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no. 14: theater und politik -> analphabetismus
 

Vom Abspecken und Amputieren

Vertextete und zu vertextende Körper im Alphabetisierungsdiskurs

von Julia Genz

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Lesen und Schreiben sind Voraussetzungen, die für politisches Handeln jeglicher Couleur instrumentalisiert werden können. Sie sind an sich jedoch nicht mit einer bestimmten politischen Richtung verknüpft. Als Grundlage für demokratische Mitbestimmung scheinbar unabdinglich, muß Alphabetisierung dabei nicht notwendig emanzipatorisch wirken. Zwei nicht-fiktionale wie fiktionale Beispiele zeigen, welche Gefahren der Alphabetisierungsdiskurs als Vertextung des eigenen Körpers bergen kann.

 

In den letzten Jahren, besonders seit der internationalen Pisa-Studie, die den deutschen Schülern im Vergleich zu denen anderer Länder mangelnde Kenntnisse in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften attestierte, wird in Deutschland einem Phänomen verstärkte Aufmerksamkeit entgegengebracht, das von offizieller Seite bisher gern marginalisiert wurde: Analphabetismus in einer hochliteralen Gesellschaft. Kaum eine Talkshow, eine Zeitung, eine Seifenoper, die das Thema zur Zeit nicht aufgreifen würde. Meist geschieht das mit der Versicherung, Verständnis für die Betroffenen wecken und die emanzipatorische Kraft der Alphabetisierung demonstrieren zu wollen. Denn, so wird stillschweigend vorausgesetzt, in einer Demokratie könne Alphabetisierung nicht anders als emanzipatorisch sein. Dieses Mißverständnis möchte ich an zwei Beispielen aufzeigen:

Marianne Mösles Artikel "Orpheus mit F oder besser mit V?", der jüngst in der Wochenzeitung Die Zeit erschien, berichtet von einer Analphabetin, die trotz Schule und diverser alternativer Lernmittel bisher nur rudimentär Lesen und Schreiben gelernt hat. Da Lesen und Schreiben mehr sind als bloße Techniken, verwundert es nicht, daß sich die Analphabetin "Ramona Beck" nicht nur mit ihrem Analphabetismus, sondern mit einem ganzen Problemkomplex herumschlagen muß. Bereits im zweiten Absatz des Artikels erwähnt die Autorin Frau Becks Übergewicht, um dann fortzufahren: "Ohne Humor hätte [Ramona Beck] nicht ertragen, was ihr das Leben aufgebürdet hat: Mißbrauch, mehrere Suizidversuche, gewalttätiger Ehemann, Tod zweier Kinder, Leben auf der Straße, Bulimie, Panikattacken, Minderwertigkeitskomplexe, Identitätskrisen." Möglich, daß diese Auflistung nicht journalistischer Effekthascherei entspringt, sondern für die Betroffene Realität ist -- auch wenn die Vorstellung, daß Humor bei der Bewältigung des Todes der eigenen Kinder helfen könne, absurd erscheint. In Auswahl und Zusammenstellung von Aspekten aus Frau Becks Leben suggeriert der Artikel jedoch unreflektiert, daß zwischen dem Analphabetismus und den Übergriffen auf den eigenen Körper bzw. dem Tod ihrer Kinder ein Zusammenhang bestünde. In dieser Hinsicht erhält die Erwähnung des Humors einen völlig neuen Stellenwert: Als sprachliche Leistung erscheint er zusammen mit den Alphabetisierungsversuchen als Mittel, um den 'widerspenstigen' und nicht der Norm entsprechenden Körper unter Kontrolle zu bekommen.

Die Auffassung von Alphabetisierung als Mittel zur Disziplinierung und Vertextung des Körpers ist nicht neu, sondern Erbe der Alphabetisierungskampagnen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzten. Die Disziplinierungsversuche des Körpers richteten sich zum einen, wie Erich Schön in seiner Studie Der Verlust der Sinnlichkeit/ oder Die Verwandlungen des Lesers zeigt, auf das Zurückdrängen des Körpers aus dem Leseprozeß: So wurde die laute Stimme durch das leise Lesen ersetzt, der Kontakt mit dem Buch reduzierte sich auf das Umblättern der Seiten und das Erfassen der Buchstaben mit den Augen. Einen anderen Aspekt der Geschichte von Körperlichkeit und Alphabetisierung beleuchtet Albrecht Koschorke in seinem Aufsatz "Alphabetisation und Empfindsamkeit", wenn er feststellt, daß durch die Literatur der Empfindsamkeit die Affekte ihrer körperlichen Grundlage entzogen und vergeistigt wurden. Der Schritt, seinen Körper als Text zu begreifen, ist dann nicht mehr allzu groß. Natürlich ist der Körper an der Alphabetisierung beteiligt und seine Bewegungen werden durch sie immer auch ein Stück weit verändert und eingeschränkt. Jedoch geht mit dem Schrifterwerb zumeist auch eine Abwertung und Negierung der Körperlichkeit einher, wie sie im Zusammenhang mit den historischen Alphabetisierungskampagnen gerade beschrieben wurden. Die Verachtung für ihren Körper hat Frau Beck bereits als Analphabetin verinnerlicht: Wenn sie den Wunsch äußert, "lernen" und sich die "Fettschürze abhungern" zu wollen, erscheint der Schlankheitswahn der heutigen Gesellschaft überraschenderweise auf einmal als Fortsetzung der Alphabetisierungsbemühungen, die darauf abzielten, Körperreaktionen zu 'humanisieren' und damit berechen- und kontrollierbarer zu machen.

