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no. 9: kommunikation -> literarische kommunikation
 

Die Realität der literarischen Kommunikation

von Edgar Landgraf

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* diskussion

Gesellschaftlich verliert und gewinnt die Literatur an Bedeutung, geht man davon aus, daß nicht der Mensch, sondern Kommunikation kommuniziert. Literatur kann unter dieser Voraussetzung nicht mehr als subjektives Ausdrucksmittel verstanden werden; und sie verliert ihre Ideologisierbarkeit, ihren Ort 'außerhalb' der Gesellschaft. Im Gegenzug gewinnt die Literatur aber auch. Denn wenn Kommunikation gesellschaftliche Realität bestimmt, dann leistet Literatur einen eigenen Beitrag in der Ausdifferenzierung und Reflexion neuer gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Im folgenden wird der Frage nachgegangen, inwiefern die literarische Kommunikation Individualität konstruiert und die moderne Gesellschaft mit ihrer 'Realität' konfrontiert

 

Wer Kommunikation mit Niklas Luhmann als selbstreferentiell geschlossenes, seine Elemente (einzelne Kommunikationen) autopoietisch reproduzierendes System beschreibt, dem menschliches Bewußtsein in seinen Operationen unzugänglich bleibt, wer also Kommunikation und nicht Menschen kommunizieren läßt, strapaziert unmittelbar zwei Grundsätze, die sowohl das populäre als auch das kritische Verständnis von Literatur seit dem 18. Jahrhundert prägen: a) Literatur sei Ausdruck und Stimulans subjektiver Erfahrungswelten; in ihr reproduziere sich die Phantasie eines Autors und sie rege entsprechend die des Lesers an; und b) Literatur sei eine privilegierte Darstellungsform realer oder idealer Wirklichkeiten, die 'außerhalb' der gesellschaftlichen Ordnung stehe und sich deshalb besonders zur kritischen Reflexion des Sozialen eigne. Beide Grundsätze, den ersten nenne ich den sensiblen, den zweiten den idealistischen Grundsatz, unterwerfen die literarische Kommunikation einer extra-kommunikativen Instanz, die sich nicht mit dem systemtheoretischen Kommunikationsbegriff vereinbaren läßt. Das sensible Literaturverständnis verankert Ursprung, Leitung und Ziel ihrer Kommunikationen im Bewußtsein als der eigentlichen Produktions- und Rezeptionsstätte von Literatur (und Kunst im allgemeinen). Das idealistische Literaturverständnis dagegen stellt der literarischen Kommunikation einen Begriff der Gesellschaft entgegen, deren Spiegel, Mikroskop oder Brennglas sie sein soll. Dabei ordnet das idealistische Credo der Literatur eine besondere Beobachterposition zu, eine Position außerhalb der Gesellschaft. Nur asozial, so folgert eine von Schiller bis Adorno reichende ästhetische Tradition[Anm. 1], könne die Kunst das interesselose Interesse des Menschen gegenüber den menschenfeindlichen Interessen einer 'interessierten' Gesellschaft (seit dem 18. Jahrhundert von Natur, Einfachheit, Originalität und Individualität unterschieden) vertreten.

Beide Ansätze, der sensible und der idealistische, schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, ja werden zumeist aufeinander bezogen. Es gehört zu den Basisoperationen moderner Literatur(rezeption), den subjektiven Erfahrungshorizont zur Grundlage gesellschaftlicher Kritik zu erheben. Dabei läßt sich beobachten, wie in den letzten Jahrzehnten die allgemein humanistischen Ansprüche bürgerlicher Literatur zunehmend im Namen politischer und sozio-kultureller Randgruppen aktualisiert werden. Literarische Sub-Genres wie die feministische Literatur, die Schwulen- und Lesbenliteratur, die türkisch-deutsche und diverse andere multikulturelle Literaturen entstehen und werden vor diesem Hintergrund rezensiert.[Anm. 2] Ein beträchtlicher Teil moderner Literatur verdankt ihre publizistischen Erfolge scheinbar dem Vermögen, dem sozial ausgeschlossenen Subjekt eine Stimme (und damit eine Identität) zu verleihen, indem es dessen Entfremdungserfahrungen einem antagonistischen Gesellschaftsbild gegenüberstellt. Wie gesagt, dieses populäre Schema läßt sich nicht mit der systemtheoretischen Abstraktionslage vereinbaren. Aus systemtheoretischer (aber nicht nur aus dieser) Sicht sind weder die Subjektzentrierung der sensiblen Literatur noch die gesellschaftskritischen Ansprüche der idealistischen Literatur auf diese Art und Weise haltbar. Der Kommunikationsbegriff der Systemtheorie fordert vielmehr, die beiden literarischen Ansprüche historisch und also gesellschaftstheoretisch zu verorten. Es kann dann immer noch gefragt werden, inwiefern eine systemtheoretische Beschreibung der literarischen Kommunikation den genannten Selbstbeschreibungen des Literatursystems gerecht wird, bzw. diese zu reflektieren und vielleicht zu modifizieren vermag.

