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no. 2: sehnsucht
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aufgelesen |
Aurel Schmidt: Wildnis mit Notausgang. Eine ExpeditionBenzinger Verlag, Solothurn, Düsseldorf, 1994. |
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Reiseschriftsteller haben es gut, sie können ihrer Sehnsucht auf sog. 'Selbsterfahrungstrips' nachgehen. Sie haben es aber auch schwer, denn sie müssen sich diese Sehnsucht noch nach jeder Erfüllung erhalten, sonst haben sie nichts zu schreiben. So ergeht es Aurel Schmidt. Nachdem er 1982 das Ergebnis seiner erreisten Selbsterfahrung in einem Buchtitel festhielt: Der Fremde bin ich selber. Auf der Suche nach der verschütteten Utopie schien zehn Jahre später, wie ein weiterer Buchtitel ankündigte, diese Utopie verloren: Aufbruch nach unterwegs. Das Ende des Reisens. Nach Erkenntnissen wie: "Das Paradies ist imaginär geworden, es kommt nur noch in den Phantasien und Prospekten der Reisebranche vor", "Wir selber sind die Fremden. Das ist Exotik genug" oder "Die Simulation ist das Natürliche geworden. Sie hat begonnen, die Natur zu ersetzen" (aus: "Vergebliche Reise", in: Universitas 49, März 1994) konnte der Autor es doch nicht lassen und machte sich auf zu einem dieser postmodernen Wildnistrips, wo die Wildheit zwar simuliert ist, aber schon auch ein bißchen natürlich sein darf. |
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Mit zwei Freunden schlägt er also im größten Wildschutzgebiet der Erde ein Zelt auf, spannt die Hängematte auf und packt die Vorräte aus. Sie bleiben fast zwei Monate lang und leisten sich den Luxus, einfach nichts zu tun. Im Selous -- so heißt diese übriggebliebene Wildnis in Tansania -- fehlt jede Spur der Zivilisation und das macht natürlich nachdenklich. Schließlich ist man auch gereist, nicht wie früher, um sich selbst zu erkennen, sondern, "um ein anderer zu werden". |
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Der Autor führt "natürlich" Tagebuch und reflektiert über Wildnis und Zivilisation, ihn interessiert der Blick über die "unsichtbare Grenze". Fasziniert und beklommen ist er zugleich, denn im Selous reguliert sich Natur ohne menschliches Zutun, planvoll und ohne Aufhebens. Ein toter Büffel nahe dem Camp verschwindet binnen weniger Tage. Die Hyänen bleiben jedoch den Augen der Besucher verborgen. Es ist die Welt in einem früheren Zustand, "der fünfte Schöpfungstag". Eine schöne Metapher für eine beunruhigende Wirklichkeit, denn alles, woran sich Menschen gemeinhin orientieren, fehlt. Die Landschaft ist ein eintöniges Einerlei aus immergleichen Grundmustern. Nirgends ein prägnanter Wechsel, keine hilfreiche Markierung. Kurz: Natur pur. Was wirklich fremd ist, ist wirklich unheimlich. |
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Die drei Männer machen einen Ausflug auf einen Bergkegel und sind schockiert, daß sie sich in der Entfernung und der Zeit, die das Gehen hier braucht, gefährlich verschätzt haben. Jede Unternehmung ist mühsam -- oder führt, so paradox es klingt, in die Ekstase. Wie die Bootsfahrt auf dem Rufiji River: Licht und Farben und Landschaft verschwimmen zu halluzinatorischen Bildern und die Psyche überschlägt sich. Der Autor fühlt "ozeanisch", der Leser denkt an einen LSD-Trip. |
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Diese Wildnis ist ein Ort für fremde Empfindungen, aber ist sie eine Alternative? Das Buch ist keine Anleitung zum Zivilisationsaustieg, denn der Autor verortet sich schließlich in der Kultur der Städte, die ihn geprägt hat: "ich beschloß in den Tagen am Rifiji, nie, nie, nie wieder die Annehmlichkeiten, die sich aus den täglichen Gewohnheiten und einem gewissen zivilisatorischen Komfort ergeben, zu verachten oder zu denunzieren. Ich merkte, wie sehr sie ein Garant für Freiheit sein könnten." In der Wildnis, in der die Freiheit grenzenlos scheint, ist der persönliche Spielraum vielmehr begrenzt. Die Natur sei keine Idylle, meint Aurel Schmidt, und das ist gut so. |
