner selbst verliehenen Mittelpunktsstellung hinnehmen muß? Sie haben ja selbst das Lebenswissen des Menschen als episodisch beschrieben. Das mag zur Selbstmächtigkeit des Menschen aufschließen, aber die universale Welterschließung scheint sich schlecht mit den Kontingenzerfahrungen von Menschen zu vereinbaren.

Der Mensch wird, wenn er dieses 21. Jahrhundert überlebt, aufbrechen in den weiteren Kosmos, zu anderen Planeten, anderen Sternen. Der eigene Planet ist heute längst umrundet, und so bleibt nach der Horizontalen nur noch die Vertikale, egal, ob daran etwas Anachronistisches ist. Widerspruchsfrei war die menschliche Existenz noch nie, das macht sie ja so interessant.

 

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