Im folgenden möchte ich versuchen, die Entwicklung des sensiblen und des idealistischen Literaturverständnisses im 18. Jahrhundert zu umreißen und nach alternativen Beschreibungen literarischer Kommunikation fragen, die mit Luhmanns Kommunikationsbegriff vereinbar sind. Sensible und idealistische Literaturen decken natürlich nicht die ganze Breite des hermeneutisch orientierten Literaturbegriffs und noch weniger die zumeist dekonstruktivistische Kritik desselben ab. Tatsächlich finden sich genug Beispiele höchst erfolgreicher sozial-kritischer und politisch-engagierter Literatur sowie Beispiele erfolgreicher Definitionen von Literarizität, die sich gegen eine sensible oder eine idealistische Vereinnahmung sperren. Wenn ich hier dennoch vom sensiblen und idealistischen Literaturverständnis ausgehe, dann nicht nur, weil es heute populäre Gültigkeit hat (also immer noch den Literaturmarkt katalysiert)[Anm. 3], sondern auch, weil es historisch die Grundlage für die Ausbildung eines die verschiedenen poetischen Gattungen übergreifenden Literaturbegriffs bildet.

 

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Der Begriff der Literatur, wie er heute sehr allgemein zur Beschreibung schriftlich verfaßter Kunst benutzt wird, ist kaum 200 Jahre alt. Er setzt die Autonomisierung des Kunstsystems voraus, d.h. die Ausdifferenzierung eines Literaturbegriffs, der ermöglicht, Epik, Lyrik und Dramatik als Teile eines größeren Kunstganzen zu verstehen. Diese Entwicklung findet im 18. Jahrhundert statt und läßt sich im Kontext des von Luhmann beschriebenen Strukturwandels der modernen Gesellschaft interpretieren, als Folgeerscheinung des Übergangs von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung. In den letzten Jahren haben verschiedene von der Systemtheorie geleitete literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum 18. Jahrhunderts (den historischen Studien Luhmanns zur Semantik der Neuzeit folgend[Anm. 4]) gezeigt, wie Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik eine Art Ressource für die Entwicklung und Festigung (bürgerlicher) Rationalitäts- und Individualitätssemantiken liefert. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Strukturwandel und der Evolution der modernen Individualitätssemantik liegt (verkürzt gesagt) darin, daß im Zuge der funktionalen Differenzierung die Identität des Individuums, das sich nun in verschiedenen funktionalen Subsystemen jeweils unterschiedlich identifiziert findet, zum Problem wird. In der stratifizierten Gesellschaft stellt persönliche Identität noch kein gesellschaftlich relevantes Problem dar, weil Stand, Name, Rang und Beruf mit hinreichender Exklusivität die (soziale) Identität des Individuums bestimmen. Die funktional differenzierte Gesellschaft kann eine solche sozial eindeutige Identitätszuweisung nicht mehr leisten. In verschiedenen sozialen Subsystemen wird das Individuum immer anders identifiziert und aktualisiert. Sucht die Person nun dennoch nach einer die bloße Summe verschiedener Funktionen überbietenden Einheit, so kann das lediglich in Gegenüberstellung zum Gesellschaftlichen geschehen, sei es im nun als 'privat' definierten Familienkreis, in der Flucht nach vorne, der Karriere, oder eben als "exzentrisches Subjekt"[Anm. 5], als Künstler oder zumindest Kunstliebhaber.

