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no. 21: warschauer pakt
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perspektive |
Budapest Bluesvon Dirk Hohnsträter |
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Kein Wort über die Vergangenheit. Kein Wort darüber, daß es hier vor 100 Jahren mehr als 500 Kaffeehäuser und vor nicht einmal 40 Jahren über 500 eszpresszós gegeben haben soll. Und kein Wort über die kargen Überbleibsel. Keine Zeile zu den 21 Pester Tageszeitungen, die Fotografen wie André Kertész, László Moholy-Nagy, Robert Capa & Brassai hervorbrachten. Immerhin, heute gibt es ein kleines, doch feines Fotomuseum, dessen Gründer den besten Reiseführer verfaßt hat, der mir je in die Hände fiel. Aber die großen Retrospektiven ungarischer Fotografie finden ein Jahrhundert später, warum auch immer, in Berlin statt. Schweigen wir schließlich über jene unwiederbringlichen Jahre, in denen das sogenannte Paris des Ostens (das sich ohnehin als mitteleuropäisch begreift) einen überragenden Jugendstil entfaltete (der heute mehr und mehr renoviert wird). Denn zu schmerzlich ist die Einsicht, daß eine Jahrhundertwende später "die nachbürgerliche Stadt von der Substanz der bürgerlichen" zehrt, wie der Europahistoriker Karl Schlögel bilanziert. Aber halten wir auf der Suche nach dem Budapest von heute einstweilen fest: die urbane Nervosität und Großzügigkeit sind aus der bald ausgedünnten, bald musealisierten Stadt nicht verschwunden, und wer wollte über Budapest schreiben, ohne die unschlagbare Donauszenerie zu preisen? |
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Verzichten wir auch darauf, einem lebendigen Übergangsungarn hinterherzuweinen, als in verfallenen Luxushotels und renovierungsbedürftigen Thermalbädern legendäre Partys stattfanden. Zu dieser Zeit hat ein amerikanischer expat namens Arthur Phillips ein Epitaph verfaßt, unter dem Titel Prague, denn kein Verleger wollte einen Roman drucken, der Budapest heißt. Das zumindest, da bin ich mir sicher, wird sich bald ändern. |
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Muß ich eigens anführen, daß ein drittes Budapest der Rede nicht wert ist, nämlich das der Touristen? Hier verschwimmt der Nostalgiebedarf westeuropäischer Portemonnaies mit den Selbsttäuschungen des weniger denkbereiten Teils der Einheimischen. Wer eine zweitklassige Fußgängerzone wie die Vaci utca zum Shoppingparadies hochjubelt, dem fehlt offenbar jeder Maßstab. Denn will man den Taschenrechner nicht schon vor dem Aussuchen der Ware unter die Nase gerieben bekommen, empfiehlt sich ein Einkaufsabstecher nach Wien. Die Ansprüche sind eben gestiegen, 15 Jahre nach dem vollständigen Abdanken einer moderat marktbereiten Staatswirtschaft. Wer Westen will, sollte das Original dem überstürzt hochgezogenen Import vorziehen. |
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Und nun? Wenn man hier die Vergangenheit kaum noch finden kann und den Nepp meiden soll, was bleibt? Die Lage ist unübersichtlich. Der Autor, seit knapp einem Jahr vor Ort, doch der Landessprache nur in beschämend geringem Umfang kundig (weswegen ihm etwa Theaterprogramme entgehen), befindet sich in einer schwierigen Position. Er will kritisch sein, aber die Gastfreundschaft der Ungarn stimmt ihn milde. Er ist mit geschärfter Meßlatte von vielen Reisen zurückgekehrt, aber der ubiquitären Unzufriedenheit, dem berühmten ungarischen Pessimismus will er etwas Positives entgegenstellen. Bittet man nämlich Einheimische um ihr Urteil, so fällt es geradezu reflexhaft negativ aus. Historisch, hört man, habe Ungarn immer verloren: beherrscht von Türken, Habsburgern, Nazis und Sowjets. Nach dem ersten Weltkrieg verlor das Land zwei Drittel seiner Fläche und die Hälfte seiner Bewohner. Das kollektive Gedächtnis beklagt bis heute die fatale Niederlage gegen die deutsche Fußballnationalmannschaft in Bern 1954, auch wenn heute ein Deutscher die Ungarnelf trainiert. Fünf der rund 15 Millionen Ungarn leben außerhalb des Landes: die Welt ist voller ausgewanderter Talente, die sich neue Namen zugelegt haben, denn wer beherrscht schon eine insulare Sprache, in der man sich mit einem Wort wie egészségedre zuprostet? Der Lebensfreude der Ungarn hat das übrigens nicht geschadet, so wenig wie die Tatsache, daß Jazz hier dzsessz und Sex szex geschrieben wird. |