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Man glaubt dem Autor gern, daß -- bei aller Ernüchterung -- die Wildnis Utopie bleibt, daß nicht bloß Tiere, sondern auch Menschen sie brauchen. Irgendwie gehören wir selbst zur Natur, wir haben es loß verlernt uns in ihr zurecht zu finden. Und wir sind wohl auch gar nicht willens, die Grenze wirklich zu überschreiten, über die wir uns erst als Menschen zu verstehen gelernt haben. Also auf zur nächsten Grenz-überschreitung -- und sei die Wildnis simuliert. |
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(Thomas Wägenbaur) |
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Cees Noteboom: Mokusei! Eine LiebesgeschichteFrankfurt am Main: Suhrkamp 1993. |
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Kennen Sie Dshamilja von Dschingis Aitmatov? Das soll laut Titel die schönste Liebesgeschichte der Welt sein. Vielleicht. Cees Notebooms Mokusei! jedenfalls ist mindestens genauso schön. Geben wir es offen zu: am liebsten sind uns die Variationen zum Thema 'Boy meets girl', und weil die mit happy end so schnell nach Kitsch zu riechen drohen, ziehen wir die mit traurigem Ende -- nicht zuletzt wegen ihrer kathartischen Wirkung -- vor. |
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Diese ohne Zweifel trivialen Kriterien, aufgrund derer uns ein Buch aber umso mehr ans Herz wächst, erfüllt Mokusei! zunächst. Von Anfang an jedoch geht es auch noch um mehr als um "Boy meets girl": nämlich um die scheiternde Begegnung mit einem anderen, trotz -- oder gar wegen -- der rosaroten Brille auf der Nase. Arnold Pessers, ein holländischer Fotograf, kommt zum fünften und, wie er weiß, letzten Mal nach Japan. Im Verlauf dieses Aufenthaltes erinnert er sich daran, wie alles angefangen hat: "Mit der Leidenschaft eines Bekehrten [...] hatte er nach Japan gewollt, als gäbe es dort [...] noch etwas zu finden, etwas, das wohl überall ausgestorben zu sein schien [...]." |
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Pessers sollte damals Fotos für einen Reiseprospekt aufnehmen. Satoko, das Model, fasziniert ihn vom ersten Augenblick an, und damit beginnt seine erste, einzige große Liebe. In Gedanken nennt er sie Schneemaske, so undurchdringlich bleibt sie; trotz langer Telefonate, Briefe und Besuche erfährt er nie etwas über ihre Familie oder Freunde, über die Zeit, die sie nicht gemeinsam in ihrem Tokioter Apartment verbringen. Selbst ihre Liebesnächte bringen die beiden einander nicht wirklich näher: |
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"Liebe, die er kübelweise über ihr hätte ausgießen mögen, mit der er den östlichen, den anderen, verschlossenen Körper über sich, neben sich, unter sich hätte überziehen mögen wie mit einem immerwährenden Licht [...]." |
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Pessers verliert jedoch diesen "Kampf, bei dem es darum zu gehen schien, soweit wie möglich der andere zu werden." Die unüberbrückbare Entfernung zwischen ihnen wird ihm spätestens in dem Moment schmerzhaft und endgültig bewußt, als Satoko sich von ihm trennt. Sie wolle zu ihren Eltern ziehen, sagt sie, heiraten und Kinder haben. Als er erwidert, auch er wolle heiraten und Kinder haben, ist ihre Antwort nur ein lakonisches: "It is not possible." |
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In der Begegnung mit Satoko tut sich die Kluft auf, die Pessers überall in Japan spürt: die Kluft zwischen einem Japan, das man zu kennen und zu verstehen glaubt, das Japan der Samurai, Hiroshiges und des Zen einerseits, und andererseits einem unverständlichen, ja abstoßenden Japan, dem Land der Hondas und Karaoke-Bars: "Japan, dachte er, hatte ihm Japan genommen." Scheitert nun seine Liebe an seinem Unverständnis Japan gegenüber, oder die Begegnung mit dem fremden Land an seiner Liebe? So wie Pessers jedenfalls klar ist, daß er seine Trauer über diese gescheiterte Liebe nie wieder wird abschütteln können, so möchte man nach der letzten Seite sogleich die erste wieder aufschlagen und sich erneut bezaubern lassen von dieser wunderschön traurigen Erzählung. |