Die Veränderung der Gesellschaftsstruktur fällt mit der Veränderung des gesellschaftlich dominanten Kommunikationsmediums zusammen: mit der Umstellung von Interaktion und Konversation auf schriftliche Kommunikation. Die Oberschichteninteraktion der vormodernen Gesellschaft entwickelt eine Konversationssemantik, welche sich an Höflichkeiten, indirekten Ausdrucksweisen, an der Vermittlung von Typischem und damit allgemein leicht Nachvollziehbarem orientierte; dagegen beginnt im 17. Jahrhundert zunehmend die schriftliche Kommunikation (bekanntlich zuerst in Briefromanen), Individualitäts-, Authentizitäts- und Unmittelbarkeitssemantiken zu entwickeln.[Anm. 6] Das ist paradox, bedenkt man, daß die Individualitätsemphase des 18. Jahrhunderts der pietistischen Tradition der Selbstanalyse folgend sich zuerst auf die Erfahrung von Bewußtseinszuständen, auf Authentizität, Unmittelbarkeit, Gefühl konzentriert, daß aber gerade solche Qualitäten nicht kommuniziert werden können. Denn sobald sie kommuniziert werden, sind sie nicht mehr das, was sie sein sollten, sind sie nicht mehr unfehlbare Erfahrungswerte des Bewußtseins, sondern jederzeit simulierbare Kommunikationsereignisse. Gerade schriftliche Kommunikation, die prinzipiell die Trennung von Sender und Rezipient voraussetzt, kann Unmittelbarkeit nur simulieren: Sie kommt nicht umhin, auf Konventionelles zurückzugreifen (und sei es nur auf Sprache an sich), um die Authentizität der eigenen Individualität kommunizieren zu können. Es wird wohl deshalb zur Aufgabe des (traditionell paradoxietoleranten) Kunstsystems, das Paradox einer medial konstruierten Unmittelbarkeit diskursiv zu entfalten.

Gerhard Plumpe ermißt vor diesem Hintergrund die Bedeutung, welche Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther in der europäischen Literatur zukommt. Plumpe liest Werther als Versuch, der von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgehenden Zersetzung individueller Identität entgegenzuwirken. Der Roman bietet dem funktional zersplitterten Individuum Identifizierungsmöglichkeiten, zum einen, indem er die Unterscheidung von Individualität und Gesellschaft dramatisiert, zum anderen, indem er "ein vollständiges Lexikon der poetischen Individualitätssemantik" entwickelt, über das immer wieder "exzentrische Subjektivität inszeniert werden kann."[Anm. 7] Werther bildet darin ein hervorragendes Beispiel für die Verbindung des sensiblen Literaturmodells mit dem idealistischen, mit der die moderne Literatur auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft reagiert. Mit anderen Worten: Die funktional differenzierte Gesellschaft offeriert mit der sensiblen Literatur ein Kommunikationsmedium, das es dem Individuum ermöglicht, über die Beobachtung der eigenen Empfindungen und Bewußtseinszustände sich (scheinbar) von der Gesellschaft als solcher zu unterscheiden, um dann Möglichkeiten anzubieten (und sei es auch nur über die Kommunikation von Sprachlosigkeit) diese exzentrische Subjekterfahrung zu kommunizieren.

Wenn man derart das Verfahren moderner Literatur sozialhistorisch kontextualisiert, ersetzt man das sensible, auf 'Ausdruck' basierende Literaturverständnis durch eine konstruktivistische Perspektive. Der populäre Gedanke, das Subjekt bediene sich der Literatur, um sich (d.h. seine Bewußtseinszustände) auszudrücken, muß entsprechend modifiziert werden. Das moderne Subjekt ist als diskursive Konstruktion zu verstehen, als etwas, das von der Literatur hervorgebracht wird -- und nicht umgekehrt, als 'Autor' von Literatur. Anders ausgedrückt, wird Literatur nicht mehr auf eine Ausdrucksfunktion hin reduziert, die Subjekte voraussetzt, so zeigt sich Literatur als ein Medium, das aktiv an der (gesellschaftlichen) Konstruktion von Subjektivität und individueller Identität beteiligt ist. Wenn das auch heute noch gilt, so kann der Literatur eine neue, politische Funktion zugeschrieben werden: Sie kann statt zum Ausdruck zur Konstruktion von individueller (Gruppen-)Identität herangezogen werden. Damit gewinnt die multikulturelle, feministische und andere Gruppen profilierende Literatur an sozialer und vielleicht sogar politischer Bedeutung. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die Repräsentation von Entfremdungserfahrungen, sondern erprobt die gesellschaftliche Artikulation und Konstruktion neuer Kommunikationsräume und Kommunikationsmöglichkeiten, die als Identifizierungsangebot gesellschaftlich wahrgenommen, d.h. angenommen bzw. abgelehnt werden können.