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Ja, die Ungarn klagen, sie klagen über innenpolitische Unversöhnlichkeit, Schlaglöcher auf den Hauptverkehrsstraßen, ruppige Bus- und unseriöse Taxifahrer (kein vernünftiger Mensch fährt hier Fahrrad), über Dreck und schlampige Handwerker, darüber, daß alles teurer wird und und und. Ich war froh, dem meckernden Berlin entkommen zu sein, da fand ich mich in der Hauptstadt des Jammerns wieder. Jene beiden Länder, in denen ich meine bislang längsten Auslandsaufenthalte verbrachte -- die Vereinigten Staaten und Ungarn -- stehen gewissermaßen am jeweils äußersten Ende einer Skala, deren eine Seite unverwüstlichen Optimismus und deren andere eine Kultur des Klagens markiert. Die Ungarn sind so pessimistisch, daß der führende Sozialpsychologe des Landes, György Csepeli, seine Forschungen darauf konzentriert, hinter das Geheimnis dieser Seelenlage zu kommen. |
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Mehr als einmal habe ich Ungarn mit der Aussage verblüfft, ich sei freiwillig und gerne hier. Hat denn das Land nicht einen guten Ruf in aller Welt (den es durch die Weigerung, sich der sogenannten 'Koalition der Willigen' anzuschließen, sicher noch hätte stärken können)? Ist denn der Lebensstandard hier nicht ungleich höher als in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks? Beeindrucken denn viele Ungarn nicht immer wieder durch ihre Findigkeit und Lebensart? |
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Auf jeden Fall ist die Lage komplexer als das Lamentierten, die Opferpose und das öffentliche Zerstrittensein vermuten lassen. Geographisch zwischen Wohlstandswelt und Armut angesiedelt und geschichtlich nicht länger "die fröhlichste Baracke im östlichen Lager" (wie das berühmte Diktum sagt), muß Ungarn seine europäische (und weltweite) Identität neu erfinden. Dabei wird ein vergleichsarmer Nationalstolz gewiß nicht weiterhelfen. Eher könnte man in den Nischen fündig werden, gerade in der Hauptstadt. Budapest ist, wie der Landeskenner Wilhelm Droste gelegentlich formuliert, ein Ort, an dem man alles bekommen kann, aber nichts erwarten darf. Und was kann man hier alles bekommen? |
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Der Schriftsteller István Eörsi, einer der scharfsinnigsten Intellektuellen Ungarns, faßt die Lage folgendermaßen zusammen: |
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"Unsere Dilemmata lassen sich zu folgender Frage verdichten: Wie soll sich eine Gesellschaft, die noch nicht über ein ausgeprägtes bürgerliches Selbstbewußtsein verfügt, einem transnationalen Gebilde anschließen, das mit der Citoyen-Gesinnung nichts mehr oder immer weniger anzufangen weiß? Die bürgerlichen Denker Westeuropas waren seit der Renaissance Fanatiker der Qualität; Massenproduktion, Massenunterhaltung und Massenkultur des modernen Kapitalismus forcieren aber die Konzentration auf bloße Quantität. An die Stelle der Menschenrechtsideale treten die Flüchtlingsquoten." |