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(Bettina Krüger) |
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Roger Willemsen: Figuren der Willkür. Autobiographie eines BuchesPiper: München, Zürich 1987. |
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Was ist das Buch? Nach zwei Jahrtausenden unablässig bohrender Fragen nach dem Wesen des Menschen schlägt Roger Willemsen allen Menschenfängern einen Haken. In seinem Buch sucht er, was das Buch von sich selbst preisgibt. Was ist also das Buch? |
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Das Buch beginnt mit einem Experiment: Willemsen setzt sich an den Tisch, greift zu Stift und Papier und läßt den Leser an einem Selbstversuch des Schreibens teilhaben. Nicht lange dauert es bis zum Erscheinen der ersten Figuren. Ein schüchterner Zeuge Jehovas platzt dabei mitten ins Kapitel, in Szene treten außerdem eine schwarze Mommy und ein weißer Schornsteinfeger. Sie alle sind zunächst Figuren der Willkür -- bis sie sich nach wenigen Stunden Schreibarbeit in der Londoner Wohnung auf englischem Papier wiederfinden. Diese szenisch sehr dichten Passagen erinnern ein wenig an Paul Austers und Wayne Wangs Kinofilm Smoke. Die blitzlichtartigen Begegnungen auf den Straßen New Yorks werden für die Hauptfigur des Films, den Schriftsteller Paul Benjamin, zum Gegenstand einer Geschichte. Ironisch genug ist dabei, daß der Schreibprozeß mit einem beinahe-Autounfall beginnt. Der junge Held rettet den depressiven Schriftsteller vor dem erbärmlichen Tod unterm Rad -- der Gerettete macht den Retter zur Hauptfigur seiner Geschichte. Der letzte Satz jedoch ist zu streichen, weil er der Symbolik der Zeitungssprache entnommen ist. Denn der Fall eines Buches ist -- so Willemsen -- im höchsten Maße verschieden vom Fall der Presse. Zeitungen gehen immer vom Ergebnis aus, d.h. sie motivieren nur schwach bis monokausal und drechseln Abziehbilder. "Frau erschießt Rivalen" oder "Geretteter Autor macht Retter zum Helden seines nächsten Buches" -- das sind eben archetypische Aussagen. Das Buch dagegen arbeitet mit den Mitteln der Suggestion, indem es einerseits verdeckte Motivketten lüftet, andererseits ganze Motivketten in unmoralischer Weise überspringt. Willemsen hält es dabei mit den ästhetischen Grundsätzen Robert Musils: Literatur kann die Erfahrbarkeit von Geschichte erreichen durch die Fühlbarmachung von Tatsachen. Herrlich, wie Willemsen den Kampf der Bücher gegen den Kitsch nachzeichnet. Es ist so, wie er sagt: Wenn Geschichte Zerstörung bedeutet, dann ist die Zerstörung kaum anders zu vermitteln als mit ihrem Vokabular. Kafka steht hierfür Pate, währenddessen die literarischen Pathetiker ins Hintertreffen geraten. "In mir streiten sich die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. Aber nur das zweite drängt mich zum Schreibtisch" (Willemsen). |
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Und dennoch verhält sich das Buch wie ein Kuppler. Während es in verblüffender Ähnlichkeit beschönigt, wie auch Politik und Gesellschaft es tun, unterscheidet es sich prinzipiell: das Buch erzählt von all diesen Lügengebäuden, es erzählt von seinem und dem Mangel der Welt. Bücher tragen damit Züge von Religion, Leser die Brillen von religiösen Menschen (man denke an den Rattenschwanz von Exegeten!). Das moralisch-utopische Moment, daß einmal alle so sein und handeln sollen wie die liebenden Helden der schönen Literatur, begründet Willemsen mit der Vorgeschichte des Buches, die eng verbunden ist mit den stoizistisch-scholastischen Gedankengut des Christentums. Als Indiz für diesen "Niederschlag" zitiert Willemsen einen Politiker anläßlich der Beerdigung des norwegischen Ministerpräsidenten: "Die Menschheit hat die moralische Pflicht zu überleben". |