Der amerikanische Philosoph Richard Rorty sieht eben darin das pragmatische Potential eines (postmodernen) Denkens, welches das anthropozentrische Primat der aufklärerischen Tradition in Kategorien des Textes und der Kommunikation aufgelöst hat. Vom Beispiel des Feminismus ausgehend folgert Rorty:

"Um als Pragmatist und nicht als Realist die Aneignung einer vollen Persönlichkeit zu beschreiben, muß deren Aneignung durch Schwarze, Homosexuelle und Frauen in der gleichen Begrifflichkeit gedacht werden, wie wir heute über deren Aneignung durch galiläische Wissenschaftler und romantische Dichter denken. Wir sagen, letztere erfanden neue moralische Identitäten für sich, indem sie semantische Autorität über sich selbst erlangten. Mit der Zeit gelang es ihnen, die von ihnen entwickelte Sprache Teil der Alltagssprache werden zu lassen. Entsprechend müssen wir davon ausgehen, daß Homosexuelle, Schwarze und Frauen sich nicht entdecken, sondern sich erfinden und also davon ausgehen, daß die Gesellschaft im allgemeinen lernt, mit etwas Neuem zurecht zu kommen"[Anm. 8]

Eine solche pragmatische Beurteilung kann man meines Erachtens auch der post-humanistischen Systemtheorie abgewinnen. Betrachtet man Gesellschaft als Kommunikationssystem und läßt man entsprechend nicht mehr das Bewußtsein, sondern die Kommunikation kommunizieren, so verschwindet nicht, sondern wächst die sozialpolitische Bedeutung von Literatur. Durch Literatur erprobt, schafft und legitimiert die moderne Gesellschaft neue Identitäten. Damit trägt die literarische Kommunikation zur Ausdifferenzierung sozialer Identitäts- und Individualitätsangebote bei. Aus systemtheoretischer Perspektive mag man dann noch festhalten wollen, daß dies paradox sei: Der Aufbau von Komplexität (erhöhtes Angebot) beruht auf der Reduktion von Komplexität (Identitätsangebote sind immer schon Verallgemeinerungen und also gerade nicht oder nur noch im Vergleich individuell). Das ändert aber wenig an der politischen, sozialen und vielleicht auch persönlichen Bedeutung dieser Entwicklung. Die gegenwärtige Vergrößerung des kulturellen Identitätsangebotes innerhalb der modernen Gesellschaft ist in vielen ihrer Teilbereiche (Kunst, Recht, Wirtschaft, Politik, etc.) eine nicht zu leugnende Realität.

 

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Eine Reformulierung der idealistischen Literaturfunktion läßt sich am besten vor dem Hintergrund der der Literatur eigenen Form entwickeln. Die Frage ist, was Literatur von schriftlicher Kommunikation im allgemeinen unterscheidet. In der jüngeren Literaturwissenschaft stehen zumeist zwei Aspekte literarischer Kommunikation im Zentrum des Interesses. Zum einen konzentrieren sich poetische Diskussionen immer wieder auf die Sprache der Poesie, darauf, wie die Poesie Sprache (im Gegensatz zu dem, worauf die Sprache referiert) in den Vordergrund rückt. Zum anderen, und da geht es zumeist um Prosa und um den Roman, gilt das Augenmerk dem fiktionalen Charakter der literarischen Kommunikation.[Anm. 9] Im ersten Fall läßt sich Literatur (wie Kunst allgemein) als besondere Kommunikationsweise verstehen. Dichtung bricht mit dem Kommunikationsschema Mitteilung/Information/Verstehen, indem es der Mitteilungsseite einen eigenen Informationswert beimißt. Durch überraschende rhetorische Figuren, durch Rhythmisieren, Reime, Zitate, Selbstzitate, Selbstthematisierung, intertextuelle Referenzen und durch fehlenden Kontext lenkt die Poesie die Aufmerksamkeit des Lesers nicht nur auf die von ihr dargestellte Welt, sondern auch auf die Zeichenstruktur, auf die Sprache, in der die poetische Welt zur Darstellung kommt. David Wellbery beschreibt diese Eigenart der literarischen Kommunikation als "Semantisierung und Dearbitrarisierung der Semiotik".[Anm. 10] Gemeint ist damit, daß im Gedicht die Zeichenstruktur der Sprache nicht mehr im Hintergrund bleibt, wie das in der alltäglichen Kommunikation der Fall ist, die sich auf das Prozessieren von Information (von 'Gemeintem') konzentriert, sondern daß in der Dichtung dem Zeichencharakter der sprachlichen Mitteilung als Mitteilung ein Informationswert zugesprochen wird. Was gesagt wird, will in der Dichtung nicht mehr unabhängig von dem, wie es gesagt wird, betrachtet werden.