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Zwei Aspekte machen diese Aussage bemerkenswert. Zum einen die Gleichabständigkeit zu Transformationsgesellschaft und realem Westen, die Eörsi proklamiert. Wer jemals den Moszkva tér in Budapest aufgesucht hat, weiß wovon er spricht. Dort paart sich das Scheußliche des Sozialismus mit dem Schlechten des Kapitalismus: im unbarmherzigen Tempo des Nachzüglers errichtete Einkaufszentren, gefüllt mit ausländischen Ladenketten, plaziert vor verfallener Platte. Der Gedanke den Eörsi -- zweitens -- dagegen setzt, ist derjenige der Qualität. Darin sieht er den Kern jener bürgerlichen Modernisierung, für die Budapest einst stand und die wir noch heute, ihrer uneingelösten emanzipatorischen Gehalte eingedenk und mangels wirklich bahnbrechender Alternativen, bewundern und als Anhalt des Künftigen nehmen können. |
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Nur, wie läßt sich dieser Qualitätsgedanke zeitgemäß reformulieren? Finden sich Spuren solcher Qualität im heutigen Ungarn? Hört man sich um, lautet die prosaische Antwort häufig, man habe weder die Zeit, darüber nachzudenken, noch das Geld, das die Umsetzung eines nicht unerheblichen Teils der eigenen Wertvorstellungen in Handlungen überhaupt erst ermögliche. Daran ist tatsächlich einiges: Lehrer und Universitätslehrer verdienen etwa 400 Euro im Monat, bei ständig steigenden Lebenshaltungskosten. Wie sollen sie Stadtvierteln ihr eigenes Gesicht geben, mit kleinen Geschäften, sympathischen Lokalen, Buchläden... Schlimmer noch: Zweit- und Drittjobs verschlingen Zeit und Energie zur entspannten Debatte und zum zivilgesellschaftlichen Ehrenamt. Allzuoft lauten die Alternativen: Selbstverschleiß, Weststipendien, eine geerbte Wohnung. |
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Und dennoch. Zumal Budapest überrascht immer wieder mit Qualitäten, die weder nostalgisch nach 1900 blicken noch nivellierend globale Erfolgsmodelle abkupfern. Niemand sollte mehr erwarten, als anderswo in Europa oder der Welt möglich ist; keiner darüber erstaunt sein, daß nicht selten das Kapital heimgekehrter Exilanten dahinter steckt. Aber eine kleine Liste gegen den Mißmut darf man schon aufstellen, eine Skizze zu einem Katalog berechtigten Stolzes: |
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Da wäre, zuallererst, immer noch, immer wieder neu: die Literatur. Spätestens seit Ungarn 1999 Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse war, ist diese für den deutschen Sprachraum hervorragend erschlossen, etwa durch die vielgerühmten Übersetzungen von Christina Viragh. Unmöglich, hier auch nur ansatzweise einen Überblick zu geben. Zwei Tips, stattdessen: die Zeitschrift für ungarische Kultur Drei Raben, die tatsächlich in einem Budapester Kaffeehaus entsteht und einen idealen Einstieg in die vielverzweigte Welt des literarischen Geschehens eröffnet; zwei Autoren, die vielleicht nicht einmal die Beschlagenen kennen: Noémi Kiss, geboren 1974, die -- wie so viele früher und heute wieder -- sich weniger Wien als Berlin verbunden fühlt, und Kádas Tamás László, Jahrgang 1982, der auf Deutsch schreibt als sei dies die einzig sinnvolle Tätigkeit auf Erden: www.myblog.de/kupfer. |
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Dann, ich muß es sagen, denn eine breite empirische Basis zwingt mich zu dieser Aussage: der Wein. Wer in Ungarn lebt, braucht, selbst bei höchsten Ansprüchen, keinen ausländischen Wein zu kaufen. Leider gibt es den heimischen auch nicht mehr geschenkt, aber wissen Sie was: das liegt zu einem nicht geringen Teil an der ständig steigenden Qualität. Daß die gleichen Flaschen in Wien jedoch manchmal preiswerter verkauft werden als in Budapest, das gibt Anlaß zur Nachdenklichkeit über gewisse Monopolisierungstendenzen im ungarischen Einzelhandel. Dies gesagt, könnte der Verfasser jetzt viel empfehlen, beläßt es jedoch dabei, die gar nicht so süßen Süßweine von István Szepsy zu erwähnen, deren kompromißlose, ihr Terroir gleichwohl nie verleugnende Modernität jederzeit als Modell für die beste aller möglichen Welten herhalten kann. |