Wohin eine solche Verachtung für den Körper im Extremfall führen kann, zeigt mein zweites Beispiel, das 1998 uraufgeführte Stück Gesäubert (Cleansed) der englischen Dramatikerin Sarah Kane. Die wenigen deutschsprachigen Kritiken der Stuttgarter Inszenierung von Martin Kusej 1999, die die Alphabetisierung der Figur des 19-jährigen Robin überhaupt beachten, mißverstehen sie als einen der wenigen "positiven" Aspekte des Stücks. Da Theaterautoren sich immer schon mit der praktischen Umsetzung ihrer Stücke auseinandersetzen müssen, sie also bereits für Fragen des Körpers sensibilisiert sind, lohnt es sich, die Rolle des Analphabeten Robin genauer zu beleuchten.

In Gesäubert besucht eine junge Frau, Grace, eine psychiatrische Klinik, die der Dealer-Arzt Tinker auf einem Universitätsgelände errichtet hat. Hier experimentiert Tinker skrupellos mit den Körpern seiner Patienten, die er vergiftet, verstümmelt und neu zusammenflickt. Grace will den Besitz ihres geliebten, an einer Überdosis Heroin gestorbenen Bruders Graham abholen. Grahams Kleider sind bereits an den Patienten Robin, einem Analphabeten, weitergegeben worden. Nachdem Tinker Robin in der Gegenwart von Grace die Kleider brutal abgefordert und ihr zurückgegeben hat, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Sie wird von Tinker gefesselt und ruhiggestellt. Da sie sich inzwischen entschlossen hat, in Tinkers Klinik zu bleiben, um ihrem Bruder nahe zu sein, bittet sie Robin, einen Brief an ihren Vater zu schreiben. Sie entdeckt seinen Analphabetismus und bringt ihm in einer späteren Szene Lesen und Schreiben bei. Schriftkultur kommt im Stück ein ambivalenter Charakter zu, denn schließlich befindet sich die Folterklinik auf dem Universitätsgelände, einem Ort der höchsten Stufe der Literalität. Einerseits gilt an einem derartigen Ort normalerweise weitgehend die Freiheit der Forschung, andererseits herrscht hier eine starke hierarchische Ordnung. In Kanes Stück werden beide Aspekte, Freiheit der Forschung und Hierarchie, als pervertiert vorgeführt. Die medizinischen Experimente Tinkers sind losgelöst von jeglicher ethischer Verantwortung, und Tinker ist der absolute Herrscher in seinem Reich. Der Körper hat hier keine Rechte mehr. Das wird von den literalisierten Insassen der Klinik unhinterfragt akzeptiert -- keine der Figuren wehrt sich gegen Tinkers Übergriffe. Auch Grace, die sich trotz Tinkers Warnung freiwillig entschließt, in der Klinik zu bleiben und sogar auf ihrer Aufnahme besteht, hat diese Körperverachtung verinnerlicht. Kein Wunder also, wenn Graces Aufforderung, einen Brief zu schreiben, bei Robin die Assoziation von Selbstaufgabe und Sterben auslöst. Während er sich zunächst in Tinkers Klinik (wegen seines Analphabetismus?) sicher wähnt, verschlägt es ihm vor Schreck die Sprache, als Grace seinen Analphabetismus entdeckt:

"Grace: Schreib für mich. (Sie zerrt rasselnd an ihren Handschellen.)
Robin: Stimme hat gesagt, soll mich umbringen.
Grace (starrt)
Robin: Sicher jetzt. Hier bringt sich keiner um.
[....]
Robin: Ich will nicht sterben willst du sterben?
Grace: Du kannst gar nicht schreiben, oder?
Robin (öffnet den Mund, um zu antworten, weiß aber nicht, was er sagen soll)"