Das hat zur Folge, daß die literarische Kommunikation ins Stocken gerät. Indem sie auf der Seite der Mitteilung noch einmal zwischen Mitteilung und Information zu unterscheiden zwingt, unterbricht die dichterische Kommunikation den Prozeß einer fortgesetzten Synthetisierung von Mitteilung, Information und Verstehen. Statt dessen fordert die Dichtung dazu auf, bei ihr zu verweilen. Die literarische Kommunikation nimmt damit einen gewissen Dingcharakter an, d.h. sie wird nicht mehr nur als ein kommunikatives Ereignis aktualisiert, sondern sie lädt dazu ein, sie zum Gegenstand vielfacher kommunikativer Ereignisse zu erheben. Es ist aber nicht allein eine derartige Verdinglichung der literarischen Kommunikation, die das Verstehen der Dichtung vielschichtig macht. Das inszenierte Wechselspiel zwischen Semantik und semantisierter Semiotik führt jede Anschlußkommunikation (egal ob sie an die Mitteilungs- oder an die Informationsseite anschließt) wieder auf die literarische Kommunikation zurück: Sie will noch einmal gegen die 'zweite' Semantik des Gedichts gelesen werden. Damit wird die literarische Kommunikation auf sich selbst zurückgebogen und in dieser rekursiven Verstrickung auf eine besondere Art und Weise unberechenbar, opak. Man kann das auch als Dekontextualisierungsphänomen beschreiben. Das Gedicht bricht über die Semantisierung der Semiotik die Einheit von Mitteilung, Information und Verstehen auf, womit es sich dekontextualisiert, sich aus einem extern definierten Kommunikationszusammenhang löst. Eben damit eröffnet die literarische Kommunikation die Möglichkeit unbegrenzter Rekontextualisierung. Über die Legitimität solcher Rekontextualisierungen kann dann wiederum nur intern entschieden werden, d.h. indem man auf der Mitteilungsebene eine Bestätigung des aktualisierten Sinns oder umgekehrt, auf der Informationsebene eine Konfirmation der Semantisierung der Semiotik findet. Das bedeutet, daß durch die doppelte Semantik der Poesie (und vielleicht der literarischen Kommunikation im allgemeinen) jedes Verstehen der Kommunikation (jedes Anschließen weiterer Kommunikationen) wiederum einem Verstehen durch den Text unterliegt. Das kann nicht nur helfen, die Theorieanfälligkeit der Literatur zu erklären, ihr permanentes Reinterpretieren und Rekontextualisieren, sondern auch, warum die literarische Kommunikation das Augenmerk immer wieder auf ihren Beobachter zurückwirft. Wer je ausführlich die Sekundärliteratur zu einem bestimmten literarischen Text gelesen hat, kennt dieses Phänomen. Die Vielfalt der Interpretationen sagt gleich viel über den beobachteten Text aus wie über dessen Beobachter. Das gilt natürlich nicht allein für individuell verortbare Beobachter, sondern allgemein für gesellschaftliche Verstehensmuster. Und mir scheint, daß eine Literaturtheorie, die das zu beobachten weiß, einen Beitrag zur Kritik der modernen Gesellschaft leisten kann. Anders ausgedrückt: Anhand der Reflexion literarischer und literarturtheoretischer Kommunikationen gewinnt die moderne Gesellschaft Zugang zu ihren Sinnstrukturen. Literatur lehrt sie, ihr Verstehen zu verstehen.

Man wird einwenden, daß derartige Beschreibungen der literarischen Kommunikationsform reduktiv sind. Tatsächlich können sie nicht zwischen 'guter' und 'schlechter', zwischen origineller und steriler, zwischen neuer und veralteter Literatur unterscheiden. Die Literatur unterliegt hier eigenen Evolutionszwängen und natürlich auch den Anforderungen nach Originalität, Einzigartigkeit, Neuheit usw., die das Kunstsystem jeweils formuliert. Mit anderen Worten, es ließe sich natürlich weiter zwischen literarischer Kommunikation und literarisch 'interessanter' Kommunikation differenzieren. Bereits diese kommunikative Bestimmung von Literatur ermöglicht aber, die literarische von anderen schriftlichen Kommunikationen zu unterscheiden, ohne dabei auf suspekt gewordene Konzepte und Kulturwerte wie Geist, Inspiration, Imagination, etc. und ohne (wie sich das oft in der Dekonstruktion und in den amerikanischen cultural studies beobachten läßt) auf einen zu allgemeinen Textbegriff zurückgreifen zu müssen, mit dem Literatur nicht mehr von anderen Textsorten unterschieden werden kann.