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Und die ungarische Küche? Nun ja, hier sind wir noch nicht ganz so weit wie beim Wein. Fleischlastige, Schweineschmalz Olivenöl vorziehende Kost ist in den Feinschmeckerlokalen der Welt nicht gerade der letzte Schrei. Aber eine intelligent verfeinerte Lokalküche, wie sie sich hier und da bereits abzeichnet, kann getrost auf ein Entgegenkommen mit Pastagerichten verzichten. Vergessen wir nicht: die Erfolgsentwicklung der ungarischen Küche um 1900 gründete in der Aufnahme französischer Einflüsse. Eine ähnliche Durchlässigkeit für den internationalen Stand der Dinge würde das Regionale am Ende nur stärken. Das gilt für die Rezepte genauso wie für die Ware. Wie viel würden auch die noch erfreulich oft erhaltenen Traditionskonditoreien gewinnen, wenn sie weniger Zucker und besseren Kakao verwendeten. |
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Bemerkenswert übrigens, daß die rührigen Inhaber kleiner Läden unterdessen das Lebensmittelangebot internationalisieren und somit nicht nur ermöglichen, das Beste aus aller Welt schätzen zu lernen, sondern auch jenen Vergleichsantrieb schaffen, der zur Verfeinerung des Eigenen allererst anspornt. Das ungarische Mineralwasser Szenzkirályi gewann im vergangenen Jahr den sogenannten 'Eauscar' in Paris. Bemerkenswert sind auch die erstklassigen einheimischen Bioprodukte, die trotz der schnarchnasigen Anmutung vieler Ökoläden das traditionell üppige Landwirtschaftangebot Ungarns mit den Anforderungen nachhaltigen Wirtschaftens verbinden. |
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Die (schon deshalb, weil dem Autor derzeit ein Überblick über die Gegenwartskunst fehlt) unvollständige Liste lobenswerter Dinge muß als nächstes, neben dem vorzüglichen Angebot an Kinos in Budapest, den zeitgenössischen ungarischen Film erwähnen. Ungarn, dem die Welt den Filmphilosophen Béla Balázs ebenso verdankt wie im Grunde ganz Hollywood eine Erfindung emigrierter ungarischer Juden ist (ich sage nur: Casablanca), verfügt über ein dem Vernehmen nach sehr kluges Filmgesetz, das immer mehr ausländische Produktionen ins Land holt und zugleich dafür sorgt, daß einheimische Partner einbezogen werden. Und: Es entstehen Filme, die dem Kolorit der Stadt Budapest überzeugend ästhetischen Eigensinn abgewinnen. Beispiel: Kontroll von Antal Nimród. |
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Innovative elektronische Musik wie diejenige von Anima Sound System verschleift magyarisches Material souverän mit synthetischen Klängen. Sie erklingt im einstigen Untergrundsender Tilos Rádió oder auf einem ehemaligen ukrainischen Steintransporter, der heute als Club dient. Zahlreich sind die Kultprodukte, an denen dem Verfasser dieser Zeilen aufgefallen ist, daß sie alle mit dem Buchstaben T anfangen: neben Tilos-Rádió gehören Tisza-Turnschuhe dazu, die es seit 1971 gibt und die seit einiger Zeit neu aufgelegt werden, dann Túró-Rudi, ein populärer postsozialistischer Quark-Snack und schließlich Traubisoda, ein unglaubliches Erfrischungsgetränk. |
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Genug. Wollte ich diesem polyglotten Volk mit dem gepflegten Endlichkeitsbewußtsein irgend etwas beweisen? Wie könnte ich. |
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autoreninfo
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Dr. Dirk Hohnsträter unterrichtet Literatur, Film und Kreatives Schreiben an der Eötvös Loránd Universität in Budapest. Er ist Absolvent von Ars Dramatica, der Akademie für dramatisches Erzählen in Berlin und verfaßt Drehbücher und Prosatexte.
E-Mail: Dirk.Hohnstraeter@gmx.de |
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