Der Satz "Das ist ja nicht das Ende der Welt", mit dem Grace anschließend die Entdeckung von Robins Analphabetismus kommentiert, klingt zunächst wie eine Ermutigung, doch durch das Wissen um Robins Selbstmord am Ende des Stücks offenbart sich seine abgründige Doppelbödigkeit: Die Schriftkenntnis ermöglicht Robin zunächst die Entdeckung der Gefühlswelt, und er verliebt sich in der darauffolgenden Unterrichtsstunde in seine Lehrerin Grace. Auch wächst sein Selbstbewußtsein, so daß selbst Tinker ihn nicht mehr einschüchtern kann: Gleich nachdem Tinker Robins Bücher verbrannt hat, rettet dieser aus der Asche einen halbverbrannten Abakus und führt Grace vor, daß er sich das Zählen beigebracht hat. Robins Welt bricht jedoch in dem Moment zusammen, als die zunehmend apathischer werdende und elektroschockbehandelte Grace seine Leistungen nicht mehr würdigen kann. Er erhängt sich vor ihren Augen. Das Ende der Welt erscheint im Fall von Robin als 'geglückte' Alphabetisierung eines Individuums, das nur noch auf sich selbst verwiesen wird. Ermöglicht Schriftkultur, wie Robins frühe Phase des Alphabetisiertwerdens zeigt, einerseits Individualisierung, so kann sie, wie im Fall von Grace und dem von Grace enttäuschten Robin, in Selbstzerstörung umschlagen. Hatte Robin als Analphabet vor allem Angst vor dem Tod, so erscheint ihm sein Körper nach seiner Alphabetisierung ohne die Liebe von Grace so wertlos, daß er sich ohne zu zögern erhängt. Robins Beobachtung, daß "einige Buchstaben nicht aussehen, wie sie klingen", findet ihre grausige Fortsetzung in dem Wunsch von Grace, ihren vertexteten Körper einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen: "Damit er aussieht, wie er sich fühlt. Graham außen wie Graham innen". Die Entscheidung zur Operation in Tinkers Klinik scheint Grace nicht schwerer zu fallen als die Umwandlung ihres Namens, dessen zweite Hälfte gegen die Endsilbe des Namens ihres Bruders getauscht wird. Gerade die von der Operation verursachten Schmerzen sind es, die Grace überhaupt wieder ihren Körper fühlbar machen und die ihr am Ende des Stückes einen zweifelhaften Moment des Glücks und der Erfüllung bescheren:

"Grace/Graham Körper vollkommen. Den ganzen Tag Kette geraucht, aber getanzt wie ein Traum, nie geahnt. [...]. Hab's gefühlt. Hier Drinnen. Hier.
Und wenn ich's nicht fühle, ist es sinnlos. [....] Danke Doktor."

Sarah Kanes Stück führt vor, daß in der Bereitschaft, den Körper als Text zu begreifen, d.h. ihn gleichsam hinter dem Text verschwinden zu lassen, ein Gefahrenpotential liegt: Während Tinker ohne Unterschied vertextete Körper und Bücher verbrennt, verstümmelt, zusammenflickt, sind es literalisierte Individuen wie Grace, die Tinker keinen Widerstand entgegensetzen können, da sie gelernt haben, die Einmaligkeit ihres Körpers gering zu schätzen -- so gering, daß sie ihre Selbstauflösung bereits vorher beschlossen haben.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um ein grundsätzliches Infragestellen der Alphabetisierung. Jedoch kann eine Alphabetisierung, die die Körperlichkeit des zu Alphabetisierenden nicht behutsam berücksichtigt, ja schlimmer noch, nicht einmal erkennt, wie sensibel dieser Bereich ist, in ihrer Wirkung nicht emanzipatorisch genannt werden.

Grund genug, einmal über die Prämissen der Schriftkultur nachzudenken und aufzuhorchen, wenn es das nächste Mal beim Thema Alphabetisierung heißt: "lernen und sich die Fettschürze weghungern."

 

autoreninfo 
Dr. Julia Genz studierte Neuere Deutsche Literatur, Italienisch und Rhetorik in Tübingen und Pisa. Sie ist Assistentin für Komparatistik/Neuere Deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Uni Tübingen. Veröffentlichungen: Analphabeten und der blinde Fleck der Literatur. Paderborn (München): Fink 2004. -- Nur das Zwecklose wird vom Hauch des Ewigen berührt. Melancholie in Hans Henny Jahnns Roman 'Fluß ohne Ufer'. Stuttgart: Ibidem 1998

 

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