Ich möchte an dieser Stelle zur Frage nach der 'idealistischen' Literatur zurückkehren und genauer auf das Verhältnis von Literatur und 'Realität' und von Literatur und Gesellschaft eingehen. Als Ausgangspunkt soll die einfache Feststellung dienen, daß die Minimalbedingung von Literatur, d.h. daß das, was auch Prosa literarisiert, ihr fiktionaler Charakter ist.[Anm. 11] Fiktionalität hat die literarische Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert gesellschaftlich entfremdet, sei es im negativen Sinne (Literatur sei weltfremd, nicht 'wirklich', lenke von der sozialpolitischen Realität ab etc.) oder eben im positiven Sinne, wonach sie, gerade weil sie im gesellschaftlichen Abseits stehe (interesselos sei), sich besonders zur Reflexion der Welt eigne. Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Positionen deutet auf die Formparadoxie der Literatur hin. Literarische Kommunikation stellt nicht einfach eine fiktionale Welt der realen Welt gegenüber; vielmehr kopiert sie die Unterscheidung zwischen fiktionaler und realer Welt in sich hinein. David Roberts schlägt vor, die Form des Romans entsprechend als re-entry zu beschreiben, als das Wiedereinführen der Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit auf der Seite der Fiktion.[Anm. 12] Diese Formbeschreibung, ich meine, sie darf seit dem Ende des 18. Jahrhunderts für Literatur im allgemeinen zur Geltung gebracht werden, ist hier interessant, weil sie das idealistische Literaturverständnis zu modifizieren erlaubt. Literatur muß nicht mehr der Gesellschaft gegenübergestellt werden, und doch kann ihr eine ihr eigene Beobachterrolle zugestanden werden. Über ihren re-entry vermag die Literatur die 'reale Welt' (genauer: die gesellschaftlichen Beschreibungen der 'realen Welt' inklusive der Beobachtung real/fiktiv) zu wiederholen, d.h. zu zitieren und kontextualisieren.

Mit dem re-entry der Unterscheidung von realer und fiktionaler Welt verschiebt sich die Beobachtungsebene. Der literarische Text, weil er nicht Darstellung einer vorgegebenen Welt ist, beobachtet immer schon -- nicht die Welt, sondern die Beobachtung (Darstellung, das Unterscheiden, Verstehen, etc.) von Welt. Literatur konfrontiert den Leser immer schon mit einer Beobachtung zweiter Ordnung. Damit gibt sich die literarische Kommunikation zugleich als sozialhistorisches Produkt zu erkennen und doch auch -- im Gegensatz zur nicht-literarischen Kommunikation -- als mit der besonderen Fähigkeit zur Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse ausgestattet. Denn sie bleibt über das Beobachten von Beobachtungen (andere Diskurse) an die Gesellschaft gekoppelt, exponiert diese aber zugleich, indem sie selbst nicht 'Welt' sondern die Beobachtung (Konstruktion) von Welt beobachtet. In einem Artikel zur Emergenz literarischer Formen faßt Bianca Theisen diese Engführung der Beobachtungsebenen wie folgt zusammen: Literarische Texte "selektieren schon bestehende Selektionen, referieren auf die Referenz, mit der sich andere soziale Systeme auf die Welt beziehen. [...] Literarische Texte ließen sich also bestenfalls als Selektionen zweiter Ordnung bestimmen [...]. Wenn 'Umwelt' -- also das, wovon sie sich abgrenzt -- für Literatur nicht die Welt, die Gesellschaft, oder andere Texte oder künstlerische Artefakte sind, sondern die historisch variablen Selektionen anderer Systeme, verstärkt sie diese Selektionen nicht nur [...] vielmehr beobachtet Literatur diese Selektionen auf ihre blinden Flecke hin."[Anm. 13]