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Spannend analysiert der Germanist die Durchwachensheit von Buch und Leben. Geradezu "kafkaesk", wie heute die Wirklichkeit die Kunst nachahmt. Mit dem Ende der Moderne nähern wir uns keineswegs dem Ende des Mimetischen: Schließlich treten im Buch an die Stelle des verschwundenen Subjekts Vorgänge des Sprechens und Schreibens. Bücher bilden danach eine -- zugegebenermaßen veränderte Wahrnehmung von Wirklichkeit -- ab: Schreiben als Objekt der Mimesis und damit Schreiben als Anfang des Mimetischen. |
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(Daniel Sturm) |
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Italo Calvino/Quint Buchholz: Mozarts Zaide -- Eine Geschichte von Liebe und AbenteuernMünchen: Hanser 1991. |
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Es gibt Bücher, die kann man eigentlich nicht mit festem Vorsatz kaufen, sondern nur per Zufall -- versteckt in der Bücherkiste eines Antiquariates zum Beispiel -- entdecken. |
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Dies kann die verschiedensten Gründe haben: ein obskurer oder skurriler Inhalt etwa, möglicherweise auch die Besonderheit der Ausgabe. Bei Italo Calvinos Versuch -- in der deutschen Fassung von Quint Buchholz illustriert --, die Handlung von Mozarts nur als Fragment erhaltener Oper 'Zaide' zu rekonstruieren, liegt der glückliche Fund sozusagen der Form halber nahe. |
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Beginnt doch das Calvinosche Libretto selbst bereits mit dem Bericht eines Erzählers über einen zufälligen Fund: Die Entdeckung des Noten- und Textfragments der Mozartschen Oper in einem unzweifelhaft altgedienten Reisekoffer. Somit hat sich die Rekonstruktion des Librettos schon von Anfang an selbst und gleichzeitig als spielerisches Zufallsprodukt thematisiert. |
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Dem Erzähler der Oper als Teil der Oper sind in seiner rekombinierenden Phantasie dabei kaum Grenzen gesetzt und so kann er aus den erhaltenen Informationen über dramatis personae und Spielsituation immer wieder neue mögliche Handlungsabläufe entwickeln. |
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Diese werden -- insgesamt vier Hypothesen stellt der Erzähler auf -- unter Zuhilfenahme des stets gleichen Materials von Mal zu Mal komplexer, ohne das jedoch eine endgültige Version festgelegt würde. Das orientalische Abenteuer um Zaide, Gomatz, Soliman, Allazim und Osmin -- Mozart griff den nicht verwirklichten Stoff später in der Entführung aus dem Serail wieder auf -- entsteht unter Calvinos Feder in wechselnden Variationen stets wieder neu. |
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Zum Schluß entwirft dann der Erzähler das Bild einer Handlung, die stets in der Schwebe bleibt, einer Oper, die zwar ständig im Begriff steht zu enden, aber dennoch nicht aufhört, ein Mosaik aus Gesangsstücken, das in seiner schillernden Form eben als Fragment die Zeit überdauert. Quint Buchholz hat dies in farbigen Illustrationen aufgegriffen, die den Text wie Intarsien durchziehen und dessen selbstreflexive mise-en-abîme erneut reproduzieren, wenn der Erzähler mit Reisemantel, Mozartperücke, Koffer und Notenpult im Vordergrund des dargestellten Bühnenbildes auftaucht, oder sogar im Gespräch mit Calvino selbst gezeigt wird. So macht die Verbindung von Text und Bild das Buch ebenfalls zum glitzernden Kleinod. |
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Ziel der Rekonstruktion, die darin versucht wird, kann es nicht mehr sein, den längst vergangenen oder nie existiert habenden Tempel, aus dem dieses Fragment stammt, authentisch wiederherzustellen, sondern vielmehr, die Geschichten, zu denen es Anlaß gibt, entstehen zu lassen, ohne daß diese noch einen endgültigen Zielort finden könnten. -- Der Reisekoffer, aus dem der Fund stammt, bleibt stets mit im Bild. |
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Damit kann auch diese Rezension keine Aufforderung zum Kauf sein, sondern nur eine Anregung, die Augen offen zu halten, um das kleine Büchlein baldmöglichst wieder zu (er-)finden. |
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(Alexander Schlutz) |
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