Nicht nur auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung gesellschaftlicher Beobachtungsschemata scheint mir Literatur von gesellschaftlicher Bedeutung. Die weite Verbreitung literarischer Texte und anderer fiktionaler Formen, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt, erfüllt in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft noch eine andere Funktion. Literarische Kommunikation definiert einen sozial verbindlichen, wenn auch unerreichbaren Realitätshorizont, indem sie der 'realen' eine fiktionale Welt entgegenstellt.[Anm. 14] Damit reagiert die Literatur auf ein Problem, das sich in der funktional differenzierten Gesellschaft neu stellt. Mit der funktionalen Differenzierung geht der modernen Gesellschaft nämlich nicht nur die Identität des Individuums verloren; insofern funktional differenzierte Subsysteme sich jeweils eine ihnen eigene Umwelt leisten, entgleitet der Gesellschaft zunehmend auch eine allgemein gültige und für alle Subsysteme verbindliche Realität. Statt einer Realität kennt die moderne Gesellschaft nur mehr systemspezifische Realitäten. Diesem modernen Phänomen einer Multiplikation und damit des Verlusts von verbindlicher Realität, an dem die literarische Kommunikation mit ihrer Darstellung disparater Realitäten natürlich aktiv beteiligt ist, wirkt die Literatur dennoch auch in entscheidender Weise entgegen. Denn mit dem re-entry der Realität/Fiktion Unterscheidung auf der Seite der Fiktion schafft die literarische Kommunikation nicht nur einen markierten Raum für die Beobachtung fiktionaler und realer Welten, sondern sie führt damit auch einen unmarkierten Raum ein, eine Welt die qua Unterscheidung weder fiktional noch als nur eine weitere 'reale' Welt kann verortet werden.[Anm. 15] Dieser durch die literarische Kommunikation markierte unmarkierte Raum wird gesellschaftlich als sich einheitlich entziehender Realitätshorizont registriert. Indem sie fiktionale und reale Welten multipliziert und beobachtet, schafft die literarische Kommunikation einen im Bereich des Nicht-Literarischen anzusiedelnden, gesellschaftlich aber nicht mehr einziehbaren Realitätshorizont. Es ist also kein Zufall, wenn die Verbreitung und Popularisierung von Literatur im 18. Jahrhundert mit der verschärften Beobachtung von sozialer 'Realität' zusammenfällt. Bedenkt man dann noch, wie es in der modernen Massenmediengesellschaft zu einer weit über den Buchdruck hinausgehenden Vervielfältigung der Unterscheidung von Fiktion und Realität kommt, so sind die gesellschaftlichen Folgen nicht zu verkennen. Literarische Kommunikation konstruiert nicht nur soziale Identitätsangebote und ermöglicht die Beobachtung von Beobachtungen; die Popularisierung literarischer Kommunikationsformen schafft darüber hinaus den Horizont für einen der modernen Gesellschaft eigenen Realitätsbegriff, für eine ihr eigene, verschärfte Realitätserfahrung.

Die zunehmende Popularität der Literatur im 18. Jahrhundert und heute allgemeiner die massenmediale Reproduktion der Realität/Fiktion-Unterscheidung prägt, so meine These, das Selbstverständnis des modernen Individuums über die Bereitstellung eines gemeinsamen Realitätshorizontes. Die damit etablierte Realität muß von anderen Realitäten unterschieden werden, etwa von der 'physischen Realität', mit der sich das Bewußtsein beim Besuch des Zahnarztes konfrontiert sieht, oder auch von der 'Realität der Massenmedien', die ja als 'Realität' präsentiert wird. Die Realität der literarischen Kommunikation kommt erst durch die (gesellschaftliche) Wiedereinführung der Unterscheidung von Fiktionalität und Realität zur Geltung. Es handelt sich also um die 'Realität', auf die man sich etwa dann beruft, wenn man sie von den Medien nicht mehr korrekt repräsentiert und also sich betrogen glaubt, obwohl man wohl weiß, daß es keinen ontologisch unschuldigen Zugang zu einer 'eigentlichen' Realität gibt;[Anm. 16] oder es handelt sich um die Realität, die man etwa durch exzessives Vor-dem-Bildschirm-Sitzen, exzessives die Nase-nur-noch-in-Bücher-Stecken, etc. verschwendet sieht. In diesem beschränkten Sinne biete die literarische Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert über den re-entry der Unterscheidung von Fiktion/Realität auf Seiten der Fiktion die Möglichkeit an, die nicht-fiktive Realität als Einheit zu beobachten. Mit anderen Worten: Literatur (und heute andere Formen des Fiktiven), gerade insofern sie uns aus dem Alltagsbereich entführt, schafft zugleich den Realitätshorizont, der in der modernen Gesellschaft dann existentialistisch verortet werden kann. Wenn die moderne Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert mehr denn je an der Realität des Alltags leidet oder diese in lebensgefährlichen Abenteuern (Bungeejumping, Karriere) zu feiern sucht, dann liegt das wohl nicht allein an den unangenehmen Lebensbedingungen, die einzelne Subsysteme für ihr Klientel schaffen (historisch müßte man ja eher das Gegenteil behaupten), sondern es liegt auf kommunikativer Ebene primär daran, daß eine mit Fiktion saturierte Gesellschaft sich einen allzu nahen und doch nur sehr schwer definierbaren Realitätshorizont kreiert hat, der im Vergleich mit dem Fiktionalen allzu leicht mangelhaft und beklagenswert wirken muß.[Anm. 17]

Auch das weiß die Literatur zu beobachten. Don DeLillos Roman White Noise zum Beispiel auf ganz originelle Weise. Dort findet sich (eingebettet in eine typische Alltagssituation) ein nicht ganz alltägliches Gespräch zwischen Vater und Sohn. Im Auto unterwegs zur Schule erinnert der vierzehnjährige Sohn seinen Vater daran, daß es laut Radiobericht am Abend regnen solle. Der Vater antwortete mit dem Hinweis, es regne, wie die Tropfen auf der Windschutzscheibe erkennen ließen, bereits jetzt: "Nur weil es vom Radio kommt, müssen wir nicht gleich den Glauben an die Evidenz unserer Sinne aufgeben"[Anm. 18] Es folgt ein höchst witziger Dialog zwischen Vater und Sohn, in dem der Vater den Sohn zur Bestätigung des sinnlich Evidenten bewegen will ("Regnet es, oder nicht?"[Anm. 19]), während der Sohn ("Das möchte ich nicht entscheiden müssen."[Anm. 20]) mit Hinweisen auf die wissenschaftlich als erwiesen geltende Unzuverlässigkeit der Sinne, auf die Bedeutungslosigkeit subjektiver Wahrheit ("Meine Wahrheit bedeutet gar nichts."[Anm. 21]), auf die Vergänglichkeit der Kategorien des Hier und Jetzt ("Das Jetzt kommt und geht sobald man es sagt."[Anm. 22]) und mit Hinweis auf die Ungewißheit sprachlicher Referenz ("Woher soll ich wissen, daß, was du Regen nennst, wirklich Regen ist?"[Anm. 23]) dem Vater eine kommunikative Bestätigung des sinnlich Wahrgenommenen verweigert. Als der Sohn sich schließlich selbst auf sinnlich Evidentes beruft, um den Vater zu widerlegen -- dessen Definition des Regens als etwas, wovon man naß werde, steht die Tatsache entgegen, daß beide im Auto und also im Trockenen sitzen -- wird der Vater sarkastisch, und das Gespräch bricht ab.

Der Sohn geht von der Beobachtungsebene erster Ordnung (regnet es oder nicht?) auf die Beobachtungsebene zweiter Ordnung über und fragt nach den Möglichkeitsbedingungen der Entscheidung einer solchen Frage. Der Sohn schaltet also auf Metakommunikation um. Gegenstand seiner Kommunikation ist nicht mehr die Information (des Vaters), sondern die Mitteilung selbst. Das daraus resultierende, so absurde wie logisch durchaus kohärente in Frage Stellen sinnlicher Evidenz kann philosophisch, als Kritik an einem auf Korrespondenz zwischen Intellekt und dinglicher Welt fundierten Wahrheitsbegriff, oder semiotisch, als Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Referenz, oder auch (mehr im Sinne der Thematik des Romans) soziologisch, also im Kontext einer Kritik moderner 'Medienrealität' interpretiert werden. Oder sie kann auf die Realität der literarischen Kommunikation selbst bezogen werden, deren Form gesellschaftliche Realität konstituiert und zugleich die Möglichkeit bietet, dies auch zu beobachten. Dieses Reflexionsvermögen, das das Konstruiertsein jeglicher Realität zu beobachten weiß, gehört selbst zur 'Realität' der modernen Gesellschaft. Das legt den Schluß nahe, die literarische Kommunikation greife in ihrer Reflexivität den Komplexitätsansprüchen konstruktivistisch reflexiver Theorien wie der Systemtheorie voraus. Da sie das (Gott sei Dank!) auf eine Art und Weise tut, die nicht nur Akademiker anspricht, vermag Literatur die Reflexivität der modernen Gesellschaft auf eine über das Teilsystem Kunst hinausgehende Weise zu realisieren.

 

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